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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr.

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Victor Aias Huber

als irgend ein andrer zerstört. Er weist geschichtlich nach, daß es in keiner
frühern Zeit in keinem Sinne besser gewesen ist als heute, namentlich auch
nicht in sittlicher Beziehung, und daß z. B. das "ehrbare" Handwerk in der
Blütezeit der Zünfte mit den übrigen Gesellschaftsklassen in aller Art von
Ausgelassenheit gewetteifert hat. (Diese allgemeine Ausgelassenheit des fünf¬
zehnten Jahrhunderts beweist aber doch wenigstens, daß den damaligen Men¬
schen das Leben leicht geworden ist. Was müssen das für glückliche Menschen
gewesen sein! bemerkt der Freiherr von Laßberg öfter zu den Schnurren in
feinem deutschen Liedersaal.) Nicht darum handelt es sich sür Huber -- wie
für jeden Verständigen --, ob unsre Zeit besser oder schlechter sei als irgend
eine frühere, sondern worin ihre eigentümlichen, Abhilfe fordernden Übel be¬
stehen. Da findet er denn als die beiden hauptsächlichsten Übel, die heut¬
zutage die untersten Schichten drücken, die Daseinsunsicherheit, und die an
Unmöglichkeit grenzende Schwierigkeit, in eine höhere Schicht aufzusteigen.
Das Übel, das die Gesellschaft im allgemeinen bedrohe, bestehe nicht etwa in
der von so vielen gefürchteten Revolutionsgefahr, die bei der Ohnmacht der
Armen kaum vorhanden sei, sondern in der Hincibdrückung immer größerer
Massen in einen tierischen Zustand. Den technischen Umwälzungen gegenüber
aber wirft er die beiden Fragen auf: ob das Fabrikwesen notwendig dem
Reiche des Teufels dienen müsse, und ob die Produktivität weit genug ge¬
diehen sei, alle vernünftigen Bedürfnisse aller Menschen zu befriedigen. Die
erste der beiden Fragen beantwortet er mit nein, die zweite mit ja; das
Fabrikwesen könne auch dem Reiche Gottes dienen, und wenn es den untern
Klassen am notwendigen fehle, so liege die Schuld nicht an dem Unvermögen
der Produktion, sondern nur an der unzweckmäßigen Verteilung der Güter.
Den Weg der Abhilfe sieht er in der Assoziation, wie er sie in England
kennen gelernt hat, und zwar will er mit ihr gleichzeitig die beiden Fragen
lösen, die vor vierzig und dreißig Jahren die Sozialpolitiker beschäftigten, die
Handwerker- und die Arbeiterfrage. (Die Agrarfrage war damals noch nicht
aufgetaucht; vielmehr waren die Erträge der Landwirtschaft und die Boden¬
preise in rapiden Steigen begriffen, was eben eine Hauptursache der heutigen
"Not der Landwirtschaft" ist, geradeso wie die Zuckerprümien, die einige
hundert Zuckerbarvne reich gemacht haben, schuld daran sind, daß die Aktionäre
der später gegründeten Zuckerfabriken und die Rübeubauern heute "drin liegen.")

Die Zünftlcrci bekämpft er aufs entschiedenste. "Die fixe Idee der Re¬
stauration des Zunftwesens in einem allgemeinen deutschen "Handwerkerrecht,"
wie es der Frankfurter Handwerkertag (im Oktober 1863) formulirt hat, dürfte
leider auf einen großen Teil des deutschen Handwerkerstandes eine ähnliche,
die besten Kräfte lähmende, die gesundem Zustände zerrüttende Wirkung haben,
wie sie Dickens in Lies-K Ilonss schildert." Die Lähmung hält nun leider
schon ins zweiunddreißigste Jahr an und scheint unheilbar geworden zu sein.


Victor Aias Huber

als irgend ein andrer zerstört. Er weist geschichtlich nach, daß es in keiner
frühern Zeit in keinem Sinne besser gewesen ist als heute, namentlich auch
nicht in sittlicher Beziehung, und daß z. B. das „ehrbare" Handwerk in der
Blütezeit der Zünfte mit den übrigen Gesellschaftsklassen in aller Art von
Ausgelassenheit gewetteifert hat. (Diese allgemeine Ausgelassenheit des fünf¬
zehnten Jahrhunderts beweist aber doch wenigstens, daß den damaligen Men¬
schen das Leben leicht geworden ist. Was müssen das für glückliche Menschen
gewesen sein! bemerkt der Freiherr von Laßberg öfter zu den Schnurren in
feinem deutschen Liedersaal.) Nicht darum handelt es sich sür Huber — wie
für jeden Verständigen —, ob unsre Zeit besser oder schlechter sei als irgend
eine frühere, sondern worin ihre eigentümlichen, Abhilfe fordernden Übel be¬
stehen. Da findet er denn als die beiden hauptsächlichsten Übel, die heut¬
zutage die untersten Schichten drücken, die Daseinsunsicherheit, und die an
Unmöglichkeit grenzende Schwierigkeit, in eine höhere Schicht aufzusteigen.
Das Übel, das die Gesellschaft im allgemeinen bedrohe, bestehe nicht etwa in
der von so vielen gefürchteten Revolutionsgefahr, die bei der Ohnmacht der
Armen kaum vorhanden sei, sondern in der Hincibdrückung immer größerer
Massen in einen tierischen Zustand. Den technischen Umwälzungen gegenüber
aber wirft er die beiden Fragen auf: ob das Fabrikwesen notwendig dem
Reiche des Teufels dienen müsse, und ob die Produktivität weit genug ge¬
diehen sei, alle vernünftigen Bedürfnisse aller Menschen zu befriedigen. Die
erste der beiden Fragen beantwortet er mit nein, die zweite mit ja; das
Fabrikwesen könne auch dem Reiche Gottes dienen, und wenn es den untern
Klassen am notwendigen fehle, so liege die Schuld nicht an dem Unvermögen
der Produktion, sondern nur an der unzweckmäßigen Verteilung der Güter.
Den Weg der Abhilfe sieht er in der Assoziation, wie er sie in England
kennen gelernt hat, und zwar will er mit ihr gleichzeitig die beiden Fragen
lösen, die vor vierzig und dreißig Jahren die Sozialpolitiker beschäftigten, die
Handwerker- und die Arbeiterfrage. (Die Agrarfrage war damals noch nicht
aufgetaucht; vielmehr waren die Erträge der Landwirtschaft und die Boden¬
preise in rapiden Steigen begriffen, was eben eine Hauptursache der heutigen
„Not der Landwirtschaft" ist, geradeso wie die Zuckerprümien, die einige
hundert Zuckerbarvne reich gemacht haben, schuld daran sind, daß die Aktionäre
der später gegründeten Zuckerfabriken und die Rübeubauern heute „drin liegen.")

