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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr.

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Zur Geschichte der feinen Sitte

ganzes Kapitel. Geistvoll werden die Menschen geschildert, die immer ge¬
spannt auf das letzte Wort des Sprechenden warten, um dann selbst an die
Reihe zu kommen, die mit Mienen und Worten ("ich weiß das schon") den
Schluß zu beschleunigen suchen und endlich sogar in die Rede fallen. Dann
solche, die die Unart haben, sich, wenn sie nicht das Wort für alle haben
können, durch allerlei Gesten und Äußerungen einen kleinen Zuhörerkreis ab¬
zuzweigen. Endlich die, die korrigiren, dem Nachsinnenden zu Worte helfen
und so jemandem, der sich vielleicht gerade auf sein Erzählen etwas zu gute
thut, auf unliebsame Weise ihre Überlegenheit zeigen. Allen Schein des
Klügerseinwollens soll man meiden, daher ist auch, wenn jemand seinen Rat
geben will, die Form wohl zu beachten. Niemand möchte doch immer mit
seinem Arzt, seinem Beichtvater oder, wenn er etwas Unrechtes gethan hätte,
mit seinem Richter zusammen sein! Wieder eine andre Seite des Verkehrs
führt zu der Vorschrift: man soll nicht aufschneiden, nicht zu viel von sich
und seiner Familie sprechen und in allen diesen Dingen genau darauf achten,
wieviel der andre davon noch aufnehmen kann, um einen angenehmen oder
gar imponirenden Eindruck zu erhalten. Denn das soll doch erreicht werden,
sonst tritt sofort das Gegenteil ein, der Redende wird mißfällig und lächerlich.
Also prüfe er seine Darstellungsnüttel! Ebenso widerwärtig ist die ange¬
nommene Bescheidenheit, die sich in Worten oder im Auftreten offenbart, um
als Gegenwirkung das Maß von Anerkennung hervorzurufen, auf das der
Betreffende mir zu gegründeten Anspruch zu haben glaubt. Solche Leute
können durch ihr erlognes Wesen eine ganze Gesellschaft stören.

Della Casa starb 1556, und er ist der letzte von den Schriftstellern, mit
denen wir uns hier beschäftigt haben. Erst reichlich hundert Jahre später
hat in Frankreich diese Art von geistiger Kultur ihren litterarischen Ausdruck
gefunden- Man wird aber hierbei nicht etwa schon an Montaigne oder
Pascal und La Rochefoucauld denken, sondern an La Vruyere und Frau
von Suvignu und die andern Vertreter des Zsnro vxistollürs. Hier kann
passend an einen Ausspruch La Bruhvres erinnert werden. Frauen, meint er,
haben mehr Sentiment als Männer. Balzac und Voiture hatten noch nichts
davon. Erst die Frauen haben das in den Brieffen gebracht, und wenn sie
korrekter im Stil würeu, so würden ihre Briefe die Perlen der Litteratur
sein. Ihren Höhepunkt erreicht dann diese Wissenschaft von dem Verhältnis
der psychologischen Beobachtung zum sprachlichen Ausdruck in Rousseau und
zwar in seiner Heloise. Unter den Engländern ist der früheste ausgeprägte
Vertreter dieser Gattung Swift, der Vollkommenste Chesterfield. Wollen nur
das entsprechende in Deutschland, wieder etwas später, suchen, so dürfen wir
nicht etwa an die bekannten Bücher von Knigge und Zimmermann denken.
Das eine ist zwar sein, aber verglichen mit der Höhe, auf der die bisher
genannten stehen, philiströs, das andre nichts weiter als dies. Wir werden


Grenzboten I 139ö 79
Zur Geschichte der feinen Sitte

ganzes Kapitel. Geistvoll werden die Menschen geschildert, die immer ge¬
spannt auf das letzte Wort des Sprechenden warten, um dann selbst an die
Reihe zu kommen, die mit Mienen und Worten („ich weiß das schon") den
Schluß zu beschleunigen suchen und endlich sogar in die Rede fallen. Dann
solche, die die Unart haben, sich, wenn sie nicht das Wort für alle haben
können, durch allerlei Gesten und Äußerungen einen kleinen Zuhörerkreis ab¬
zuzweigen. Endlich die, die korrigiren, dem Nachsinnenden zu Worte helfen
und so jemandem, der sich vielleicht gerade auf sein Erzählen etwas zu gute
thut, auf unliebsame Weise ihre Überlegenheit zeigen. Allen Schein des
Klügerseinwollens soll man meiden, daher ist auch, wenn jemand seinen Rat
geben will, die Form wohl zu beachten. Niemand möchte doch immer mit
seinem Arzt, seinem Beichtvater oder, wenn er etwas Unrechtes gethan hätte,
mit seinem Richter zusammen sein! Wieder eine andre Seite des Verkehrs
führt zu der Vorschrift: man soll nicht aufschneiden, nicht zu viel von sich
und seiner Familie sprechen und in allen diesen Dingen genau darauf achten,
wieviel der andre davon noch aufnehmen kann, um einen angenehmen oder
gar imponirenden Eindruck zu erhalten. Denn das soll doch erreicht werden,
sonst tritt sofort das Gegenteil ein, der Redende wird mißfällig und lächerlich.
Also prüfe er seine Darstellungsnüttel! Ebenso widerwärtig ist die ange¬
nommene Bescheidenheit, die sich in Worten oder im Auftreten offenbart, um
als Gegenwirkung das Maß von Anerkennung hervorzurufen, auf das der
Betreffende mir zu gegründeten Anspruch zu haben glaubt. Solche Leute
können durch ihr erlognes Wesen eine ganze Gesellschaft stören.

