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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr.

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Neue Stände

Künstler und die Artisten, die Schriftsteller und die Buchhändler, die um
Stumm und die um Vollmar (denn er ist offenbar der kommende Mann der
Sozialdemokratie), die ehrenvoll entlassenen Soldaten und die alten Herren der
Studentenverbindungen, die Saalbesitzer und die Brauer, die Turner und die
Sänger, die Radfahrer und die Bergkraxler, ja ist denn die vielbespöttelte uno
viel beklagte Vereinsmeierei unsrer Tage etwas andres als ein Zeichen dafür,
daß unser Volksleben mit Macht nach Organisation hindrängt und nur, weil
die Machthaber die natürliche Organisation zu bürgerlichen Interessengemein¬
schaften nicht zulassen, in solchen volkswirtschaftlich schädlichen Abszessen seine
besten Kräfte verzehrt? Und dabei hatten die Regierenden selbst einen so schönen
Anlauf genommen, sich an die Spitze dieser mächtigen Bewegung zu stellen,
nämlich durch die Bildung der Berufsgenossenschaften. Ja wohl, Berufs¬
genossenschaften, das ist das neue Wort für das abgethane der Stände, das
sind die neuen Schläuche, in den man den jungen Most fassen kann, das sind
die neuen Formen, in denen sich das Volksleben bewegen wird, das ist auch
die neue Grundlage für ein neues Reichstagswahlrecht. Aber warum steckt
man nun auf einmal dem munter dahin rollenden Wagen einen Knüppel
zwischen die Speichen? Warum wollen die Herren, die die Deichsel in der
Hand haben, plötzlich nicht mehr mitthun? Sind sie zu alt dazu, daß sie so
schnell mitlaufen können? Dann fort mit ihnen, möge ihnen Herr von Lucanus
bald einen Besuch machen! Denn es giebt genug junge Beine, die nicht so
steif und ungelenk sind. Anstatt die alten Vereinsgesetze wieder aufzuwärmen
und sie noch mit dem Pfeffer chikanöser Polizeivervrdnungen zu verschärfen,
anstatt die Koalitionsrechte zu beschneiden, sollte man die Koalitionsrechte mit
allem gesetzlichen Nachdruck dem Volke auferlegen. Keine Pflicht wäre volks¬
tümlicher als diese.

Aber freilich, wir stehen im Zeichen der Umsturzvorlage und Werdens
vielleicht erleben müssen, daß diese ganze schöne Bewegung, die auf die Ein¬
fügung sämtlicher Volksglieder in Berufsgenossenschaften oder, wenn man an
dem alten Namen festhalten will, in staatlich organisirte Stände, wenn nicht
im Sande verläuft, so doch ihrer besten Kraft beraubt wird. Eine Lust wäre
es, wenn sie die Dämme bräche, die -- ich will mich milde ausdrücken --
irrender Patriotismus ihr entgegensetzt; wenn sie alle, die Bedächtiger, die
Vorsichtigen, die am Alten Hangenden, mit sich fortrisse und uns schüfe, was
wir brauchen: eine organische Grundlage für eine echte Volksvertretung.




Neue Stände

Künstler und die Artisten, die Schriftsteller und die Buchhändler, die um
Stumm und die um Vollmar (denn er ist offenbar der kommende Mann der
Sozialdemokratie), die ehrenvoll entlassenen Soldaten und die alten Herren der
Studentenverbindungen, die Saalbesitzer und die Brauer, die Turner und die
Sänger, die Radfahrer und die Bergkraxler, ja ist denn die vielbespöttelte uno
viel beklagte Vereinsmeierei unsrer Tage etwas andres als ein Zeichen dafür,
daß unser Volksleben mit Macht nach Organisation hindrängt und nur, weil
die Machthaber die natürliche Organisation zu bürgerlichen Interessengemein¬
schaften nicht zulassen, in solchen volkswirtschaftlich schädlichen Abszessen seine
besten Kräfte verzehrt? Und dabei hatten die Regierenden selbst einen so schönen
Anlauf genommen, sich an die Spitze dieser mächtigen Bewegung zu stellen,
nämlich durch die Bildung der Berufsgenossenschaften. Ja wohl, Berufs¬
genossenschaften, das ist das neue Wort für das abgethane der Stände, das
sind die neuen Schläuche, in den man den jungen Most fassen kann, das sind
die neuen Formen, in denen sich das Volksleben bewegen wird, das ist auch
die neue Grundlage für ein neues Reichstagswahlrecht. Aber warum steckt
man nun auf einmal dem munter dahin rollenden Wagen einen Knüppel
zwischen die Speichen? Warum wollen die Herren, die die Deichsel in der
Hand haben, plötzlich nicht mehr mitthun? Sind sie zu alt dazu, daß sie so
schnell mitlaufen können? Dann fort mit ihnen, möge ihnen Herr von Lucanus
bald einen Besuch machen! Denn es giebt genug junge Beine, die nicht so
steif und ungelenk sind. Anstatt die alten Vereinsgesetze wieder aufzuwärmen
und sie noch mit dem Pfeffer chikanöser Polizeivervrdnungen zu verschärfen,
anstatt die Koalitionsrechte zu beschneiden, sollte man die Koalitionsrechte mit
allem gesetzlichen Nachdruck dem Volke auferlegen. Keine Pflicht wäre volks¬
tümlicher als diese.

