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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr.

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Zur Geschichte der feine" Sitte

dann eine besondre Litteratnrgattung nicht mehr finden und uns an Goethes
Romane halten müssen und an Lichtenbergs zerstreute Bemerkungen, das beste
und zugleich früheste bei uns an eindringlicher Menschenbeobachtung. Die
Italiener haben also einen großen Vorsprung, sowohl zeitlich als durch die
Schärfe, mit der sie den Typus ausgeprägt haben. Ihnen kam zweierlei zu
statten. Zuerst die oft bemerkte Schnelligkeit der Beobachtung und die Lust
daran. Sodann, daß sie bereits eine Litteratur hatten, die ihnen auch hierzu
den Weg wies. Dante behandelt Vorstellungen aus der Welt des Mittelalters,
aber in der Art, wie er sie ausdrückt und wie er beobachtet, am auffallendsten in
seinen Gleichnissen und Metaphern, ist er ein völlig moderner Mensch. Das, was
die Kunstlehre Realismus nennt, und das Volkstümliche war in keinem italie¬
nischen Dichter wieder so reich entfaltet. Nach ihm kamen andre Richtungen, vor
allem der Humanismus. Die Litteratur richtete sich mehr und mehr an deu
engern Kreis der Gebildeten. Wer sich zu diesem rechnet, kann dem etwas ein¬
seitigen Klassizismus oder den musikalischen Versen noch jahrhundertelang einen
gewissen höhern Genuß abgewinnen. Aber das warme, selbständige Leben hört
doch auf, wie oben bemerkt wurde, mit Tasso. Kurz vor dem Anfange unsers
Jahrhunderts hat dann das sogenannte junge Italien, zum Teil im Anschluß
an Dante, neue Wege gesucht. Wir schätzen auch heute noch Giustis Satire
und lassen uns von Leopardis Oden ergreifen, aber es darf wohl ausgesprochen
werden, etwas Gesundes ist das nicht, und keinem Volke sind solche Zustände
zu wünschen, aus denen solche Dichter hervorgehen müssen. Wer aber bedenkt,
wie seit Jahrhunderten spanischer und französischer Einfluß in Italien gehaust
und die nationale Staatenbildung gehindert hat, der wird es begreiflich finden,
daß eine Litteratur, die diesen Wendungen willig folgte, sehr viel Pathos ent¬
wickeln und sehr viel Phrase ablagern mußte. Und die Phrase ist auch des
heutigen Jtalieners Lieblingskind. Worte ohne Thaten, ohne Inhalt! Sie
können wohl Menschen im Schlafe stören, aber nicht eine Nation ans dem
geistigen Schlummer aufwecken, die politisch nur das geworden ist, was mäch¬
tige Bundesgenossen und Freunde sie mühelos haben werden lassen, und die
dann auf eigne Rechnung nur mit einer neuen Phrase weiterarbeiten kann,
der Jrredenta, die auch wieder ohne Arbeit gewinnen will. Das Land, dem
unser heutiges Europa einen großen Teil seiner höhern Kultur verdankt, geht
unaufhaltsam seinem Untergange entgegen. Es ist ein historisches Land. Auf
seine Kraft wollen wir uns darum nicht verlassen. An seine große Vergangen¬
heit mögen wir uns dankbar erinnern. Deren Erzeugnisse sollen uns nach
wie vor erfreuen und geistig fördern.


Adolf philippi


Zur Geschichte der feine» Sitte

dann eine besondre Litteratnrgattung nicht mehr finden und uns an Goethes
Romane halten müssen und an Lichtenbergs zerstreute Bemerkungen, das beste
und zugleich früheste bei uns an eindringlicher Menschenbeobachtung. Die
Italiener haben also einen großen Vorsprung, sowohl zeitlich als durch die
Schärfe, mit der sie den Typus ausgeprägt haben. Ihnen kam zweierlei zu
statten. Zuerst die oft bemerkte Schnelligkeit der Beobachtung und die Lust
daran. Sodann, daß sie bereits eine Litteratur hatten, die ihnen auch hierzu
den Weg wies. Dante behandelt Vorstellungen aus der Welt des Mittelalters,
aber in der Art, wie er sie ausdrückt und wie er beobachtet, am auffallendsten in
seinen Gleichnissen und Metaphern, ist er ein völlig moderner Mensch. Das, was
die Kunstlehre Realismus nennt, und das Volkstümliche war in keinem italie¬
nischen Dichter wieder so reich entfaltet. Nach ihm kamen andre Richtungen, vor
allem der Humanismus. Die Litteratur richtete sich mehr und mehr an deu
engern Kreis der Gebildeten. Wer sich zu diesem rechnet, kann dem etwas ein¬
seitigen Klassizismus oder den musikalischen Versen noch jahrhundertelang einen
gewissen höhern Genuß abgewinnen. Aber das warme, selbständige Leben hört
doch auf, wie oben bemerkt wurde, mit Tasso. Kurz vor dem Anfange unsers
Jahrhunderts hat dann das sogenannte junge Italien, zum Teil im Anschluß
an Dante, neue Wege gesucht. Wir schätzen auch heute noch Giustis Satire
und lassen uns von Leopardis Oden ergreifen, aber es darf wohl ausgesprochen
werden, etwas Gesundes ist das nicht, und keinem Volke sind solche Zustände
zu wünschen, aus denen solche Dichter hervorgehen müssen. Wer aber bedenkt,
wie seit Jahrhunderten spanischer und französischer Einfluß in Italien gehaust
und die nationale Staatenbildung gehindert hat, der wird es begreiflich finden,
daß eine Litteratur, die diesen Wendungen willig folgte, sehr viel Pathos ent¬
wickeln und sehr viel Phrase ablagern mußte. Und die Phrase ist auch des
heutigen Jtalieners Lieblingskind. Worte ohne Thaten, ohne Inhalt! Sie
können wohl Menschen im Schlafe stören, aber nicht eine Nation ans dem
geistigen Schlummer aufwecken, die politisch nur das geworden ist, was mäch¬
tige Bundesgenossen und Freunde sie mühelos haben werden lassen, und die
dann auf eigne Rechnung nur mit einer neuen Phrase weiterarbeiten kann,
der Jrredenta, die auch wieder ohne Arbeit gewinnen will. Das Land, dem
unser heutiges Europa einen großen Teil seiner höhern Kultur verdankt, geht
unaufhaltsam seinem Untergange entgegen. Es ist ein historisches Land. Auf
seine Kraft wollen wir uns darum nicht verlassen. An seine große Vergangen¬
heit mögen wir uns dankbar erinnern. Deren Erzeugnisse sollen uns nach
wie vor erfreuen und geistig fördern.


Adolf philippi


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219001/640>, abgerufen am 11.05.2024.