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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr.

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Das Dogma vom klassischen Altertum

die Reformer jedes Stils und Gepräges gekommen. Nichts über ist gewisser,
als daß das Gewirr und die Gewaltsamkeit der zahllosen Verkündigungen,
Forderungen und Vorschläge auf einen ziemlich stumpfen Gleichmut der herr¬
schenden Kreise trifft, daß die hellste wie die bedrohlichste Glut der Reform-
lustigen den Leuten als ein vergnügliches Feuerwerk gilt. Und dies hat wieder
den Nachteil, daß jeder, der auf irgend einem Gebiet etwas Bedeutendes,
Neues und Entscheidendes zu vertreten hat, den Ton nicht scharf oder hoch
genug anschlagen zu können meint, daß jeder mit wuchtigem Nachdruck das
Äußerste setzt und behauptet, was sich in seinem Fall vorbringen laßt. Hält
er doch für gewiß, daß uur ein Teil davon wirksam werden wird.

Unter dem Druck dieser Gewißheit hat offenbar auch ein Schriftsteller von
ernstem idealem Geist, von tiefer und umfassender Bildung, von tapferer Selb¬
ständigkeit und scharfem kritischem Blick, Dr. Paul Nerrlich, Professor am
Askanischen Gymnasium in Berlin, in seinem Buche: Das Dogma vom
klassischen Altertum in seiner geschichtlichen Entwicklung (Leipzig,
C. L. Hirschfeld) deu Bogen straffer gespannt, als nötig gewesen wäre, um das
Ziel zu treffen. In dem Titel des Buches liegt sein Inhalt schon angedeutet:
das Wort "Dogma vom klassischen Altertum" schließt die Anschauungsweise
ein, die Nerrlich entschlossen und unbarmherzig bekämpft, weil er sie uach ihrer
geschichtlichen Seite für einen schweren Irrtum, uach ihrer ethischen für ein
Hemmnis der gegenwärtigen und künftigen Entwicklung, nach ihrer ästhetischen
für eine fortgesetzte Trübung des Geschmacks und des Urteils ansieht. Das Dogma
vom klassische" Altertum gehört nach der in Nerrlichs inhaltvollen Buche ver-
fvchtnen Überzeugung "zu den einstmals weltgeschichtlichen Irrtümern-, die
Gegenwart verlangt Befreiung auch von diesem Dogma." Als den Kern
dieses Dogmas erkennt Nerrlich die einseitige Überschätzung des antiken Lebens,
die Vorstellung, daß die Alten, d. y. die Griechen und Römer, auf jedem
Lebens- und Wissensgebiete, namentlich aber in der Dichtung und in den
Künsten das Höchste hervorgebracht Hütten und niemals wieder zu erreichen,
geschweige denn zu übertreffen seien, die unkritische und ungeschichtliche, rein
rednerische Überlieferung, die schlechthin das Geringfügigste, das hellenischen
Ursprungs ist, über das Höchste und Gehaltvollste setzt, was Mittelalter und
Neuzeit hervorgebracht haben. Das Emporwachsen dieser Vorstellung und
Überlieferung in und neben der allmählichen Wiedererkenntnis der Welt des
Altertums, ihre Wandlungen im Laufe der Jahrhunderte und die Wirkung,
die sie auf die gesamte Bildung der letzten Jahrhunderte gehabt haben, die
historische Darstellung des Widerspruchs zwischen der gewaltigen Entwicklung
der Welt, der Wissenschaft und der Litteratur und der Enge einer Auffassung,
die im griechischen Altertum nicht nur den Jungbrunnen des ersten glücklichen
jugendfreudigen Aufschwungs menschlicher Gesittung und Geistesbildung ehrt,
nicht uur ein Höchstes, sondern das Höchste ausschließlich bewundert, bilden


Das Dogma vom klassischen Altertum

die Reformer jedes Stils und Gepräges gekommen. Nichts über ist gewisser,
als daß das Gewirr und die Gewaltsamkeit der zahllosen Verkündigungen,
Forderungen und Vorschläge auf einen ziemlich stumpfen Gleichmut der herr¬
schenden Kreise trifft, daß die hellste wie die bedrohlichste Glut der Reform-
lustigen den Leuten als ein vergnügliches Feuerwerk gilt. Und dies hat wieder
den Nachteil, daß jeder, der auf irgend einem Gebiet etwas Bedeutendes,
Neues und Entscheidendes zu vertreten hat, den Ton nicht scharf oder hoch
genug anschlagen zu können meint, daß jeder mit wuchtigem Nachdruck das
Äußerste setzt und behauptet, was sich in seinem Fall vorbringen laßt. Hält
er doch für gewiß, daß uur ein Teil davon wirksam werden wird.

