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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr.

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Zur Geschichte der feinen Sitte

hüten, daß jemand etwa den Cortegiano für einen gewöhnlichen Katechismus
über den Umgang mit Menschen nehme.

Etwa zwanzig Jahre jünger als Castiglione, ist Monsignor dellci Casa,
aus Florenz gebürtig, aber in hohen Stellungen als Sekretär, Gesandter, so¬
genannter Redner, unter verschiednen Päpsten, ein geistlicher Herr von vor¬
wiegend weltlicher Haltung. Man begegnet ihm auch in dem Kreise der Ver¬
fasser der capitoli, einer nach Lebensstellung und Charakter sehr gemischten
Gesellschaft von Männern der ersten Hülste des sechzehnten Jahrhunderts, die
teils, wie Berni und Pietro Aretino, Spötter von Profession waren, teils
Humanisten, Professoren, Historiker, sogar geistliche Prediger, und die dann
daneben, gewöhnlich in Terzinen, länger oder kürzer, Nichtigkeiten des Lebens
behandelten oder Ereignisse und Menschen bespöttelten und schon bald nach der
Mitte des Jahrhundert in eleganten und kleinen Sammelbünden mit einander
von den litterarischen Feinschmeckern genossen werden konnten. Della Casa
soll sich durch derartige Leistungen den Kardinalshut verscherzt haben. Dafür
schaffte er sich aber auch gelegentlich, wie ein weltlicher regierender Herr, eine
förmliche kleine Hofhaltung mit gesellschaftlich wertvollen Menschen aller Art
an. Er ist gelehrter Philolog, dichtet nach Regeln, lateinisch sowohl wie
italienisch, und gehört als italienischer Prosaiker der Schule der Nachahmer
Boccaccios an. Hier interessirt er uns wegen eines Buches über die feine
Lebensart. Es trägt als Titel einen Personennamen, Galateo, womit ein dem
Verfasser geistig nahestehender, einflußreicher Zeitgenosse gemeint war. Die
dramatische Form des Dialogs, ein den Alten nachgebildetes Ausdrucksmittel,
ist aufgegeben und an ihre Stelle die uulcbeudige Einkleidung des Traktats
getreten. Ein alter Mann belehrt einen jüngern in dreißig Kapiteln über alles,
was zum guten Tone gehört. Den zeitlichen Abstand della Casas von seinen
Vorgängern bemerkt man äußerlich daran, daß der spanische Einfluß in Italien
zugenommen hat, jetzt, wo man jeden Schneider und Barbier "Herr" nennt,
der sonst zufrieden war, wenn man "mein Lieber" sagte, wo das gesellschaft¬
liche Zeremoniell dem Hausherrn beim Empfange die Gesichtszüge je nach dem
Range seiner Gäste vorschreibt und diesen ebenso den Stehplatz, den Sessel
oder das Sofa bestimmt. Neapel, wo der spanische Geist schon im fünfzehnten
Jahrhundert mit den Aragonesen eingezogen ist, heißt jetzt die Stadt der Barone
und der titelsüchtigen Müßiggänger. Dieses Wesen greift immer weiter um
sich und paßt doch so wenig für den arbeitenden und handeltreibenden Bürger
von Florenz, wie wenn die Honoratioren irgend eines venezianischen Land¬
städtchens die feierliche Haltung eines Ratsherrn von Venedig annehmen
wollten.

In weitern Einzelheiten ergehen sich die Capitolischreibcr, und ein wirk¬
licher, höherer Satiriker wie Ariost in seinen Satiren. Stolze Haltung und
nichts dahinter, das ist echt spanisch und neapolitanisch. Das fortwährende


Zur Geschichte der feinen Sitte

hüten, daß jemand etwa den Cortegiano für einen gewöhnlichen Katechismus
über den Umgang mit Menschen nehme.

Etwa zwanzig Jahre jünger als Castiglione, ist Monsignor dellci Casa,
aus Florenz gebürtig, aber in hohen Stellungen als Sekretär, Gesandter, so¬
genannter Redner, unter verschiednen Päpsten, ein geistlicher Herr von vor¬
wiegend weltlicher Haltung. Man begegnet ihm auch in dem Kreise der Ver¬
fasser der capitoli, einer nach Lebensstellung und Charakter sehr gemischten
Gesellschaft von Männern der ersten Hülste des sechzehnten Jahrhunderts, die
teils, wie Berni und Pietro Aretino, Spötter von Profession waren, teils
Humanisten, Professoren, Historiker, sogar geistliche Prediger, und die dann
daneben, gewöhnlich in Terzinen, länger oder kürzer, Nichtigkeiten des Lebens
behandelten oder Ereignisse und Menschen bespöttelten und schon bald nach der
Mitte des Jahrhundert in eleganten und kleinen Sammelbünden mit einander
von den litterarischen Feinschmeckern genossen werden konnten. Della Casa
soll sich durch derartige Leistungen den Kardinalshut verscherzt haben. Dafür
schaffte er sich aber auch gelegentlich, wie ein weltlicher regierender Herr, eine
förmliche kleine Hofhaltung mit gesellschaftlich wertvollen Menschen aller Art
an. Er ist gelehrter Philolog, dichtet nach Regeln, lateinisch sowohl wie
italienisch, und gehört als italienischer Prosaiker der Schule der Nachahmer
Boccaccios an. Hier interessirt er uns wegen eines Buches über die feine
Lebensart. Es trägt als Titel einen Personennamen, Galateo, womit ein dem
Verfasser geistig nahestehender, einflußreicher Zeitgenosse gemeint war. Die
dramatische Form des Dialogs, ein den Alten nachgebildetes Ausdrucksmittel,
ist aufgegeben und an ihre Stelle die uulcbeudige Einkleidung des Traktats
getreten. Ein alter Mann belehrt einen jüngern in dreißig Kapiteln über alles,
was zum guten Tone gehört. Den zeitlichen Abstand della Casas von seinen
Vorgängern bemerkt man äußerlich daran, daß der spanische Einfluß in Italien
zugenommen hat, jetzt, wo man jeden Schneider und Barbier „Herr" nennt,
der sonst zufrieden war, wenn man „mein Lieber" sagte, wo das gesellschaft¬
liche Zeremoniell dem Hausherrn beim Empfange die Gesichtszüge je nach dem
Range seiner Gäste vorschreibt und diesen ebenso den Stehplatz, den Sessel
oder das Sofa bestimmt. Neapel, wo der spanische Geist schon im fünfzehnten
Jahrhundert mit den Aragonesen eingezogen ist, heißt jetzt die Stadt der Barone
und der titelsüchtigen Müßiggänger. Dieses Wesen greift immer weiter um
sich und paßt doch so wenig für den arbeitenden und handeltreibenden Bürger
von Florenz, wie wenn die Honoratioren irgend eines venezianischen Land¬
städtchens die feierliche Haltung eines Ratsherrn von Venedig annehmen
wollten.

