Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr.Neue Stände Denn seit der Zeit, wo diese alten Stände ihre schärfste Abgrenzung gegen Einem, der nun nicht kaltblütig wie ein Frosch im Brunnen seiner aller- Grenzboten I 1895 71
Neue Stände Denn seit der Zeit, wo diese alten Stände ihre schärfste Abgrenzung gegen Einem, der nun nicht kaltblütig wie ein Frosch im Brunnen seiner aller- Grenzboten I 1895 71
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Neue Stände
Denn seit der Zeit, wo diese alten Stände ihre schärfste Abgrenzung gegen
einander und die straffste Ausbildung in sich erreicht hatten — es wird un¬
gefähr gegen das Ende des Mittelalters gewesen sein —, sind sie so vielen
und so mächtigen Einflüssen ausgesetzt gewesen, daß ihre ehemaligen Grenzen
zum größten Teile völlig verwischt und verschoben sind. Das geht so weit,
daß man sich der Gefahr aussetzt, mißverstanden zu werden, wenn man auf
die heutigen Verhältnisse den Begriff der Stände anwendet, ohne ihn näher
zu bestimmen. Wenn wir heute noch davon reden, daß unser Volk in Stände
zerfällt, so meinen wir damit nicht, daß sich noch, wie am Anfange unsers
Zeitalters, ganz bestimmte, klar von einander geschiedne Volksklassen mit staat¬
lich anerkannten Vorrechten, mit einer nur der Klasse eigentümlichen Bildung,
mit besondern Vorurteilen, die die Kraft von Standesgesetzen gewonnen haben,
auch mit besondern Pflichten nachweisen ließen. Was davon einst vorhanden
gewesen ist, daß hat — wohlverstanden: für den staatsrechtlichen Standpunkt —
die Gleichmacherei, die von der französischen Revolution ausgegangen ist,
zertrümmert und eingeebnet; haben doch jetzt alle Bürger im Staate dieselben
Rechte und werden alle von ihm mit demselben Maße gemessen — wenigstens
in der Theorie. Damit ist aber weiter nichts erreicht worden, als daß die
alten Formen zerschlagen und ihr Inhalt gründlich durcheinandergerührt
worden ist — es war vielleicht gut so. Nun aber die schlimmsten Stürme
vorübergebraust sind, und wieder in das Volksleben eine gewisse Ruhe und
Stetigkeit eingezogen ist, nun beginnen sich auch alsbald die Elemente wieder
zu scheiden, sich anzuziehen und abzustoßen, kurz: unser Volksleben befindet
sich in fortschreitender Klärung, deren Ende die Bildung neuer Formen, neuer
Stände oder, um ihr Wesen genauer zu bezeichnen, die Bildung von Interessen¬
gemeinschaften sein wird.
Einem, der nun nicht kaltblütig wie ein Frosch im Brunnen seiner aller-
privatesten Privatinteressen sitzt, dem es vielmehr möglich ist, sich mit freien
Schwingen zu den Höhen allgemeinerer Betrachtungen zu erheben, brauche ich
nicht erst zu sagen, welchen Grad die Klärung bereits erreicht hat. Denn
wenn er auch mir mit der Flugkraft und dem Scharfblick eines Sperlings
begabt wäre, so müßte er doch sehen, daß die neuen Formen fast schon fest¬
stehen, daß das Volksleben hineindrängt und sie vielleicht schon ausgefüllt hätte,
wenn es unsern Regierenden in ihrer großen Weisheit nicht immer wieder
gefiele, die Formen zu zerstören und die drängenden Fluten zurückzubannen.
Was sind denn die tausendfältigen Organisationen unsrer Tage, die in Kon¬
gressen und ähnlichen feierlichen, vorläufig meist zwecklosen Versammlungen
ihre Mittelpunkte haben, anders als Ansätze zu neuen Ständebildungen? Alles
organisirt sich heutzutage: die Landwirte und die Handwerker, die evangelischen
Geistlichen und die Lehrer, die Handlungsgehilsen und die Kellner, die Kauf¬
leute und die Beamten (trotz Stephan und den wahlverwandten Seelen), die
Grenzboten I 1895 71
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