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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr.

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Aus einer kleinen Ecke

sauer erworbnes Gut in unsinniger Verschwendung durchdringen, das nennen
sie "sich ausleben," "den Anforderungen des Standes genügen," "sich auf
der Höhe des Daseins bewegen"; um Kleinigkeiten einander umzubringen, ist
ihnen unabweisliches Erfordernis der Ehre; Schulden machen und nicht be¬
zahlen heißt ihnen "nicht kleinlich rechnen," "dem Leben alle guten Seiten
abgewinnen." Sie stehen auf dem Piedestal ererbten Standes oder Reich¬
tums und halten sich darum für größer als die auf dem Erdboden. Ihre
Kräfte wenden sie nur soweit an, als sie es durchaus nötig haben, um sich
eine angenehme Stellung zu sichern, aber ja nicht dem Wohle andrer oder
des Ganzen zuliebe. Sie decken sich gern mit dem Schein der Tugend oder
des Auslands, aber nur mit dem Schein, und anch nur um Unannehmlich¬
keiten zu vermeiden. Kein Herz, kein Gemüt! Nur an sich denken sie bei
allem oder höchstens noch an ihre Familie; was darüber hinausgeht, ist ihnen
so gleichgiltig wie dem Tiger der Kohlkopf. Genießen, gute Tage haben,
Ruhe haben, das ist ihnen alles -- bis endlich Alter, Tod oder der oben
erwähnte allgemeine Krach über sie hereinbricht. Und die "Nichtbesitzenden"?
Sind nicht um ein Haar besser. Man muß sie nur kennen, sie reden hören!
Was sie selber nicht haben, das gönnen sie auch keinem andern. Auf die
Genießenden schimpfen sie nur deshalb, weil sie selber nichts zu genießen
haben, sonst würden sie es ganz ebenso macheu wie die! Neid und Haß re¬
giert bei ihnen überall, wo ihn nicht Stumpfsinn verdrängt hat. Ins Gesicht
sind sie kriechend demütig gegen die, von denen sie etwas zu erlangen hoffen;
aber kaum ist die Thüre ins Schloß gefallen, so höhnen und mäkeln sie schon
in ewiger Unzufriedenheit. Arbeiten wollen sie nur, wenn sie gut bezahlt
werden; trinken aber, das wollen sie immer. Feige, wo sie machtlos sind,
werden sie roh, wild und grausam, wenn sie sich zu Pöbelhaufen angesammelt
haben, gegen die der einzelne Verständige nichts ausrichtet. Den Schein der
Tugend nehmen auch sie gern an, aber auch nur den Schein, um sich als
unschuldig Verfolgte hinzustellen, aber nichts als Essen und Trinken für sich
selber wollen sie; wenn dann auch andre leiden, was kümmert das sie? Der
mäßig Besitzende aber hat an den Fehlern beider Parteien Anteil, je nachdem
er gerade übrig hat oder es ihm fehlt. Oder er ist gleichgiltig gegen alles
und alle, liebt aber ganz gewiß niemanden. Ist es nicht so? Von jeder
Seite her wird gegen die andre ein Ja ertönen. Die Denker aber, die
die Menschheit bis auf die Knochen oder vielmehr bis auf die Atome der
Zellen kennen, werden feierlich alles bejahen. Und das ist unsre Zeit, in der
müssen wir leben! O wären wir doch lieber in der alten guten Mammuts¬
zeit dagewesen! oder könnten wir doch erst dann geboren werden, wenn der
Himmel auf Erden praktisch durchgeführt ist -- in unsrer Zeit ists nicht
auszuhalten!

Von der sozialen Verdorbenheit liegt in dem Gesagten schon einiges;


Aus einer kleinen Ecke

sauer erworbnes Gut in unsinniger Verschwendung durchdringen, das nennen
sie „sich ausleben," „den Anforderungen des Standes genügen," „sich auf
der Höhe des Daseins bewegen"; um Kleinigkeiten einander umzubringen, ist
ihnen unabweisliches Erfordernis der Ehre; Schulden machen und nicht be¬
zahlen heißt ihnen „nicht kleinlich rechnen," „dem Leben alle guten Seiten
abgewinnen." Sie stehen auf dem Piedestal ererbten Standes oder Reich¬
tums und halten sich darum für größer als die auf dem Erdboden. Ihre
Kräfte wenden sie nur soweit an, als sie es durchaus nötig haben, um sich
eine angenehme Stellung zu sichern, aber ja nicht dem Wohle andrer oder
des Ganzen zuliebe. Sie decken sich gern mit dem Schein der Tugend oder
des Auslands, aber nur mit dem Schein, und anch nur um Unannehmlich¬
keiten zu vermeiden. Kein Herz, kein Gemüt! Nur an sich denken sie bei
allem oder höchstens noch an ihre Familie; was darüber hinausgeht, ist ihnen
so gleichgiltig wie dem Tiger der Kohlkopf. Genießen, gute Tage haben,
Ruhe haben, das ist ihnen alles — bis endlich Alter, Tod oder der oben
erwähnte allgemeine Krach über sie hereinbricht. Und die „Nichtbesitzenden"?
Sind nicht um ein Haar besser. Man muß sie nur kennen, sie reden hören!
Was sie selber nicht haben, das gönnen sie auch keinem andern. Auf die
Genießenden schimpfen sie nur deshalb, weil sie selber nichts zu genießen
haben, sonst würden sie es ganz ebenso macheu wie die! Neid und Haß re¬
giert bei ihnen überall, wo ihn nicht Stumpfsinn verdrängt hat. Ins Gesicht
sind sie kriechend demütig gegen die, von denen sie etwas zu erlangen hoffen;
aber kaum ist die Thüre ins Schloß gefallen, so höhnen und mäkeln sie schon
in ewiger Unzufriedenheit. Arbeiten wollen sie nur, wenn sie gut bezahlt
werden; trinken aber, das wollen sie immer. Feige, wo sie machtlos sind,
werden sie roh, wild und grausam, wenn sie sich zu Pöbelhaufen angesammelt
haben, gegen die der einzelne Verständige nichts ausrichtet. Den Schein der
Tugend nehmen auch sie gern an, aber auch nur den Schein, um sich als
unschuldig Verfolgte hinzustellen, aber nichts als Essen und Trinken für sich
selber wollen sie; wenn dann auch andre leiden, was kümmert das sie? Der
mäßig Besitzende aber hat an den Fehlern beider Parteien Anteil, je nachdem
er gerade übrig hat oder es ihm fehlt. Oder er ist gleichgiltig gegen alles
und alle, liebt aber ganz gewiß niemanden. Ist es nicht so? Von jeder
Seite her wird gegen die andre ein Ja ertönen. Die Denker aber, die
die Menschheit bis auf die Knochen oder vielmehr bis auf die Atome der
Zellen kennen, werden feierlich alles bejahen. Und das ist unsre Zeit, in der
müssen wir leben! O wären wir doch lieber in der alten guten Mammuts¬
zeit dagewesen! oder könnten wir doch erst dann geboren werden, wenn der
Himmel auf Erden praktisch durchgeführt ist — in unsrer Zeit ists nicht
auszuhalten!

