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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr.

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Das Dogma vom klassischen Altertum

einen Hauptteil des Nerrlichschen Werkes. Nackt, wie sie hier aus dem El
herausgeschält und durch Heranziehung einer endlosen Litteratur nachgewiesen
wird, stellt sich die von Nerrlich bekämpfte Auffassung nun wohl selten dar;
daß sie aber in tausend Köpfen geheim fortwirkt, die klare Erkenntnis und un¬
befangne Würdigung von unzähligen Lebens- und Geisteserscheinungen gefährdet,
daß sich eine gewisse philologische Einseitigkeit allmählich zu dem Dogma aus¬
gewachsen hat, daß die rein grammatische Behandlung der antiken Sprachen
und die grammatische Schulung nicht mir ein unentbehrliches und bedeutendes
Bildungsmittel, sondern der höchste Bildungszweck überhaupt sei, kann man sich
nicht verhehlen. Als den schwächsten Punkt dieses besondern Dogmas bezeichnet
Nerrlichs Erörterung die Thatsache, daß nnbestrittnermaßen in der bildenden Kunst,
namentlich in der Plastik, die vollendetsten Lebensäußerungen des griechischen
Geistes und der griechischen Geschmacksbildung erhalten sind, und daß bei der
Erkenntnis des Altertums, die ausschließlich durch die Grammatik vermittelt
werden soll, die Werte des Phidias und des Praxiteles als völlig untergeordnete
Leistungen gelten müßten.

Nicht mit Unrecht widmet Nerrlich in der Mitte seines Buches dem
Kampf, den zum Ende des siebzehnten Jahrhunderts Charles Perrault, der
französische Märchendichtcr und Litterat, in seinen vielbestrittneu ?c,.ra.IlLlös
an-8 ^molem8 et Aos Nocleriuzs begann und gegen Boileau, Swift und Bentley
mannhaft bestand, eine eingehende und liebevolle Würdigung. Im Grunde ist
sein eignes Buch "Das Dogma vom klassischen Altertum" nur eine Wieder¬
aufnahme des damals unentschieden gebliebner Streites. Und da Nerrlich auf
zwei Jahrhunderte mehr voll mächtigen Lebens und großer Leistungen zurück¬
blickt als der Franzose des Zeitalters Ludwigs XIV., so ist es ihm freilich
leichter, die einseitige Beschränktheit nachzuweisen, die in keiner modernen Er¬
kenntnis und Schöpfung etwas andres zu sehen vermag, als den Nachklang
des klassischen Altertums und auch noch den Dichter des "Hamlet" und des "König
Lear," wie den des "Faust" und des "Werther" tief unter den Dichtern der An¬
tike erblickt. Im großen und ganzen wagt ja doch kein heutiger Verfechter
des Altertums mehr über die Linie hinauszugehen, die Th. Berge in seiner
griechischen Litternturgeschichte zieht, wenn er mißmutig zugesteht, daß die Poesie
der modernen Völker, was Größe der Weltanschauung, Fülle der Gedanken
und Tiefe der Empfindung betrifft, im allgemeinen höher stehe als die Poesie
des Altertums, daß diese aber dafür durch das Vorherrschen des Idealen über
das Reale, durch die hohe Vollendung der Form, die unvergleichliche Reinheit
der Sprache, den Zauber des Wohllauts, den Reiz und Reichtum der me¬
trischen Bildungen Vorzüge behauptet, in denen ihr die neuere Poesie nicht
gleichkommen kann. Wenn Nerrlich auch diese Anschauung noch befehdet, wenn
er in Übereinstimmung mit Paulsen dem Schulhvchmnt gegenübertritt, der die
Existenz einer selbständigen modernen Kultur leugnet oder dieser Kultur den


Grenzboten I I8S5 10
Das Dogma vom klassischen Altertum

einen Hauptteil des Nerrlichschen Werkes. Nackt, wie sie hier aus dem El
herausgeschält und durch Heranziehung einer endlosen Litteratur nachgewiesen
wird, stellt sich die von Nerrlich bekämpfte Auffassung nun wohl selten dar;
daß sie aber in tausend Köpfen geheim fortwirkt, die klare Erkenntnis und un¬
befangne Würdigung von unzähligen Lebens- und Geisteserscheinungen gefährdet,
daß sich eine gewisse philologische Einseitigkeit allmählich zu dem Dogma aus¬
gewachsen hat, daß die rein grammatische Behandlung der antiken Sprachen
und die grammatische Schulung nicht mir ein unentbehrliches und bedeutendes
Bildungsmittel, sondern der höchste Bildungszweck überhaupt sei, kann man sich
nicht verhehlen. Als den schwächsten Punkt dieses besondern Dogmas bezeichnet
Nerrlichs Erörterung die Thatsache, daß nnbestrittnermaßen in der bildenden Kunst,
namentlich in der Plastik, die vollendetsten Lebensäußerungen des griechischen
Geistes und der griechischen Geschmacksbildung erhalten sind, und daß bei der
Erkenntnis des Altertums, die ausschließlich durch die Grammatik vermittelt
werden soll, die Werte des Phidias und des Praxiteles als völlig untergeordnete
Leistungen gelten müßten.

