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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr.

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Wandlungen des Ich im Zeitenstrome

Systeme, die ich damals für reinen Unsinn hielt, zu verstehen glaube. Ob ich
den Preis bekommen hätte, wenn ich der einzige Bearbeiter gewesen wäre,
kann niemand wissen; aber ich hatte einen Konkurrenten, der die Sache besser
gemacht hat, und so konnte ich ihn natürlich nicht bekommen. Mein Freund
K--r meinte: "Das hätte ich dir voraussagen können; was bei Preisansgaben
und Dissertationen verlangt wird, aus zehn Büchern das elfte machen, kriegt
keiner von uus Glätzern fertig." Er hätte noch hinzufügen können, daß keiner
von uns ein cieeronicmisches Latein aufbrachte.

Einen Begriff davon, wie die neutestamentliche Exegese behandelt werden
könne und solle, brachte uns der Konviktsprüfekt Stern bei, der als Privat-
dozent (oder Extraordinarius, was ich nicht mehr genau weiß) ein paar Kol¬
legien über kleinere Schriften des Neuen Testaments las. Stern war ein
Mann von umfassenden und gründlichen Kenntnissen, beherrschte auch das alt-
testamentliche Gebiet, wenn er anch neben Movers nicht darin aufkommen
konnte, und fesselte durch schönen, geistvollen Vortrag. Leider hinderte ihn
Krankheit am regelmäßige!! Lesen und machte kurze Zeit nachher den noch
jungen Mann ganz unfähig für seinen Beruf.

Die praktischen Kollegien: Kirchen- und Eherecht, Pastoraltheologie, Ho¬
miletik, Pädagogik und Katechetik schwärzte ich grundsätzlich, weil ich sah, daß
in den drei Jahren das Theoretische kaum zu bewältigen sei, und meinte, das
Praktische werde man wohl im Alumnat und in der Praxis lernen. Das
Kirchenrecht habe ich gar nicht, das Eherecht, das ab und zu mit einer saf¬
tigen Anekdote gewürzt wurde, nur ein einzigesmal besucht; in das Kolleg des
Pastomltheolvgen, Homiletikers und Pädagogen P. bin ich nnr am Schluß
ein paarmal gegangen, um es mir testiren zu lassen, obwohl der Man" sehr
hübsch las oder vielmehr sprach, denn er war ein Gemütsmensch, der immer
aus überquellendem Herzen redete und dabei oft zu Thränen gerührt wurde.
Er gehörte zu den seltnen Ausnahmemenschen, die das thun, was sie andern
lehren, und hat sich durch Wohlthätigkeit zu Grnnde gerichtet. Die erste Ge¬
legenheit, mit ihm in nähere Berührung zu komme", war für mich zugleich
die letzte, nämlich das Konknrsexamen. Es ist nicht angenehm, einem Exami¬
nator unter die Augen treten zu müssen, dessen Vorlesungen man so gründlich
geschwänzt hat, daß er einen nicht kennt; aber gefährlich war die Sache nicht
bei P., denn etwas schlimmeres kann einem doch nicht begegnen, als daß man
nichts weiß, und dieses schlimmste begegnete bei ihm gewöhnlich allen, auch
seinen eifrigsten Zuhörern. Er war nämlich ganz unfähig, beantwortbare
Fragen zu stellen. So fragte er z. B. das einemal: Was findet der Pfarrer
vor, wenn er in die Gemeinde kommt? Er bekam darauf eine Menge Ant¬
worten: die Gemeinde, den Kirchenvorstand, eine oder mehrere Kirchen, eine
Widmut, die Kirchlasse u. s. w. Das war aber alles nichts; die Antwort, die
er wollte, lautete: die Taufgnade. Ein andermal fragte er: Was ist die Folge


Wandlungen des Ich im Zeitenstrome

Systeme, die ich damals für reinen Unsinn hielt, zu verstehen glaube. Ob ich
den Preis bekommen hätte, wenn ich der einzige Bearbeiter gewesen wäre,
kann niemand wissen; aber ich hatte einen Konkurrenten, der die Sache besser
gemacht hat, und so konnte ich ihn natürlich nicht bekommen. Mein Freund
K—r meinte: „Das hätte ich dir voraussagen können; was bei Preisansgaben
und Dissertationen verlangt wird, aus zehn Büchern das elfte machen, kriegt
keiner von uus Glätzern fertig." Er hätte noch hinzufügen können, daß keiner
von uns ein cieeronicmisches Latein aufbrachte.

Einen Begriff davon, wie die neutestamentliche Exegese behandelt werden
könne und solle, brachte uns der Konviktsprüfekt Stern bei, der als Privat-
dozent (oder Extraordinarius, was ich nicht mehr genau weiß) ein paar Kol¬
legien über kleinere Schriften des Neuen Testaments las. Stern war ein
Mann von umfassenden und gründlichen Kenntnissen, beherrschte auch das alt-
testamentliche Gebiet, wenn er anch neben Movers nicht darin aufkommen
konnte, und fesselte durch schönen, geistvollen Vortrag. Leider hinderte ihn
Krankheit am regelmäßige!! Lesen und machte kurze Zeit nachher den noch
jungen Mann ganz unfähig für seinen Beruf.