Von der sozialen Verdorbenheit liegt in dem Gesagten schon einiges;


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[0489] Aus einer kleinen Ecke sauer erworbnes Gut in unsinniger Verschwendung durchdringen, das nennen sie „sich ausleben," „den Anforderungen des Standes genügen," „sich auf der Höhe des Daseins bewegen"; um Kleinigkeiten einander umzubringen, ist ihnen unabweisliches Erfordernis der Ehre; Schulden machen und nicht be¬ zahlen heißt ihnen „nicht kleinlich rechnen," „dem Leben alle guten Seiten abgewinnen." Sie stehen auf dem Piedestal ererbten Standes oder Reich¬ tums und halten sich darum für größer als die auf dem Erdboden. Ihre Kräfte wenden sie nur soweit an, als sie es durchaus nötig haben, um sich eine angenehme Stellung zu sichern, aber ja nicht dem Wohle andrer oder des Ganzen zuliebe. Sie decken sich gern mit dem Schein der Tugend oder des Auslands, aber nur mit dem Schein, und anch nur um Unannehmlich¬ keiten zu vermeiden. Kein Herz, kein Gemüt! Nur an sich denken sie bei allem oder höchstens noch an ihre Familie; was darüber hinausgeht, ist ihnen so gleichgiltig wie dem Tiger der Kohlkopf. Genießen, gute Tage haben, Ruhe haben, das ist ihnen alles — bis endlich Alter, Tod oder der oben erwähnte allgemeine Krach über sie hereinbricht. Und die „Nichtbesitzenden"? Sind nicht um ein Haar besser. Man muß sie nur kennen, sie reden hören! Was sie selber nicht haben, das gönnen sie auch keinem andern. Auf die Genießenden schimpfen sie nur deshalb, weil sie selber nichts zu genießen haben, sonst würden sie es ganz ebenso macheu wie die! Neid und Haß re¬ giert bei ihnen überall, wo ihn nicht Stumpfsinn verdrängt hat. Ins Gesicht sind sie kriechend demütig gegen die, von denen sie etwas zu erlangen hoffen; aber kaum ist die Thüre ins Schloß gefallen, so höhnen und mäkeln sie schon in ewiger Unzufriedenheit. Arbeiten wollen sie nur, wenn sie gut bezahlt werden; trinken aber, das wollen sie immer. Feige, wo sie machtlos sind, werden sie roh, wild und grausam, wenn sie sich zu Pöbelhaufen angesammelt haben, gegen die der einzelne Verständige nichts ausrichtet. Den Schein der Tugend nehmen auch sie gern an, aber auch nur den Schein, um sich als unschuldig Verfolgte hinzustellen, aber nichts als Essen und Trinken für sich selber wollen sie; wenn dann auch andre leiden, was kümmert das sie? Der mäßig Besitzende aber hat an den Fehlern beider Parteien Anteil, je nachdem er gerade übrig hat oder es ihm fehlt. Oder er ist gleichgiltig gegen alles und alle, liebt aber ganz gewiß niemanden. Ist es nicht so? Von jeder Seite her wird gegen die andre ein Ja ertönen. Die Denker aber, die die Menschheit bis auf die Knochen oder vielmehr bis auf die Atome der Zellen kennen, werden feierlich alles bejahen. Und das ist unsre Zeit, in der müssen wir leben! O wären wir doch lieber in der alten guten Mammuts¬ zeit dagewesen! oder könnten wir doch erst dann geboren werden, wenn der Himmel auf Erden praktisch durchgeführt ist — in unsrer Zeit ists nicht auszuhalten! Von der sozialen Verdorbenheit liegt in dem Gesagten schon einiges;

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219001/489>, abgerufen am 17.06.2024.