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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr.

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Aus einer kleinen <Lake

landsliebe geblieben? Was wird nach zwanzig Jahren ans diesem Sumpfe
noch hervorsehen? Vor allem aber wehe mir Unglücklichen, den ein entsetz¬
liches Schicksal gerade in diese Zeit hineinversetzt hat, in der man nur dann
nichts schlimmes sieht, wenn man die Augen zumacht! Nein, viel besser, nie
geboren oder schon lange gestorben zu sein! Wehe! wehe! wehe!

Aber wenn das nur das Schlimmste wäre! Gegen alle jene Übel gäbe
es ja ein sehr einfaches Mittel: man brauchte nur kein Deutscher zu sein,
dann wäre man alle Sorgen um Deutschlands Gegenwart und Zukunft sofort
los! Aber damit ist leider gar nichts gethan; das Schlimmste ist: die ganze
Menschheit ist moralisch, sozial, ästhetisch, überhaupt in jeder Hinsicht ver¬
dorben und verkommen! Ist das nicht alle Tage deutlich zu lesen? Mir
graues, wenn ich es bedenke; aber Thatsachen sprechen.

Moralisch zunächst! In dem Maße wie jetzt hat Religion und Sitt¬
lichkeit, Treu und Glauben, Nächstenliebe und Selbsterziehung noch nie ge¬
fehlt. Am schlimmsten hört sichs an, wenn man Stimmen ans entgegengesetzten
Lagern vernimmt. Jede Partei läßt doch wenigstens an den Ihrigen noch
ein paar gute Haare stehen; wer aber das ganze Schlachtfeld überblickt, der
sieht an der Menschheit nur noch den Kahlkopf der Abscheulichkeit. "Die ent¬
setzlichste Gottlosigkeit ist das Gepräge unsrer Zeit! Woran sie nicht mit der
Nase stoßen, das glauben sie nicht! Nur Verführer und Verführte ringsum!"
Und eine andre Stimme erwidert: "Sie wollen das Rad der Zeit um ein
Jahrtausend zurückdrehen! Sie haben Augen und sehen nicht! Nur Ver¬
dummer und Verdünnte außer uns!" Wem man sich auch anschließt, Freude
wird man auf keinen Fall an seinen Zeitgenossen haben. Und die aller-
gewöhnlichste Sittlichkeit und Ehrlichkeit -- die mag zur Zeit der Bärenfelle
und der Fenersteinmesser geherrscht haben; der Zeit des Dampfes und der
Elektrizität ist von ihr kaum die Hülse geblieben, mit der sie sich scheinheilig
deckt, nicht ohne daß die nackteste Gemeinheit aus tausend Löchern hervorgrinst.
Du glaubst, es werde doch immerhin für Arme und Unglückliche viel Gutes
gethan? Ein Narr, wer das für Tugend hält! Um gelobt zu werden,
machen sie ihre Spenden öffentlich bekannt, um materielle Vorteile durch den
Schein ihrer Großherzigkeit zu erluchsen; oder sie wollen lästige Bittsteller
los werden, um in Ruhe ihr Genußleben weiterzuführen; sie nehmen dem
einen, was sie dem andern geben; sie wollen sich ergebne Sklaven schaffen
durch Hungeralmosen; im besten Fall werfen sie gedankenlos dem Bettler ein
paar Groschen in den Hut und bilden sich ein, wunder wie für die Armut
zu sorgen, kennen aber die Armut nicht, deren heute gesenkte Thränen doch
morgen weiterfließen. Alles fortzugehen und selbst dürftig zu leben, den
Mut hat keiner! Und da will man von Tugend und Mildherzigkeit sprechen?
Nein, die Genußmenschen haben ihre "Herrenmoral"; sich selber nehmen sie
nichts übel, aber an den andern sehen sie jeden kleinen Flecken. Der Väter


Aus einer kleinen <Lake

landsliebe geblieben? Was wird nach zwanzig Jahren ans diesem Sumpfe
noch hervorsehen? Vor allem aber wehe mir Unglücklichen, den ein entsetz¬
liches Schicksal gerade in diese Zeit hineinversetzt hat, in der man nur dann
nichts schlimmes sieht, wenn man die Augen zumacht! Nein, viel besser, nie
geboren oder schon lange gestorben zu sein! Wehe! wehe! wehe!

Aber wenn das nur das Schlimmste wäre! Gegen alle jene Übel gäbe
es ja ein sehr einfaches Mittel: man brauchte nur kein Deutscher zu sein,
dann wäre man alle Sorgen um Deutschlands Gegenwart und Zukunft sofort
los! Aber damit ist leider gar nichts gethan; das Schlimmste ist: die ganze
Menschheit ist moralisch, sozial, ästhetisch, überhaupt in jeder Hinsicht ver¬
dorben und verkommen! Ist das nicht alle Tage deutlich zu lesen? Mir
graues, wenn ich es bedenke; aber Thatsachen sprechen.