Die praktischen Kollegien: Kirchen- und Eherecht, Pastoraltheologie, Ho¬
miletik, Pädagogik und Katechetik schwärzte ich grundsätzlich, weil ich sah, daß
in den drei Jahren das Theoretische kaum zu bewältigen sei, und meinte, das
Praktische werde man wohl im Alumnat und in der Praxis lernen. Das
Kirchenrecht habe ich gar nicht, das Eherecht, das ab und zu mit einer saf¬
tigen Anekdote gewürzt wurde, nur ein einzigesmal besucht; in das Kolleg des
Pastomltheolvgen, Homiletikers und Pädagogen P. bin ich nnr am Schluß
ein paarmal gegangen, um es mir testiren zu lassen, obwohl der Man» sehr
hübsch las oder vielmehr sprach, denn er war ein Gemütsmensch, der immer
aus überquellendem Herzen redete und dabei oft zu Thränen gerührt wurde.
Er gehörte zu den seltnen Ausnahmemenschen, die das thun, was sie andern
lehren, und hat sich durch Wohlthätigkeit zu Grnnde gerichtet. Die erste Ge¬
legenheit, mit ihm in nähere Berührung zu komme», war für mich zugleich
die letzte, nämlich das Konknrsexamen. Es ist nicht angenehm, einem Exami¬
nator unter die Augen treten zu müssen, dessen Vorlesungen man so gründlich
geschwänzt hat, daß er einen nicht kennt; aber gefährlich war die Sache nicht
bei P., denn etwas schlimmeres kann einem doch nicht begegnen, als daß man
nichts weiß, und dieses schlimmste begegnete bei ihm gewöhnlich allen, auch
seinen eifrigsten Zuhörern. Er war nämlich ganz unfähig, beantwortbare
Fragen zu stellen. So fragte er z. B. das einemal: Was findet der Pfarrer
vor, wenn er in die Gemeinde kommt? Er bekam darauf eine Menge Ant¬
worten: die Gemeinde, den Kirchenvorstand, eine oder mehrere Kirchen, eine
Widmut, die Kirchlasse u. s. w. Das war aber alles nichts; die Antwort, die
er wollte, lautete: die Taufgnade. Ein andermal fragte er: Was ist die Folge


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[0094] Wandlungen des Ich im Zeitenstrome Systeme, die ich damals für reinen Unsinn hielt, zu verstehen glaube. Ob ich den Preis bekommen hätte, wenn ich der einzige Bearbeiter gewesen wäre, kann niemand wissen; aber ich hatte einen Konkurrenten, der die Sache besser gemacht hat, und so konnte ich ihn natürlich nicht bekommen. Mein Freund K—r meinte: „Das hätte ich dir voraussagen können; was bei Preisansgaben und Dissertationen verlangt wird, aus zehn Büchern das elfte machen, kriegt keiner von uus Glätzern fertig." Er hätte noch hinzufügen können, daß keiner von uns ein cieeronicmisches Latein aufbrachte. Einen Begriff davon, wie die neutestamentliche Exegese behandelt werden könne und solle, brachte uns der Konviktsprüfekt Stern bei, der als Privat- dozent (oder Extraordinarius, was ich nicht mehr genau weiß) ein paar Kol¬ legien über kleinere Schriften des Neuen Testaments las. Stern war ein Mann von umfassenden und gründlichen Kenntnissen, beherrschte auch das alt- testamentliche Gebiet, wenn er anch neben Movers nicht darin aufkommen konnte, und fesselte durch schönen, geistvollen Vortrag. Leider hinderte ihn Krankheit am regelmäßige!! Lesen und machte kurze Zeit nachher den noch jungen Mann ganz unfähig für seinen Beruf. Die praktischen Kollegien: Kirchen- und Eherecht, Pastoraltheologie, Ho¬ miletik, Pädagogik und Katechetik schwärzte ich grundsätzlich, weil ich sah, daß in den drei Jahren das Theoretische kaum zu bewältigen sei, und meinte, das Praktische werde man wohl im Alumnat und in der Praxis lernen. Das Kirchenrecht habe ich gar nicht, das Eherecht, das ab und zu mit einer saf¬ tigen Anekdote gewürzt wurde, nur ein einzigesmal besucht; in das Kolleg des Pastomltheolvgen, Homiletikers und Pädagogen P. bin ich nnr am Schluß ein paarmal gegangen, um es mir testiren zu lassen, obwohl der Man» sehr hübsch las oder vielmehr sprach, denn er war ein Gemütsmensch, der immer aus überquellendem Herzen redete und dabei oft zu Thränen gerührt wurde. Er gehörte zu den seltnen Ausnahmemenschen, die das thun, was sie andern lehren, und hat sich durch Wohlthätigkeit zu Grnnde gerichtet. Die erste Ge¬ legenheit, mit ihm in nähere Berührung zu komme», war für mich zugleich die letzte, nämlich das Konknrsexamen. Es ist nicht angenehm, einem Exami¬ nator unter die Augen treten zu müssen, dessen Vorlesungen man so gründlich geschwänzt hat, daß er einen nicht kennt; aber gefährlich war die Sache nicht bei P., denn etwas schlimmeres kann einem doch nicht begegnen, als daß man nichts weiß, und dieses schlimmste begegnete bei ihm gewöhnlich allen, auch seinen eifrigsten Zuhörern. Er war nämlich ganz unfähig, beantwortbare Fragen zu stellen. So fragte er z. B. das einemal: Was findet der Pfarrer vor, wenn er in die Gemeinde kommt? Er bekam darauf eine Menge Ant¬ worten: die Gemeinde, den Kirchenvorstand, eine oder mehrere Kirchen, eine Widmut, die Kirchlasse u. s. w. Das war aber alles nichts; die Antwort, die er wollte, lautete: die Taufgnade. Ein andermal fragte er: Was ist die Folge

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219001/94>, abgerufen am 23.05.2024.