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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr.

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Wandlungen des Ich im Zeitenstrome

davon, wenn die Dogmatik von der Moral getrennt wird? Allgemeines Still¬
schweige". "Na, da sein wer so weit!" antwortete er endlich selbst, halb
weinend. Keine üble Antwort, wird mancher sagen; "sein mer" nicht wirklich
so weit?

Katholische Philosophie lehrte der Güntherianer Elvenich, sehr gründlich,
sehr klar und verständlich und ein wenig langweilig; ich habe keine seiner
Stunden versäumt. Braniß, sein evangelischer Kollege, hatte einen glänzenden
Vortrag und großen Zulauf; ich habe ein- oder etlichemale bei ihm hospitirt,
fühlte mich aber nicht angezogen. Die deutsche Litteratur, die mich auf dem
Gymnasium längere Zeit hindurch beinahe ausschließlich beschäftigt hatte, wollte
ich doch nicht ganz vernachlässigen, aber nicht zu den Klassikern führte mich
meine damalige Richtung -- die stets überfüllten Vorlesungen des Professor K.
über Goethes Faust kamen mir wie hohles Geschwätz vor --, sondern ins
Mittelalter. Ich hörte die Vorlesungen Heinrich Rückerts über Walther von
der Vogelweide und über Wolframs Parzival. H. Rückert, ein Sohn des be¬
rühmten Friedrich Rückert, gehört zu den erfolgärmsten aller Menschen. Er
war ein Mann von gründlichem Wissen und reich an selbständigen Gedanken,
aber von seinen historischen und literarhistorischen Werken hat sich, soviel ich
weiß, keines Bahn gebrochen; er mußte es als ein Glück ansehen, daß er in
mittlern Jahren vom Privatdozenten zum Extraordinarius aufstieg und vier¬
hundert Thaler Gehalt bekam, und Kollegicnhvuvrar nahm er damals, von
1852 bis 1855, so gut wie gar nicht ein; viel besser scheint es ihm später
auch nicht gegangen zu sein. Er war von großer Statur, aber hager, schwäch¬
lich und kränklich, und harte Entbehrungen sind kein Stärkungsmittel. Als
ihn 1875 der Tod von der Qual des Daseins erlöst hatte, brachte die Schle-
sische Zeitung einen Nekrolog, aus dem ich mir gemerkt habe, daß er mit
seiner Frau eine Hochzeitsreise gemacht hat -- zu Fuß. Für die beiden Kol¬
legien, die ich bei ihm gehört habe, hatten sich drei oder vier Studenten ein¬
geschrieben, aber nur zwei kamen regelmüßig, ich und noch einer. Ich war
jedesmal in Todesangst, wenn mein Kamerad etwas spät kam, der Gedanke,
daß sich der arme Rückert meiner einzelnen lumpigen Person wegen abmühen
sollte, was das einemal thatsächlich geschah, war mir gräßlich, und alle die
Stunden hindurch wurde ich die Empfindung des Druckes nicht los, den er
selbst empfunden haben muß.




Wandlungen des Ich im Zeitenstrome

davon, wenn die Dogmatik von der Moral getrennt wird? Allgemeines Still¬
schweige». „Na, da sein wer so weit!" antwortete er endlich selbst, halb
weinend. Keine üble Antwort, wird mancher sagen; „sein mer" nicht wirklich
so weit?