Aber freilich, wir stehen im Zeichen der Umsturzvorlage und Werdens
vielleicht erleben müssen, daß diese ganze schöne Bewegung, die auf die Ein¬
fügung sämtlicher Volksglieder in Berufsgenossenschaften oder, wenn man an
dem alten Namen festhalten will, in staatlich organisirte Stände, wenn nicht
im Sande verläuft, so doch ihrer besten Kraft beraubt wird. Eine Lust wäre
es, wenn sie die Dämme bräche, die — ich will mich milde ausdrücken —
irrender Patriotismus ihr entgegensetzt; wenn sie alle, die Bedächtiger, die
Vorsichtigen, die am Alten Hangenden, mit sich fortrisse und uns schüfe, was
wir brauchen: eine organische Grundlage für eine echte Volksvertretung.




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[0576] Neue Stände Künstler und die Artisten, die Schriftsteller und die Buchhändler, die um Stumm und die um Vollmar (denn er ist offenbar der kommende Mann der Sozialdemokratie), die ehrenvoll entlassenen Soldaten und die alten Herren der Studentenverbindungen, die Saalbesitzer und die Brauer, die Turner und die Sänger, die Radfahrer und die Bergkraxler, ja ist denn die vielbespöttelte uno viel beklagte Vereinsmeierei unsrer Tage etwas andres als ein Zeichen dafür, daß unser Volksleben mit Macht nach Organisation hindrängt und nur, weil die Machthaber die natürliche Organisation zu bürgerlichen Interessengemein¬ schaften nicht zulassen, in solchen volkswirtschaftlich schädlichen Abszessen seine besten Kräfte verzehrt? Und dabei hatten die Regierenden selbst einen so schönen Anlauf genommen, sich an die Spitze dieser mächtigen Bewegung zu stellen, nämlich durch die Bildung der Berufsgenossenschaften. Ja wohl, Berufs¬ genossenschaften, das ist das neue Wort für das abgethane der Stände, das sind die neuen Schläuche, in den man den jungen Most fassen kann, das sind die neuen Formen, in denen sich das Volksleben bewegen wird, das ist auch die neue Grundlage für ein neues Reichstagswahlrecht. Aber warum steckt man nun auf einmal dem munter dahin rollenden Wagen einen Knüppel zwischen die Speichen? Warum wollen die Herren, die die Deichsel in der Hand haben, plötzlich nicht mehr mitthun? Sind sie zu alt dazu, daß sie so schnell mitlaufen können? Dann fort mit ihnen, möge ihnen Herr von Lucanus bald einen Besuch machen! Denn es giebt genug junge Beine, die nicht so steif und ungelenk sind. Anstatt die alten Vereinsgesetze wieder aufzuwärmen und sie noch mit dem Pfeffer chikanöser Polizeivervrdnungen zu verschärfen, anstatt die Koalitionsrechte zu beschneiden, sollte man die Koalitionsrechte mit allem gesetzlichen Nachdruck dem Volke auferlegen. Keine Pflicht wäre volks¬ tümlicher als diese. Aber freilich, wir stehen im Zeichen der Umsturzvorlage und Werdens vielleicht erleben müssen, daß diese ganze schöne Bewegung, die auf die Ein¬ fügung sämtlicher Volksglieder in Berufsgenossenschaften oder, wenn man an dem alten Namen festhalten will, in staatlich organisirte Stände, wenn nicht im Sande verläuft, so doch ihrer besten Kraft beraubt wird. Eine Lust wäre es, wenn sie die Dämme bräche, die — ich will mich milde ausdrücken — irrender Patriotismus ihr entgegensetzt; wenn sie alle, die Bedächtiger, die Vorsichtigen, die am Alten Hangenden, mit sich fortrisse und uns schüfe, was wir brauchen: eine organische Grundlage für eine echte Volksvertretung.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219001/576>, abgerufen am 12.05.2024.