In weitern Einzelheiten ergehen sich die Capitolischreibcr, und ein wirk¬
licher, höherer Satiriker wie Ariost in seinen Satiren. Stolze Haltung und
nichts dahinter, das ist echt spanisch und neapolitanisch. Das fortwährende


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[0630] Zur Geschichte der feinen Sitte hüten, daß jemand etwa den Cortegiano für einen gewöhnlichen Katechismus über den Umgang mit Menschen nehme. Etwa zwanzig Jahre jünger als Castiglione, ist Monsignor dellci Casa, aus Florenz gebürtig, aber in hohen Stellungen als Sekretär, Gesandter, so¬ genannter Redner, unter verschiednen Päpsten, ein geistlicher Herr von vor¬ wiegend weltlicher Haltung. Man begegnet ihm auch in dem Kreise der Ver¬ fasser der capitoli, einer nach Lebensstellung und Charakter sehr gemischten Gesellschaft von Männern der ersten Hülste des sechzehnten Jahrhunderts, die teils, wie Berni und Pietro Aretino, Spötter von Profession waren, teils Humanisten, Professoren, Historiker, sogar geistliche Prediger, und die dann daneben, gewöhnlich in Terzinen, länger oder kürzer, Nichtigkeiten des Lebens behandelten oder Ereignisse und Menschen bespöttelten und schon bald nach der Mitte des Jahrhundert in eleganten und kleinen Sammelbünden mit einander von den litterarischen Feinschmeckern genossen werden konnten. Della Casa soll sich durch derartige Leistungen den Kardinalshut verscherzt haben. Dafür schaffte er sich aber auch gelegentlich, wie ein weltlicher regierender Herr, eine förmliche kleine Hofhaltung mit gesellschaftlich wertvollen Menschen aller Art an. Er ist gelehrter Philolog, dichtet nach Regeln, lateinisch sowohl wie italienisch, und gehört als italienischer Prosaiker der Schule der Nachahmer Boccaccios an. Hier interessirt er uns wegen eines Buches über die feine Lebensart. Es trägt als Titel einen Personennamen, Galateo, womit ein dem Verfasser geistig nahestehender, einflußreicher Zeitgenosse gemeint war. Die dramatische Form des Dialogs, ein den Alten nachgebildetes Ausdrucksmittel, ist aufgegeben und an ihre Stelle die uulcbeudige Einkleidung des Traktats getreten. Ein alter Mann belehrt einen jüngern in dreißig Kapiteln über alles, was zum guten Tone gehört. Den zeitlichen Abstand della Casas von seinen Vorgängern bemerkt man äußerlich daran, daß der spanische Einfluß in Italien zugenommen hat, jetzt, wo man jeden Schneider und Barbier „Herr" nennt, der sonst zufrieden war, wenn man „mein Lieber" sagte, wo das gesellschaft¬ liche Zeremoniell dem Hausherrn beim Empfange die Gesichtszüge je nach dem Range seiner Gäste vorschreibt und diesen ebenso den Stehplatz, den Sessel oder das Sofa bestimmt. Neapel, wo der spanische Geist schon im fünfzehnten Jahrhundert mit den Aragonesen eingezogen ist, heißt jetzt die Stadt der Barone und der titelsüchtigen Müßiggänger. Dieses Wesen greift immer weiter um sich und paßt doch so wenig für den arbeitenden und handeltreibenden Bürger von Florenz, wie wenn die Honoratioren irgend eines venezianischen Land¬ städtchens die feierliche Haltung eines Ratsherrn von Venedig annehmen wollten. In weitern Einzelheiten ergehen sich die Capitolischreibcr, und ein wirk¬ licher, höherer Satiriker wie Ariost in seinen Satiren. Stolze Haltung und nichts dahinter, das ist echt spanisch und neapolitanisch. Das fortwährende

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219001/630>, abgerufen am 26.05.2024.