Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr.Die öffentliche Meinung tellure ihre Gedanken zusammennehmen, auf die Erscheinungen der politischen Gleichwohl würde es voreilig sein, hier schon die Untersuchung mit Die öffentliche Meinung tellure ihre Gedanken zusammennehmen, auf die Erscheinungen der politischen Gleichwohl würde es voreilig sein, hier schon die Untersuchung mit <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0561" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/219563"/> <fw type="header" place="top"> Die öffentliche Meinung</fw><lb/> <p xml:id="ID_1719" prev="#ID_1718"> tellure ihre Gedanken zusammennehmen, auf die Erscheinungen der politischen<lb/> Welt richten und zu einem bestimmten Ziele führen? Und doch könnten nur<lb/> diese wenigen Auserlesenen als Träger einer öffentlichen Meinung zählen —<lb/> nämlich wenn sie alle übereinstimmten. Wäre das aber der Fall, dann könnte<lb/> es keine politischen Parteien geben, an denen doch, wie bekannt, kein Mangel<lb/> ist. Denn in den Programmen dieser Parteien findet sich die Meinung der<lb/> wenigen politisch denkenden Köpfe, die es im Volke giebt, cinsgesprochen, und<lb/> diese haben also ebenso viel verschiedne Meinungen, als es Parteien giebt,<lb/> ja noch mehr, denn innerhalb der Parteien fehlt es wahrlich nicht an Mei¬<lb/> nungsverschiedenheiten. Da aber keine Partei, rein äußerlich betrachtet, mehr<lb/> Recht als die andern darauf hat, daß ihre Meinung als maßgebend angesehen<lb/> werde, so können auch die denkenden Köpfe aus irgend einer bestimmten Partei<lb/> keineswegs als Vertreter der öffentlichen Meinung gelten. Auf diesem Wege<lb/> können wir also diese geheimnisvolle Macht nicht aufspüren.</p><lb/> <p xml:id="ID_1720" next="#ID_1721"> Gleichwohl würde es voreilig sein, hier schon die Untersuchung mit<lb/> dem Ergebnis abzuschließen, daß es überhaupt keine öffentliche Meinung gebe,<lb/> daß sie ein „leerer Wahn, erzeugt im Gehirn des Thoren" sei. Denn darf<lb/> man wirklich annehmen, daß, wenn ein Machthaber, wie es im politischen<lb/> Leben doch oft genug vorgekommen ist, „dem Drängen der öffentlichen Mei¬<lb/> nung nachgegeben" hat, er immer nur einem Trugbilde seiner erhitzten Phan¬<lb/> tasie gefolgt oder vor ihm zurückgewichen sei, daß er nicht vielmehr die Ein¬<lb/> wirkung einer sehr lebendigen Macht empfunden habe, der er nicht widerstehen<lb/> zu können glaubte? Da diese Macht nicht rein geistiger Natur sein kann,<lb/> weil, wie wir gesehen haben, auf dem Gebiete des Verstandes eigentlich eben¬<lb/> soviel Meinungen hervortreten, als Köpfe vorhanden sind, und demnach die<lb/> hier erforderliche Übereinstimmung fehlt, so kann sie nur im Willen wurzeln.<lb/> Wo sollte sie auch sonst ihre Triebkraft hernehmen? Dem vernünftigen Urteil<lb/> allein ist eine solche nicht eigen: es verharrt in kühler, vornehmer Ruhe, un¬<lb/> bekümmert darum, ob sich die in ihm ruhende Macht der Wahrheit An¬<lb/> erkennung verschaffen werde. Was treibt und drängt und stößt, ist überall<lb/> der Wille, und er muß also auch das Wesen der öffentlichen Meinung sein.<lb/> Die Etymologie des Wortes steht dieser Annahme nicht entgegen, bestätigt sie<lb/> im Gegenteile. Denn meinen heißt ursprünglich sein Herzensverlangen auf<lb/> etwas richten und ist dasselbe Wort wie minnen. Freiheit, die ich meine,<lb/> singt der Dichter, d. h. die ich liebe und ersehne, und Sinnen und Minnen<lb/> heißt in poetischer Redeweise, was man in prosaischer Denken und Wollen<lb/> nennt. Hält man diesen Sinn sest, so wird man als öffentliche Meinung<lb/> die übereinstimmende Willensrichtung aller derer anzusehen haben, bei denen<lb/> sich im einzelnen Falle der Wille überhaupt regt. „Das sieht schon besser<lb/> aus. man steht doch wo und wie." Denn erstens ist der Wille nicht, wie die<lb/> Erkenntnis, das Vorrecht weniger Auserwählten, weil er die Erkenntnis keines-</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0561]
