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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr.

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Das Dogma vom klassischen Altertum

ethischen Wert abspricht und die inkarnirte Humanität einzig und allein bei
den Römern und Griechen sucht, so meint er offenbar mit Perrault, daß große
Thaten erst aus der Überzeugung hervorgehen, daß die Antike auf allen Ge¬
bieten erreicht und übertroffen sei und auch fernerhin erreicht und übertroffen
werden könne. Aber "niemand überspringt einen Graben, der das nicht vorher
für möglich gehalten hätte!" In Wahrheit kümmert sich freilich die un¬
geheure Mehrzahl der modernen Forscher, Schriftsteller, Dichter und Künstler
sehr wenig um das Verhältnis ihres Schaffens zu den antiken Mustern und
Meistern, die Tage der Renaissance, denen Virgil und Horaz als Führer und
geistige Gesetzgeber galten, liegen auf Nimmerwiederkehr hinter uns. Aus
Nerrlichs auf so umfassendes geschichtliches Wissen gestütztem Buche kann auch
der Laie bald wahrnehmen, daß das, was der Verfasser als Dogma vom klas¬
sischen Altertum bezeichnet und bekämpft, zu verschiednen Zeiten höchst ver-
schiedne Gestalten angenommen hat, Nerrlich betont selbst wiederholt den un¬
geheuern Unterschied, der zwischen der Altertumsauffassuug der Humanisten
des fünfzehnten und sechzehnten Jahrhunderts oder der der deutschen Denker
und Dichter des achtzehnten Jahrhunderts besteht und weist wiederum sehr
nachdrücklich darauf hin, daß die Begeisterung für die Antike, von der Lessing
und Boß, Goethe und Schiller erfüllt und zeitweise beherrscht waren, "mit
dem heute in unsern Gymnasien verlangten so gut wie nichts zu schaffen hatte."
Ihm sollte also ein Dogma, das so wandlungsfähig und zu einem guten Teile
eben nur Wiedersehen" der wechselnden Zeitanschauungen ist, das sich gegenüber
der Macht und den Forderungen der Wirklichkeit meist als ohnmächtig erweist,
nicht so bedrohlich erscheinen, um mit ganzen Rüstkammern von Waffen da¬
gegen zu Felde zu ziehen, Rüstkammern, in denen sich neben blanken Schwertern
von feinem Schliff auch rostige Keulen und Partisanen, ja selbst die Dresch¬
flegel aus deu Tagen der Hussiteuzüge und der Bauernempörungen vorfinden.
Folgt man mit Aufmerksamkeit den geschichtlichen Darstellungen des Verfassers,
so nimmt man wahr, daß seine .Kritik nach jedem Rüstzeug greift, was je gegen
die Selbstüberhebung, die innere Unwahrheit, die Zerfahrenheit und gelegent¬
liche Unsittlichkeit der Humanisten, der neulateinischeu Dichter geschmiedet
worden ist, daß er ihre" Nachfahren, den Neuhumanisten, seit Hemsterhuis
und Ruhnken, mit starkem kritischen Mißtrauen gegenübersteht, daß er jederzeit
bereit ist, den Gegnern der von ihm befehdeten mehr Glauben zu schenken als
deu angegriffnen selbst. "Fragen wir, schreibt er über die Reihe hervor¬
ragender Altertumsforscher, die von Gesner und Ernesti bis zu Heyne und
Winckelmann reicht, nach ihrer Auffassung des Altertums selbst, so leuchtet
ein, daß das, was wir anfaugs als Fortschritt erkannten, die Erhebung über
deu Kleinigkeitsgeist, zugleich verhängnisvoll wurde, insbesondre für die Schulen.
Wurden die Altertumsstndien mit Energie wieder aufgenommen, so konnte es
nicht ausbleiben, daß auch von dieser Seite her die Melanchthon-Stnrmsche