Die Zünftlcrci bekämpft er aufs entschiedenste. „Die fixe Idee der Re¬
stauration des Zunftwesens in einem allgemeinen deutschen »Handwerkerrecht,«
wie es der Frankfurter Handwerkertag (im Oktober 1863) formulirt hat, dürfte
leider auf einen großen Teil des deutschen Handwerkerstandes eine ähnliche,
die besten Kräfte lähmende, die gesundem Zustände zerrüttende Wirkung haben,
wie sie Dickens in Lies-K Ilonss schildert." Die Lähmung hält nun leider
schon ins zweiunddreißigste Jahr an und scheint unheilbar geworden zu sein.


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[0470] Victor Aias Huber als irgend ein andrer zerstört. Er weist geschichtlich nach, daß es in keiner frühern Zeit in keinem Sinne besser gewesen ist als heute, namentlich auch nicht in sittlicher Beziehung, und daß z. B. das „ehrbare" Handwerk in der Blütezeit der Zünfte mit den übrigen Gesellschaftsklassen in aller Art von Ausgelassenheit gewetteifert hat. (Diese allgemeine Ausgelassenheit des fünf¬ zehnten Jahrhunderts beweist aber doch wenigstens, daß den damaligen Men¬ schen das Leben leicht geworden ist. Was müssen das für glückliche Menschen gewesen sein! bemerkt der Freiherr von Laßberg öfter zu den Schnurren in feinem deutschen Liedersaal.) Nicht darum handelt es sich sür Huber — wie für jeden Verständigen —, ob unsre Zeit besser oder schlechter sei als irgend eine frühere, sondern worin ihre eigentümlichen, Abhilfe fordernden Übel be¬ stehen. Da findet er denn als die beiden hauptsächlichsten Übel, die heut¬ zutage die untersten Schichten drücken, die Daseinsunsicherheit, und die an Unmöglichkeit grenzende Schwierigkeit, in eine höhere Schicht aufzusteigen. Das Übel, das die Gesellschaft im allgemeinen bedrohe, bestehe nicht etwa in der von so vielen gefürchteten Revolutionsgefahr, die bei der Ohnmacht der Armen kaum vorhanden sei, sondern in der Hincibdrückung immer größerer Massen in einen tierischen Zustand. Den technischen Umwälzungen gegenüber aber wirft er die beiden Fragen auf: ob das Fabrikwesen notwendig dem Reiche des Teufels dienen müsse, und ob die Produktivität weit genug ge¬ diehen sei, alle vernünftigen Bedürfnisse aller Menschen zu befriedigen. Die erste der beiden Fragen beantwortet er mit nein, die zweite mit ja; das Fabrikwesen könne auch dem Reiche Gottes dienen, und wenn es den untern Klassen am notwendigen fehle, so liege die Schuld nicht an dem Unvermögen der Produktion, sondern nur an der unzweckmäßigen Verteilung der Güter. Den Weg der Abhilfe sieht er in der Assoziation, wie er sie in England kennen gelernt hat, und zwar will er mit ihr gleichzeitig die beiden Fragen lösen, die vor vierzig und dreißig Jahren die Sozialpolitiker beschäftigten, die Handwerker- und die Arbeiterfrage. (Die Agrarfrage war damals noch nicht aufgetaucht; vielmehr waren die Erträge der Landwirtschaft und die Boden¬ preise in rapiden Steigen begriffen, was eben eine Hauptursache der heutigen „Not der Landwirtschaft" ist, geradeso wie die Zuckerprümien, die einige hundert Zuckerbarvne reich gemacht haben, schuld daran sind, daß die Aktionäre der später gegründeten Zuckerfabriken und die Rübeubauern heute „drin liegen.") Die Zünftlcrci bekämpft er aufs entschiedenste. „Die fixe Idee der Re¬ stauration des Zunftwesens in einem allgemeinen deutschen »Handwerkerrecht,« wie es der Frankfurter Handwerkertag (im Oktober 1863) formulirt hat, dürfte leider auf einen großen Teil des deutschen Handwerkerstandes eine ähnliche, die besten Kräfte lähmende, die gesundem Zustände zerrüttende Wirkung haben, wie sie Dickens in Lies-K Ilonss schildert." Die Lähmung hält nun leider schon ins zweiunddreißigste Jahr an und scheint unheilbar geworden zu sein.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219001/470>, abgerufen am 23.05.2024.