Die öffentliche Meinung
tellure ihre Gedanken zusammennehmen, auf die Erscheinungen der politischen
Welt richten und zu einem bestimmten Ziele führen? Und doch könnten nur
diese wenigen Auserlesenen als Träger einer öffentlichen Meinung zählen —
nämlich wenn sie alle übereinstimmten. Wäre das aber der Fall, dann könnte
es keine politischen Parteien geben, an denen doch, wie bekannt, kein Mangel
ist. Denn in den Programmen dieser Parteien findet sich die Meinung der
wenigen politisch denkenden Köpfe, die es im Volke giebt, cinsgesprochen, und
diese haben also ebenso viel verschiedne Meinungen, als es Parteien giebt,
ja noch mehr, denn innerhalb der Parteien fehlt es wahrlich nicht an Mei¬
nungsverschiedenheiten. Da aber keine Partei, rein äußerlich betrachtet, mehr
Recht als die andern darauf hat, daß ihre Meinung als maßgebend angesehen
werde, so können auch die denkenden Köpfe aus irgend einer bestimmten Partei
keineswegs als Vertreter der öffentlichen Meinung gelten. Auf diesem Wege
können wir also diese geheimnisvolle Macht nicht aufspüren.
Gleichwohl würde es voreilig sein, hier schon die Untersuchung mit
dem Ergebnis abzuschließen, daß es überhaupt keine öffentliche Meinung gebe,
daß sie ein „leerer Wahn, erzeugt im Gehirn des Thoren" sei. Denn darf
man wirklich annehmen, daß, wenn ein Machthaber, wie es im politischen
Leben doch oft genug vorgekommen ist, „dem Drängen der öffentlichen Mei¬
nung nachgegeben" hat, er immer nur einem Trugbilde seiner erhitzten Phan¬
tasie gefolgt oder vor ihm zurückgewichen sei, daß er nicht vielmehr die Ein¬
wirkung einer sehr lebendigen Macht empfunden habe, der er nicht widerstehen
zu können glaubte? Da diese Macht nicht rein geistiger Natur sein kann,
weil, wie wir gesehen haben, auf dem Gebiete des Verstandes eigentlich eben¬
soviel Meinungen hervortreten, als Köpfe vorhanden sind, und demnach die
hier erforderliche Übereinstimmung fehlt, so kann sie nur im Willen wurzeln.
Wo sollte sie auch sonst ihre Triebkraft hernehmen? Dem vernünftigen Urteil
allein ist eine solche nicht eigen: es verharrt in kühler, vornehmer Ruhe, un¬
bekümmert darum, ob sich die in ihm ruhende Macht der Wahrheit An¬
erkennung verschaffen werde. Was treibt und drängt und stößt, ist überall
der Wille, und er muß also auch das Wesen der öffentlichen Meinung sein.
Die Etymologie des Wortes steht dieser Annahme nicht entgegen, bestätigt sie
im Gegenteile. Denn meinen heißt ursprünglich sein Herzensverlangen auf
etwas richten und ist dasselbe Wort wie minnen. Freiheit, die ich meine,
singt der Dichter, d. h. die ich liebe und ersehne, und Sinnen und Minnen
heißt in poetischer Redeweise, was man in prosaischer Denken und Wollen
nennt. Hält man diesen Sinn sest, so wird man als öffentliche Meinung
die übereinstimmende Willensrichtung aller derer anzusehen haben, bei denen
sich im einzelnen Falle der Wille überhaupt regt. „Das sieht schon besser
aus. man steht doch wo und wie." Denn erstens ist der Wille nicht, wie die
Erkenntnis, das Vorrecht weniger Auserwählten, weil er die Erkenntnis keines-
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