Unter dem Druck dieser Gewißheit hat offenbar auch ein Schriftsteller von
ernstem idealem Geist, von tiefer und umfassender Bildung, von tapferer Selb¬
ständigkeit und scharfem kritischem Blick, Dr. Paul Nerrlich, Professor am
Askanischen Gymnasium in Berlin, in seinem Buche: Das Dogma vom
klassischen Altertum in seiner geschichtlichen Entwicklung (Leipzig,
C. L. Hirschfeld) deu Bogen straffer gespannt, als nötig gewesen wäre, um das
Ziel zu treffen. In dem Titel des Buches liegt sein Inhalt schon angedeutet:
das Wort „Dogma vom klassischen Altertum" schließt die Anschauungsweise
ein, die Nerrlich entschlossen und unbarmherzig bekämpft, weil er sie uach ihrer
geschichtlichen Seite für einen schweren Irrtum, uach ihrer ethischen für ein
Hemmnis der gegenwärtigen und künftigen Entwicklung, nach ihrer ästhetischen
für eine fortgesetzte Trübung des Geschmacks und des Urteils ansieht. Das Dogma
vom klassische» Altertum gehört nach der in Nerrlichs inhaltvollen Buche ver-
fvchtnen Überzeugung „zu den einstmals weltgeschichtlichen Irrtümern-, die
Gegenwart verlangt Befreiung auch von diesem Dogma." Als den Kern
dieses Dogmas erkennt Nerrlich die einseitige Überschätzung des antiken Lebens,
die Vorstellung, daß die Alten, d. y. die Griechen und Römer, auf jedem
Lebens- und Wissensgebiete, namentlich aber in der Dichtung und in den
Künsten das Höchste hervorgebracht Hütten und niemals wieder zu erreichen,
geschweige denn zu übertreffen seien, die unkritische und ungeschichtliche, rein
rednerische Überlieferung, die schlechthin das Geringfügigste, das hellenischen
Ursprungs ist, über das Höchste und Gehaltvollste setzt, was Mittelalter und
Neuzeit hervorgebracht haben. Das Emporwachsen dieser Vorstellung und
Überlieferung in und neben der allmählichen Wiedererkenntnis der Welt des
Altertums, ihre Wandlungen im Laufe der Jahrhunderte und die Wirkung,
die sie auf die gesamte Bildung der letzten Jahrhunderte gehabt haben, die
historische Darstellung des Widerspruchs zwischen der gewaltigen Entwicklung
der Welt, der Wissenschaft und der Litteratur und der Enge einer Auffassung,
die im griechischen Altertum nicht nur den Jungbrunnen des ersten glücklichen
jugendfreudigen Aufschwungs menschlicher Gesittung und Geistesbildung ehrt,
nicht uur ein Höchstes, sondern das Höchste ausschließlich bewundert, bilden


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[0080] Das Dogma vom klassischen Altertum die Reformer jedes Stils und Gepräges gekommen. Nichts über ist gewisser, als daß das Gewirr und die Gewaltsamkeit der zahllosen Verkündigungen, Forderungen und Vorschläge auf einen ziemlich stumpfen Gleichmut der herr¬ schenden Kreise trifft, daß die hellste wie die bedrohlichste Glut der Reform- lustigen den Leuten als ein vergnügliches Feuerwerk gilt. Und dies hat wieder den Nachteil, daß jeder, der auf irgend einem Gebiet etwas Bedeutendes, Neues und Entscheidendes zu vertreten hat, den Ton nicht scharf oder hoch genug anschlagen zu können meint, daß jeder mit wuchtigem Nachdruck das Äußerste setzt und behauptet, was sich in seinem Fall vorbringen laßt. Hält er doch für gewiß, daß uur ein Teil davon wirksam werden wird. Unter dem Druck dieser Gewißheit hat offenbar auch ein Schriftsteller von ernstem idealem Geist, von tiefer und umfassender Bildung, von tapferer Selb¬ ständigkeit und scharfem kritischem Blick, Dr. Paul Nerrlich, Professor am Askanischen Gymnasium in Berlin, in seinem Buche: Das Dogma vom klassischen Altertum in seiner geschichtlichen Entwicklung (Leipzig, C. L. Hirschfeld) deu Bogen straffer gespannt, als nötig gewesen wäre, um das Ziel zu treffen. In dem Titel des Buches liegt sein Inhalt schon angedeutet: das Wort „Dogma vom klassischen Altertum" schließt die Anschauungsweise ein, die Nerrlich entschlossen und unbarmherzig bekämpft, weil er sie uach ihrer geschichtlichen Seite für einen schweren Irrtum, uach ihrer ethischen für ein Hemmnis der gegenwärtigen und künftigen Entwicklung, nach ihrer ästhetischen für eine fortgesetzte Trübung des Geschmacks und des Urteils ansieht. Das Dogma vom klassische» Altertum gehört nach der in Nerrlichs inhaltvollen Buche ver- fvchtnen Überzeugung „zu den einstmals weltgeschichtlichen Irrtümern-, die Gegenwart verlangt Befreiung auch von diesem Dogma." Als den Kern dieses Dogmas erkennt Nerrlich die einseitige Überschätzung des antiken Lebens, die Vorstellung, daß die Alten, d. y. die Griechen und Römer, auf jedem Lebens- und Wissensgebiete, namentlich aber in der Dichtung und in den Künsten das Höchste hervorgebracht Hütten und niemals wieder zu erreichen, geschweige denn zu übertreffen seien, die unkritische und ungeschichtliche, rein rednerische Überlieferung, die schlechthin das Geringfügigste, das hellenischen Ursprungs ist, über das Höchste und Gehaltvollste setzt, was Mittelalter und Neuzeit hervorgebracht haben. Das Emporwachsen dieser Vorstellung und Überlieferung in und neben der allmählichen Wiedererkenntnis der Welt des Altertums, ihre Wandlungen im Laufe der Jahrhunderte und die Wirkung, die sie auf die gesamte Bildung der letzten Jahrhunderte gehabt haben, die historische Darstellung des Widerspruchs zwischen der gewaltigen Entwicklung der Welt, der Wissenschaft und der Litteratur und der Enge einer Auffassung, die im griechischen Altertum nicht nur den Jungbrunnen des ersten glücklichen jugendfreudigen Aufschwungs menschlicher Gesittung und Geistesbildung ehrt, nicht uur ein Höchstes, sondern das Höchste ausschließlich bewundert, bilden

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219001/80>, abgerufen am 11.05.2024.