Della Casa starb 1556, und er ist der letzte von den Schriftstellern, mit
denen wir uns hier beschäftigt haben. Erst reichlich hundert Jahre später
hat in Frankreich diese Art von geistiger Kultur ihren litterarischen Ausdruck
gefunden- Man wird aber hierbei nicht etwa schon an Montaigne oder
Pascal und La Rochefoucauld denken, sondern an La Vruyere und Frau
von Suvignu und die andern Vertreter des Zsnro vxistollürs. Hier kann
passend an einen Ausspruch La Bruhvres erinnert werden. Frauen, meint er,
haben mehr Sentiment als Männer. Balzac und Voiture hatten noch nichts
davon. Erst die Frauen haben das in den Brieffen gebracht, und wenn sie
korrekter im Stil würeu, so würden ihre Briefe die Perlen der Litteratur
sein. Ihren Höhepunkt erreicht dann diese Wissenschaft von dem Verhältnis
der psychologischen Beobachtung zum sprachlichen Ausdruck in Rousseau und
zwar in seiner Heloise. Unter den Engländern ist der früheste ausgeprägte
Vertreter dieser Gattung Swift, der Vollkommenste Chesterfield. Wollen nur
das entsprechende in Deutschland, wieder etwas später, suchen, so dürfen wir
nicht etwa an die bekannten Bücher von Knigge und Zimmermann denken.
Das eine ist zwar sein, aber verglichen mit der Höhe, auf der die bisher
genannten stehen, philiströs, das andre nichts weiter als dies. Wir werden


Grenzboten I 139ö 79
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[0639] Zur Geschichte der feinen Sitte ganzes Kapitel. Geistvoll werden die Menschen geschildert, die immer ge¬ spannt auf das letzte Wort des Sprechenden warten, um dann selbst an die Reihe zu kommen, die mit Mienen und Worten („ich weiß das schon") den Schluß zu beschleunigen suchen und endlich sogar in die Rede fallen. Dann solche, die die Unart haben, sich, wenn sie nicht das Wort für alle haben können, durch allerlei Gesten und Äußerungen einen kleinen Zuhörerkreis ab¬ zuzweigen. Endlich die, die korrigiren, dem Nachsinnenden zu Worte helfen und so jemandem, der sich vielleicht gerade auf sein Erzählen etwas zu gute thut, auf unliebsame Weise ihre Überlegenheit zeigen. Allen Schein des Klügerseinwollens soll man meiden, daher ist auch, wenn jemand seinen Rat geben will, die Form wohl zu beachten. Niemand möchte doch immer mit seinem Arzt, seinem Beichtvater oder, wenn er etwas Unrechtes gethan hätte, mit seinem Richter zusammen sein! Wieder eine andre Seite des Verkehrs führt zu der Vorschrift: man soll nicht aufschneiden, nicht zu viel von sich und seiner Familie sprechen und in allen diesen Dingen genau darauf achten, wieviel der andre davon noch aufnehmen kann, um einen angenehmen oder gar imponirenden Eindruck zu erhalten. Denn das soll doch erreicht werden, sonst tritt sofort das Gegenteil ein, der Redende wird mißfällig und lächerlich. Also prüfe er seine Darstellungsnüttel! Ebenso widerwärtig ist die ange¬ nommene Bescheidenheit, die sich in Worten oder im Auftreten offenbart, um als Gegenwirkung das Maß von Anerkennung hervorzurufen, auf das der Betreffende mir zu gegründeten Anspruch zu haben glaubt. Solche Leute können durch ihr erlognes Wesen eine ganze Gesellschaft stören. Della Casa starb 1556, und er ist der letzte von den Schriftstellern, mit denen wir uns hier beschäftigt haben. Erst reichlich hundert Jahre später hat in Frankreich diese Art von geistiger Kultur ihren litterarischen Ausdruck gefunden- Man wird aber hierbei nicht etwa schon an Montaigne oder Pascal und La Rochefoucauld denken, sondern an La Vruyere und Frau von Suvignu und die andern Vertreter des Zsnro vxistollürs. Hier kann passend an einen Ausspruch La Bruhvres erinnert werden. Frauen, meint er, haben mehr Sentiment als Männer. Balzac und Voiture hatten noch nichts davon. Erst die Frauen haben das in den Brieffen gebracht, und wenn sie korrekter im Stil würeu, so würden ihre Briefe die Perlen der Litteratur sein. Ihren Höhepunkt erreicht dann diese Wissenschaft von dem Verhältnis der psychologischen Beobachtung zum sprachlichen Ausdruck in Rousseau und zwar in seiner Heloise. Unter den Engländern ist der früheste ausgeprägte Vertreter dieser Gattung Swift, der Vollkommenste Chesterfield. Wollen nur das entsprechende in Deutschland, wieder etwas später, suchen, so dürfen wir nicht etwa an die bekannten Bücher von Knigge und Zimmermann denken. Das eine ist zwar sein, aber verglichen mit der Höhe, auf der die bisher genannten stehen, philiströs, das andre nichts weiter als dies. Wir werden Grenzboten I 139ö 79

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219001/639>, abgerufen am 23.05.2024.