Moralisch zunächst! In dem Maße wie jetzt hat Religion und Sitt¬
lichkeit, Treu und Glauben, Nächstenliebe und Selbsterziehung noch nie ge¬
fehlt. Am schlimmsten hört sichs an, wenn man Stimmen ans entgegengesetzten
Lagern vernimmt. Jede Partei läßt doch wenigstens an den Ihrigen noch
ein paar gute Haare stehen; wer aber das ganze Schlachtfeld überblickt, der
sieht an der Menschheit nur noch den Kahlkopf der Abscheulichkeit. „Die ent¬
setzlichste Gottlosigkeit ist das Gepräge unsrer Zeit! Woran sie nicht mit der
Nase stoßen, das glauben sie nicht! Nur Verführer und Verführte ringsum!"
Und eine andre Stimme erwidert: „Sie wollen das Rad der Zeit um ein
Jahrtausend zurückdrehen! Sie haben Augen und sehen nicht! Nur Ver¬
dummer und Verdünnte außer uns!" Wem man sich auch anschließt, Freude
wird man auf keinen Fall an seinen Zeitgenossen haben. Und die aller-
gewöhnlichste Sittlichkeit und Ehrlichkeit — die mag zur Zeit der Bärenfelle
und der Fenersteinmesser geherrscht haben; der Zeit des Dampfes und der
Elektrizität ist von ihr kaum die Hülse geblieben, mit der sie sich scheinheilig
deckt, nicht ohne daß die nackteste Gemeinheit aus tausend Löchern hervorgrinst.
Du glaubst, es werde doch immerhin für Arme und Unglückliche viel Gutes
gethan? Ein Narr, wer das für Tugend hält! Um gelobt zu werden,
machen sie ihre Spenden öffentlich bekannt, um materielle Vorteile durch den
Schein ihrer Großherzigkeit zu erluchsen; oder sie wollen lästige Bittsteller
los werden, um in Ruhe ihr Genußleben weiterzuführen; sie nehmen dem
einen, was sie dem andern geben; sie wollen sich ergebne Sklaven schaffen
durch Hungeralmosen; im besten Fall werfen sie gedankenlos dem Bettler ein
paar Groschen in den Hut und bilden sich ein, wunder wie für die Armut
zu sorgen, kennen aber die Armut nicht, deren heute gesenkte Thränen doch
morgen weiterfließen. Alles fortzugehen und selbst dürftig zu leben, den
Mut hat keiner! Und da will man von Tugend und Mildherzigkeit sprechen?
Nein, die Genußmenschen haben ihre „Herrenmoral"; sich selber nehmen sie
nichts übel, aber an den andern sehen sie jeden kleinen Flecken. Der Väter


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[0488] Aus einer kleinen <Lake landsliebe geblieben? Was wird nach zwanzig Jahren ans diesem Sumpfe noch hervorsehen? Vor allem aber wehe mir Unglücklichen, den ein entsetz¬ liches Schicksal gerade in diese Zeit hineinversetzt hat, in der man nur dann nichts schlimmes sieht, wenn man die Augen zumacht! Nein, viel besser, nie geboren oder schon lange gestorben zu sein! Wehe! wehe! wehe! Aber wenn das nur das Schlimmste wäre! Gegen alle jene Übel gäbe es ja ein sehr einfaches Mittel: man brauchte nur kein Deutscher zu sein, dann wäre man alle Sorgen um Deutschlands Gegenwart und Zukunft sofort los! Aber damit ist leider gar nichts gethan; das Schlimmste ist: die ganze Menschheit ist moralisch, sozial, ästhetisch, überhaupt in jeder Hinsicht ver¬ dorben und verkommen! Ist das nicht alle Tage deutlich zu lesen? Mir graues, wenn ich es bedenke; aber Thatsachen sprechen. Moralisch zunächst! In dem Maße wie jetzt hat Religion und Sitt¬ lichkeit, Treu und Glauben, Nächstenliebe und Selbsterziehung noch nie ge¬ fehlt. Am schlimmsten hört sichs an, wenn man Stimmen ans entgegengesetzten Lagern vernimmt. Jede Partei läßt doch wenigstens an den Ihrigen noch ein paar gute Haare stehen; wer aber das ganze Schlachtfeld überblickt, der sieht an der Menschheit nur noch den Kahlkopf der Abscheulichkeit. „Die ent¬ setzlichste Gottlosigkeit ist das Gepräge unsrer Zeit! Woran sie nicht mit der Nase stoßen, das glauben sie nicht! Nur Verführer und Verführte ringsum!" Und eine andre Stimme erwidert: „Sie wollen das Rad der Zeit um ein Jahrtausend zurückdrehen! Sie haben Augen und sehen nicht! Nur Ver¬ dummer und Verdünnte außer uns!" Wem man sich auch anschließt, Freude wird man auf keinen Fall an seinen Zeitgenossen haben. Und die aller- gewöhnlichste Sittlichkeit und Ehrlichkeit — die mag zur Zeit der Bärenfelle und der Fenersteinmesser geherrscht haben; der Zeit des Dampfes und der Elektrizität ist von ihr kaum die Hülse geblieben, mit der sie sich scheinheilig deckt, nicht ohne daß die nackteste Gemeinheit aus tausend Löchern hervorgrinst. Du glaubst, es werde doch immerhin für Arme und Unglückliche viel Gutes gethan? Ein Narr, wer das für Tugend hält! Um gelobt zu werden, machen sie ihre Spenden öffentlich bekannt, um materielle Vorteile durch den Schein ihrer Großherzigkeit zu erluchsen; oder sie wollen lästige Bittsteller los werden, um in Ruhe ihr Genußleben weiterzuführen; sie nehmen dem einen, was sie dem andern geben; sie wollen sich ergebne Sklaven schaffen durch Hungeralmosen; im besten Fall werfen sie gedankenlos dem Bettler ein paar Groschen in den Hut und bilden sich ein, wunder wie für die Armut zu sorgen, kennen aber die Armut nicht, deren heute gesenkte Thränen doch morgen weiterfließen. Alles fortzugehen und selbst dürftig zu leben, den Mut hat keiner! Und da will man von Tugend und Mildherzigkeit sprechen? Nein, die Genußmenschen haben ihre „Herrenmoral"; sich selber nehmen sie nichts übel, aber an den andern sehen sie jeden kleinen Flecken. Der Väter

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219001/488>, abgerufen am 25.05.2024.