Katholische Philosophie lehrte der Güntherianer Elvenich, sehr gründlich,
sehr klar und verständlich und ein wenig langweilig; ich habe keine seiner
Stunden versäumt. Braniß, sein evangelischer Kollege, hatte einen glänzenden
Vortrag und großen Zulauf; ich habe ein- oder etlichemale bei ihm hospitirt,
fühlte mich aber nicht angezogen. Die deutsche Litteratur, die mich auf dem
Gymnasium längere Zeit hindurch beinahe ausschließlich beschäftigt hatte, wollte
ich doch nicht ganz vernachlässigen, aber nicht zu den Klassikern führte mich
meine damalige Richtung — die stets überfüllten Vorlesungen des Professor K.
über Goethes Faust kamen mir wie hohles Geschwätz vor —, sondern ins
Mittelalter. Ich hörte die Vorlesungen Heinrich Rückerts über Walther von
der Vogelweide und über Wolframs Parzival. H. Rückert, ein Sohn des be¬
rühmten Friedrich Rückert, gehört zu den erfolgärmsten aller Menschen. Er
war ein Mann von gründlichem Wissen und reich an selbständigen Gedanken,
aber von seinen historischen und literarhistorischen Werken hat sich, soviel ich
weiß, keines Bahn gebrochen; er mußte es als ein Glück ansehen, daß er in
mittlern Jahren vom Privatdozenten zum Extraordinarius aufstieg und vier¬
hundert Thaler Gehalt bekam, und Kollegicnhvuvrar nahm er damals, von
1852 bis 1855, so gut wie gar nicht ein; viel besser scheint es ihm später
auch nicht gegangen zu sein. Er war von großer Statur, aber hager, schwäch¬
lich und kränklich, und harte Entbehrungen sind kein Stärkungsmittel. Als
ihn 1875 der Tod von der Qual des Daseins erlöst hatte, brachte die Schle-
sische Zeitung einen Nekrolog, aus dem ich mir gemerkt habe, daß er mit
seiner Frau eine Hochzeitsreise gemacht hat — zu Fuß. Für die beiden Kol¬
legien, die ich bei ihm gehört habe, hatten sich drei oder vier Studenten ein¬
geschrieben, aber nur zwei kamen regelmüßig, ich und noch einer. Ich war
jedesmal in Todesangst, wenn mein Kamerad etwas spät kam, der Gedanke,
daß sich der arme Rückert meiner einzelnen lumpigen Person wegen abmühen
sollte, was das einemal thatsächlich geschah, war mir gräßlich, und alle die
Stunden hindurch wurde ich die Empfindung des Druckes nicht los, den er
selbst empfunden haben muß.




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[0095] Wandlungen des Ich im Zeitenstrome davon, wenn die Dogmatik von der Moral getrennt wird? Allgemeines Still¬ schweige». „Na, da sein wer so weit!" antwortete er endlich selbst, halb weinend. Keine üble Antwort, wird mancher sagen; „sein mer" nicht wirklich so weit? Katholische Philosophie lehrte der Güntherianer Elvenich, sehr gründlich, sehr klar und verständlich und ein wenig langweilig; ich habe keine seiner Stunden versäumt. Braniß, sein evangelischer Kollege, hatte einen glänzenden Vortrag und großen Zulauf; ich habe ein- oder etlichemale bei ihm hospitirt, fühlte mich aber nicht angezogen. Die deutsche Litteratur, die mich auf dem Gymnasium längere Zeit hindurch beinahe ausschließlich beschäftigt hatte, wollte ich doch nicht ganz vernachlässigen, aber nicht zu den Klassikern führte mich meine damalige Richtung — die stets überfüllten Vorlesungen des Professor K. über Goethes Faust kamen mir wie hohles Geschwätz vor —, sondern ins Mittelalter. Ich hörte die Vorlesungen Heinrich Rückerts über Walther von der Vogelweide und über Wolframs Parzival. H. Rückert, ein Sohn des be¬ rühmten Friedrich Rückert, gehört zu den erfolgärmsten aller Menschen. Er war ein Mann von gründlichem Wissen und reich an selbständigen Gedanken, aber von seinen historischen und literarhistorischen Werken hat sich, soviel ich weiß, keines Bahn gebrochen; er mußte es als ein Glück ansehen, daß er in mittlern Jahren vom Privatdozenten zum Extraordinarius aufstieg und vier¬ hundert Thaler Gehalt bekam, und Kollegicnhvuvrar nahm er damals, von 1852 bis 1855, so gut wie gar nicht ein; viel besser scheint es ihm später auch nicht gegangen zu sein. Er war von großer Statur, aber hager, schwäch¬ lich und kränklich, und harte Entbehrungen sind kein Stärkungsmittel. Als ihn 1875 der Tod von der Qual des Daseins erlöst hatte, brachte die Schle- sische Zeitung einen Nekrolog, aus dem ich mir gemerkt habe, daß er mit seiner Frau eine Hochzeitsreise gemacht hat — zu Fuß. Für die beiden Kol¬ legien, die ich bei ihm gehört habe, hatten sich drei oder vier Studenten ein¬ geschrieben, aber nur zwei kamen regelmüßig, ich und noch einer. Ich war jedesmal in Todesangst, wenn mein Kamerad etwas spät kam, der Gedanke, daß sich der arme Rückert meiner einzelnen lumpigen Person wegen abmühen sollte, was das einemal thatsächlich geschah, war mir gräßlich, und alle die Stunden hindurch wurde ich die Empfindung des Druckes nicht los, den er selbst empfunden haben muß.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219001/95>, abgerufen am 11.05.2024.