Nicht mit Unrecht widmet Nerrlich in der Mitte seines Buches dem
Kampf, den zum Ende des siebzehnten Jahrhunderts Charles Perrault, der
französische Märchendichtcr und Litterat, in seinen vielbestrittneu ?c,.ra.IlLlös
an-8 ^molem8 et Aos Nocleriuzs begann und gegen Boileau, Swift und Bentley
mannhaft bestand, eine eingehende und liebevolle Würdigung. Im Grunde ist
sein eignes Buch „Das Dogma vom klassischen Altertum" nur eine Wieder¬
aufnahme des damals unentschieden gebliebner Streites. Und da Nerrlich auf
zwei Jahrhunderte mehr voll mächtigen Lebens und großer Leistungen zurück¬
blickt als der Franzose des Zeitalters Ludwigs XIV., so ist es ihm freilich
leichter, die einseitige Beschränktheit nachzuweisen, die in keiner modernen Er¬
kenntnis und Schöpfung etwas andres zu sehen vermag, als den Nachklang
des klassischen Altertums und auch noch den Dichter des „Hamlet" und des „König
Lear," wie den des „Faust" und des „Werther" tief unter den Dichtern der An¬
tike erblickt. Im großen und ganzen wagt ja doch kein heutiger Verfechter
des Altertums mehr über die Linie hinauszugehen, die Th. Berge in seiner
griechischen Litternturgeschichte zieht, wenn er mißmutig zugesteht, daß die Poesie
der modernen Völker, was Größe der Weltanschauung, Fülle der Gedanken
und Tiefe der Empfindung betrifft, im allgemeinen höher stehe als die Poesie
des Altertums, daß diese aber dafür durch das Vorherrschen des Idealen über
das Reale, durch die hohe Vollendung der Form, die unvergleichliche Reinheit
der Sprache, den Zauber des Wohllauts, den Reiz und Reichtum der me¬
trischen Bildungen Vorzüge behauptet, in denen ihr die neuere Poesie nicht
gleichkommen kann. Wenn Nerrlich auch diese Anschauung noch befehdet, wenn
er in Übereinstimmung mit Paulsen dem Schulhvchmnt gegenübertritt, der die
Existenz einer selbständigen modernen Kultur leugnet oder dieser Kultur den


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[0081] Das Dogma vom klassischen Altertum einen Hauptteil des Nerrlichschen Werkes. Nackt, wie sie hier aus dem El herausgeschält und durch Heranziehung einer endlosen Litteratur nachgewiesen wird, stellt sich die von Nerrlich bekämpfte Auffassung nun wohl selten dar; daß sie aber in tausend Köpfen geheim fortwirkt, die klare Erkenntnis und un¬ befangne Würdigung von unzähligen Lebens- und Geisteserscheinungen gefährdet, daß sich eine gewisse philologische Einseitigkeit allmählich zu dem Dogma aus¬ gewachsen hat, daß die rein grammatische Behandlung der antiken Sprachen und die grammatische Schulung nicht mir ein unentbehrliches und bedeutendes Bildungsmittel, sondern der höchste Bildungszweck überhaupt sei, kann man sich nicht verhehlen. Als den schwächsten Punkt dieses besondern Dogmas bezeichnet Nerrlichs Erörterung die Thatsache, daß nnbestrittnermaßen in der bildenden Kunst, namentlich in der Plastik, die vollendetsten Lebensäußerungen des griechischen Geistes und der griechischen Geschmacksbildung erhalten sind, und daß bei der Erkenntnis des Altertums, die ausschließlich durch die Grammatik vermittelt werden soll, die Werte des Phidias und des Praxiteles als völlig untergeordnete Leistungen gelten müßten. Nicht mit Unrecht widmet Nerrlich in der Mitte seines Buches dem Kampf, den zum Ende des siebzehnten Jahrhunderts Charles Perrault, der französische Märchendichtcr und Litterat, in seinen vielbestrittneu ?c,.ra.IlLlös an-8 ^molem8 et Aos Nocleriuzs begann und gegen Boileau, Swift und Bentley mannhaft bestand, eine eingehende und liebevolle Würdigung. Im Grunde ist sein eignes Buch „Das Dogma vom klassischen Altertum" nur eine Wieder¬ aufnahme des damals unentschieden gebliebner Streites. Und da Nerrlich auf zwei Jahrhunderte mehr voll mächtigen Lebens und großer Leistungen zurück¬ blickt als der Franzose des Zeitalters Ludwigs XIV., so ist es ihm freilich leichter, die einseitige Beschränktheit nachzuweisen, die in keiner modernen Er¬ kenntnis und Schöpfung etwas andres zu sehen vermag, als den Nachklang des klassischen Altertums und auch noch den Dichter des „Hamlet" und des „König Lear," wie den des „Faust" und des „Werther" tief unter den Dichtern der An¬ tike erblickt. Im großen und ganzen wagt ja doch kein heutiger Verfechter des Altertums mehr über die Linie hinauszugehen, die Th. Berge in seiner griechischen Litternturgeschichte zieht, wenn er mißmutig zugesteht, daß die Poesie der modernen Völker, was Größe der Weltanschauung, Fülle der Gedanken und Tiefe der Empfindung betrifft, im allgemeinen höher stehe als die Poesie des Altertums, daß diese aber dafür durch das Vorherrschen des Idealen über das Reale, durch die hohe Vollendung der Form, die unvergleichliche Reinheit der Sprache, den Zauber des Wohllauts, den Reiz und Reichtum der me¬ trischen Bildungen Vorzüge behauptet, in denen ihr die neuere Poesie nicht gleichkommen kann. Wenn Nerrlich auch diese Anschauung noch befehdet, wenn er in Übereinstimmung mit Paulsen dem Schulhvchmnt gegenübertritt, der die Existenz einer selbständigen modernen Kultur leugnet oder dieser Kultur den Grenzboten I I8S5 10

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219001/81>, abgerufen am 24.05.2024.