Das Dogma vom klassischen Altertum

ethischen Wert abspricht und die inkarnirte Humanität einzig und allein bei
den Römern und Griechen sucht, so meint er offenbar mit Perrault, daß große
Thaten erst aus der Überzeugung hervorgehen, daß die Antike auf allen Ge¬
bieten erreicht und übertroffen sei und auch fernerhin erreicht und übertroffen
werden könne. Aber „niemand überspringt einen Graben, der das nicht vorher
für möglich gehalten hätte!" In Wahrheit kümmert sich freilich die un¬
geheure Mehrzahl der modernen Forscher, Schriftsteller, Dichter und Künstler
sehr wenig um das Verhältnis ihres Schaffens zu den antiken Mustern und
Meistern, die Tage der Renaissance, denen Virgil und Horaz als Führer und
geistige Gesetzgeber galten, liegen auf Nimmerwiederkehr hinter uns. Aus
Nerrlichs auf so umfassendes geschichtliches Wissen gestütztem Buche kann auch
der Laie bald wahrnehmen, daß das, was der Verfasser als Dogma vom klas¬
sischen Altertum bezeichnet und bekämpft, zu verschiednen Zeiten höchst ver-
schiedne Gestalten angenommen hat, Nerrlich betont selbst wiederholt den un¬
geheuern Unterschied, der zwischen der Altertumsauffassuug der Humanisten
des fünfzehnten und sechzehnten Jahrhunderts oder der der deutschen Denker
und Dichter des achtzehnten Jahrhunderts besteht und weist wiederum sehr
nachdrücklich darauf hin, daß die Begeisterung für die Antike, von der Lessing
und Boß, Goethe und Schiller erfüllt und zeitweise beherrscht waren, „mit
dem heute in unsern Gymnasien verlangten so gut wie nichts zu schaffen hatte."
Ihm sollte also ein Dogma, das so wandlungsfähig und zu einem guten Teile
eben nur Wiedersehen« der wechselnden Zeitanschauungen ist, das sich gegenüber
der Macht und den Forderungen der Wirklichkeit meist als ohnmächtig erweist,
nicht so bedrohlich erscheinen, um mit ganzen Rüstkammern von Waffen da¬
gegen zu Felde zu ziehen, Rüstkammern, in denen sich neben blanken Schwertern
von feinem Schliff auch rostige Keulen und Partisanen, ja selbst die Dresch¬
flegel aus deu Tagen der Hussiteuzüge und der Bauernempörungen vorfinden.
Folgt man mit Aufmerksamkeit den geschichtlichen Darstellungen des Verfassers,
so nimmt man wahr, daß seine .Kritik nach jedem Rüstzeug greift, was je gegen
die Selbstüberhebung, die innere Unwahrheit, die Zerfahrenheit und gelegent¬
liche Unsittlichkeit der Humanisten, der neulateinischeu Dichter geschmiedet
worden ist, daß er ihre» Nachfahren, den Neuhumanisten, seit Hemsterhuis
und Ruhnken, mit starkem kritischen Mißtrauen gegenübersteht, daß er jederzeit
bereit ist, den Gegnern der von ihm befehdeten mehr Glauben zu schenken als
deu angegriffnen selbst. „Fragen wir, schreibt er über die Reihe hervor¬
ragender Altertumsforscher, die von Gesner und Ernesti bis zu Heyne und
Winckelmann reicht, nach ihrer Auffassung des Altertums selbst, so leuchtet
ein, daß das, was wir anfaugs als Fortschritt erkannten, die Erhebung über
deu Kleinigkeitsgeist, zugleich verhängnisvoll wurde, insbesondre für die Schulen.
Wurden die Altertumsstndien mit Energie wieder aufgenommen, so konnte es
nicht ausbleiben, daß auch von dieser Seite her die Melanchthon-Stnrmsche


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[0082] Das Dogma vom klassischen Altertum ethischen Wert abspricht und die inkarnirte Humanität einzig und allein bei den Römern und Griechen sucht, so meint er offenbar mit Perrault, daß große Thaten erst aus der Überzeugung hervorgehen, daß die Antike auf allen Ge¬ bieten erreicht und übertroffen sei und auch fernerhin erreicht und übertroffen werden könne. Aber „niemand überspringt einen Graben, der das nicht vorher für möglich gehalten hätte!" In Wahrheit kümmert sich freilich die un¬ geheure Mehrzahl der modernen Forscher, Schriftsteller, Dichter und Künstler sehr wenig um das Verhältnis ihres Schaffens zu den antiken Mustern und Meistern, die Tage der Renaissance, denen Virgil und Horaz als Führer und geistige Gesetzgeber galten, liegen auf Nimmerwiederkehr hinter uns. Aus Nerrlichs auf so umfassendes geschichtliches Wissen gestütztem Buche kann auch der Laie bald wahrnehmen, daß das, was der Verfasser als Dogma vom klas¬ sischen Altertum bezeichnet und bekämpft, zu verschiednen Zeiten höchst ver- schiedne Gestalten angenommen hat, Nerrlich betont selbst wiederholt den un¬ geheuern Unterschied, der zwischen der Altertumsauffassuug der Humanisten des fünfzehnten und sechzehnten Jahrhunderts oder der der deutschen Denker und Dichter des achtzehnten Jahrhunderts besteht und weist wiederum sehr nachdrücklich darauf hin, daß die Begeisterung für die Antike, von der Lessing und Boß, Goethe und Schiller erfüllt und zeitweise beherrscht waren, „mit dem heute in unsern Gymnasien verlangten so gut wie nichts zu schaffen hatte." Ihm sollte also ein Dogma, das so wandlungsfähig und zu einem guten Teile eben nur Wiedersehen« der wechselnden Zeitanschauungen ist, das sich gegenüber der Macht und den Forderungen der Wirklichkeit meist als ohnmächtig erweist, nicht so bedrohlich erscheinen, um mit ganzen Rüstkammern von Waffen da¬ gegen zu Felde zu ziehen, Rüstkammern, in denen sich neben blanken Schwertern von feinem Schliff auch rostige Keulen und Partisanen, ja selbst die Dresch¬ flegel aus deu Tagen der Hussiteuzüge und der Bauernempörungen vorfinden. Folgt man mit Aufmerksamkeit den geschichtlichen Darstellungen des Verfassers, so nimmt man wahr, daß seine .Kritik nach jedem Rüstzeug greift, was je gegen die Selbstüberhebung, die innere Unwahrheit, die Zerfahrenheit und gelegent¬ liche Unsittlichkeit der Humanisten, der neulateinischeu Dichter geschmiedet worden ist, daß er ihre» Nachfahren, den Neuhumanisten, seit Hemsterhuis und Ruhnken, mit starkem kritischen Mißtrauen gegenübersteht, daß er jederzeit bereit ist, den Gegnern der von ihm befehdeten mehr Glauben zu schenken als deu angegriffnen selbst. „Fragen wir, schreibt er über die Reihe hervor¬ ragender Altertumsforscher, die von Gesner und Ernesti bis zu Heyne und Winckelmann reicht, nach ihrer Auffassung des Altertums selbst, so leuchtet ein, daß das, was wir anfaugs als Fortschritt erkannten, die Erhebung über deu Kleinigkeitsgeist, zugleich verhängnisvoll wurde, insbesondre für die Schulen. Wurden die Altertumsstndien mit Energie wieder aufgenommen, so konnte es nicht ausbleiben, daß auch von dieser Seite her die Melanchthon-Stnrmsche

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219001/82>, abgerufen am 16.06.2024.