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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr.

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Auf- und Absetzen des Hutes beim Grüßen und das Gestikuliren, tels "be¬
decken Sie sich," "empfehle mich," "küsse die Hand," das Anreden mit "Eure
Herrlichkeit," der Gebrauch des Superlativs in der Rede und im Brieffen,
selbst die dritte Person der Anrede (unser "Sie" statt "Ihr") -ü modo c-orei-
8is.no -- alles das kommt von da. Der Neapolitaner und der Spanier mit
der spitzen Feder auf dem breiten Hut dringt eben überall hin.

Hieran also bemerkt man in dem Galateo einen Unterschied der Zeit. Aber
weiter reicht der Abstand nicht. Der Feingehalt an Empfindung ist noch un¬
gefähr derselbe wie bei Castiglione. Das Regelwerk ist auch nicht etwa strenger,
vorsichtiger, wie mau wohl gemeint hat. Es klingt nur mnuchmal so, weil
die Form des Dialogs verlassen ist, die scharfe Gegensätze und Übergänge zu
vermeiden weiß und den Lehrton zierlich versteckt. Selbst die Anknüpfung an
das Altertum fehlt nicht. Da wo über die Verbindlichkeit einer Regel ge¬
handelt wird, bekommen wir eine Erinnerung an Polyklets Kanon. Sodann
kommt die Platonische Idee zum Borschein in dem gewinnenden Geständnis
des Verfassers: was hier vorgetragen werde, sei nicht das höchste Gut, das
Gute an sich, sondern nur das Schöne, eine Form, hinter der sich Gutes
bergen könne und solle, und die auch der beste Inhalt nicht entbehren dürfe.
Etwas theoretischer ist vielleicht gegenüber dem Cvrtcgiauo die Haltung da¬
durch geworden, daß die Beobachtungen nicht bloß am Leben gemacht
werden, sondern auch an Beispielen, die sich in Schriftstellern finden. Und
zwar werdeu diese Beispiele immer aus den ältern genommen, vor allem aus
Boccaccio, aber auch aus Dante, Petrarca oder Villani. Dies ändert aber
nur den Stoff, nicht die Art der Beobachtung. Denn diese selbst ist so scharf
und ihr Ausdruck so konkret, wie nur bei Castiglione oder einem der frühern.
Und in dieser Beziehung ist es nun merkwürdig, wie mit dem Galateo della Casas,
also etwa um 1550, wie an einer Grenze, in der italienischen Litteratur die
originalen Geister und die scharfen Beobachter aufhören. Tassos wohlstilisirte
Platonische Dialoge über allerlei moralische und gesellschaftliche Fragen sind auf¬
fallend arm an zeitgeschichtlichem Inhalt. Sie werden alle vor 1580 entstanden
sein. Außer ihm und dem etwas jüngern Galilei braucht mau überhaupt wohl
keinen italienischen Litteraten mehr zu kennen, ohne ernstlichen Schaden an seiner
Bildung zu nehmen.

Lebensbeobachtuug in allgemeine Sätze und Vorschriften zu fassen, lag
den Griechen und innerhalb gewisser Greuzen auch den Römern im Blute.
Im Mittelalter tritt diese Fähigkeit, wenn wir von der Spruchweisheit der
Orientalen absehen, mehr zurück. Bei den Italienern zeigt sich dann der Trieb
von neuem, und sie sind die ersten Modernen, die ihn planmäßig gepflegt
haben. Er ist auch schon älter als die Bücher, mit denen wir uns bis jetzt
beschäftigt haben. Die lateinischen Schriften der italienischen Humanisten, vor
allem ihre Briefe, zeigen uns schon bedeutende Ansätze dazu.. Die Berichte


Grenzboten I 1895 78

Auf- und Absetzen des Hutes beim Grüßen und das Gestikuliren, tels „be¬
decken Sie sich," „empfehle mich," „küsse die Hand," das Anreden mit „Eure
Herrlichkeit," der Gebrauch des Superlativs in der Rede und im Brieffen,
selbst die dritte Person der Anrede (unser „Sie" statt „Ihr") -ü modo c-orei-
8is.no — alles das kommt von da. Der Neapolitaner und der Spanier mit
der spitzen Feder auf dem breiten Hut dringt eben überall hin.

Hieran also bemerkt man in dem Galateo einen Unterschied der Zeit. Aber
weiter reicht der Abstand nicht. Der Feingehalt an Empfindung ist noch un¬
gefähr derselbe wie bei Castiglione. Das Regelwerk ist auch nicht etwa strenger,
vorsichtiger, wie mau wohl gemeint hat. Es klingt nur mnuchmal so, weil
die Form des Dialogs verlassen ist, die scharfe Gegensätze und Übergänge zu
vermeiden weiß und den Lehrton zierlich versteckt. Selbst die Anknüpfung an
das Altertum fehlt nicht. Da wo über die Verbindlichkeit einer Regel ge¬
handelt wird, bekommen wir eine Erinnerung an Polyklets Kanon. Sodann
kommt die Platonische Idee zum Borschein in dem gewinnenden Geständnis
des Verfassers: was hier vorgetragen werde, sei nicht das höchste Gut, das
Gute an sich, sondern nur das Schöne, eine Form, hinter der sich Gutes
bergen könne und solle, und die auch der beste Inhalt nicht entbehren dürfe.
Etwas theoretischer ist vielleicht gegenüber dem Cvrtcgiauo die Haltung da¬
durch geworden, daß die Beobachtungen nicht bloß am Leben gemacht
werden, sondern auch an Beispielen, die sich in Schriftstellern finden. Und
zwar werdeu diese Beispiele immer aus den ältern genommen, vor allem aus
Boccaccio, aber auch aus Dante, Petrarca oder Villani. Dies ändert aber
nur den Stoff, nicht die Art der Beobachtung. Denn diese selbst ist so scharf
und ihr Ausdruck so konkret, wie nur bei Castiglione oder einem der frühern.
Und in dieser Beziehung ist es nun merkwürdig, wie mit dem Galateo della Casas,
also etwa um 1550, wie an einer Grenze, in der italienischen Litteratur die
originalen Geister und die scharfen Beobachter aufhören. Tassos wohlstilisirte
Platonische Dialoge über allerlei moralische und gesellschaftliche Fragen sind auf¬
fallend arm an zeitgeschichtlichem Inhalt. Sie werden alle vor 1580 entstanden
sein. Außer ihm und dem etwas jüngern Galilei braucht mau überhaupt wohl
keinen italienischen Litteraten mehr zu kennen, ohne ernstlichen Schaden an seiner
Bildung zu nehmen.

Lebensbeobachtuug in allgemeine Sätze und Vorschriften zu fassen, lag
den Griechen und innerhalb gewisser Greuzen auch den Römern im Blute.
Im Mittelalter tritt diese Fähigkeit, wenn wir von der Spruchweisheit der
Orientalen absehen, mehr zurück. Bei den Italienern zeigt sich dann der Trieb
von neuem, und sie sind die ersten Modernen, die ihn planmäßig gepflegt
haben. Er ist auch schon älter als die Bücher, mit denen wir uns bis jetzt
beschäftigt haben. Die lateinischen Schriften der italienischen Humanisten, vor
allem ihre Briefe, zeigen uns schon bedeutende Ansätze dazu.. Die Berichte


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219001/631>, abgerufen am 17.06.2024.