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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr.

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Gu Brief Gustav Freytags

Bild des fremd gewordnen, leidenschaftlich verzognen kleinen Gesichts. Nach
zweihundert Schritten war er stehen geblieben in der dumpfen Empfindung
eines unbekannten Schmerzgefühls. In seinen Schläfen hämmerte es; seine
Stirn brannte. Er riß den Hut herunter und wandte sich seitwärts dem
frischen Winde entgegen, der bereits in lebhaftem Stößen dahergefegt kam.
So stand er, in anfangs zerfahrnem, allmählich gespannterem Grübeln auf
demselben Fleck, ohne sich zu rühren. Er wußte nicht, daß ihn von draußen
her, von wo er eben gekommen war, zwei scharfe junge Augen beobachteten.

(Fortsetzung folgt)




Gin Brief Gustav Freytags

meer den Briefen, die sich aus den alten Grenzbotenzeiten erhalten
haben, finden wir auch einen von Gustav Freytag, der ein kleines
Bild aus seinem Siebleber Aufenthalt giebt -- er hatte ein Jahr
vorher sein dortiges Landhaus erworben
.
In diesen Tagen, wo an Freytags Grabe viele Erinnerungen
um vergangne Zeiten wach geworden sind, blicken auch wir gern über

das zurück, was die Grenzboten von ihrem frühern Herausgeber getrennt hat.
Der Brief zeigt das freundschaftliche Verhältnis, in dem damals Herausgeber und
Verleger zu einander standen, und lautet:

, 1. Juni 52


Lieber Grunow!

Sie verstehen es, Ihre Freunde warten zu lassen. Wissen Sie, daß Sie
schuld sind, wenn ich hier ein ganz wilder nucivilisirtcr Mensch werde, der nichts
Höheres kennt, als Vogelnester ausnehmen und Maikäfer fangen! Sie haben mir
bis jetzt die Grenzboten vorenthalten und mich in die verzweifelte Lage versetzt,
daß ich gar nicht mehr weiß, wohin die Weltgeschichte in den letzten 8 Tagen
gerückt ist. Ich bitte Sie also dringend, ja ich beschwöre Sie bei Plutos Haupt
und Ohren, senden Sie mir die letzten 4 Nummern der Grenzboten so schleunig
als möglich, und fortan regelmäßig nnter Kreuzband. Ich lese auch keine andere
Zeitung als das Gvthnische Tageblatt und bin deshalb wirklich in einer verzweifelten
politischen Lage.

Sonst ist es schön hier, wie jetzt überall in der Natur. Eine allerliebste
Banmblüthe, etwas blaue Berge und gutmüthige Menschen haben die Existenz leicht
gemacht. Von der Stadt Gotha habe ich bis jetzt sehr wenig gesehen, sie ist ein
kleiner Gernegroß unter den thüringischen Städten, und die Leute bauen so viele
neue Häuser, daß es gar keine Menschen mehr giebt, welche hineinziehen wollen.
Die Miethen sind deshalb hier merkwürdig billig, für 10V Thaler bekommt man
ein ganzes Haus, und 200 Thaler zahlt hier in Gotha, glaube ich, Niemand, so
groß ist gar kein Quartier.

Was mir hier sehr fehlt, ist die Turnstunde. Ich lasse mir eine Hängeleiter
zwischen 2 Bäume nageln, das ist alles, was ich hier aufdringe. Wenn Sie
mich im Sommer besuchen, wie ich voraussetze, so will ich Ihnen vorhängen, daß


Gu Brief Gustav Freytags

Bild des fremd gewordnen, leidenschaftlich verzognen kleinen Gesichts. Nach
zweihundert Schritten war er stehen geblieben in der dumpfen Empfindung
eines unbekannten Schmerzgefühls. In seinen Schläfen hämmerte es; seine
Stirn brannte. Er riß den Hut herunter und wandte sich seitwärts dem
frischen Winde entgegen, der bereits in lebhaftem Stößen dahergefegt kam.
So stand er, in anfangs zerfahrnem, allmählich gespannterem Grübeln auf
demselben Fleck, ohne sich zu rühren. Er wußte nicht, daß ihn von draußen
her, von wo er eben gekommen war, zwei scharfe junge Augen beobachteten.

(Fortsetzung folgt)




Gin Brief Gustav Freytags

meer den Briefen, die sich aus den alten Grenzbotenzeiten erhalten
haben, finden wir auch einen von Gustav Freytag, der ein kleines
Bild aus seinem Siebleber Aufenthalt giebt — er hatte ein Jahr
vorher sein dortiges Landhaus erworben
.
In diesen Tagen, wo an Freytags Grabe viele Erinnerungen
um vergangne Zeiten wach geworden sind, blicken auch wir gern über

das zurück, was die Grenzboten von ihrem frühern Herausgeber getrennt hat.
Der Brief zeigt das freundschaftliche Verhältnis, in dem damals Herausgeber und
Verleger zu einander standen, und lautet:

, 1. Juni 52


Lieber Grunow!

Sie verstehen es, Ihre Freunde warten zu lassen. Wissen Sie, daß Sie
schuld sind, wenn ich hier ein ganz wilder nucivilisirtcr Mensch werde, der nichts
Höheres kennt, als Vogelnester ausnehmen und Maikäfer fangen! Sie haben mir
bis jetzt die Grenzboten vorenthalten und mich in die verzweifelte Lage versetzt,
daß ich gar nicht mehr weiß, wohin die Weltgeschichte in den letzten 8 Tagen
gerückt ist. Ich bitte Sie also dringend, ja ich beschwöre Sie bei Plutos Haupt
und Ohren, senden Sie mir die letzten 4 Nummern der Grenzboten so schleunig
als möglich, und fortan regelmäßig nnter Kreuzband. Ich lese auch keine andere
Zeitung als das Gvthnische Tageblatt und bin deshalb wirklich in einer verzweifelten
politischen Lage.

Sonst ist es schön hier, wie jetzt überall in der Natur. Eine allerliebste
Banmblüthe, etwas blaue Berge und gutmüthige Menschen haben die Existenz leicht
gemacht. Von der Stadt Gotha habe ich bis jetzt sehr wenig gesehen, sie ist ein
kleiner Gernegroß unter den thüringischen Städten, und die Leute bauen so viele
neue Häuser, daß es gar keine Menschen mehr giebt, welche hineinziehen wollen.
Die Miethen sind deshalb hier merkwürdig billig, für 10V Thaler bekommt man
ein ganzes Haus, und 200 Thaler zahlt hier in Gotha, glaube ich, Niemand, so
groß ist gar kein Quartier.

Was mir hier sehr fehlt, ist die Turnstunde. Ich lasse mir eine Hängeleiter
zwischen 2 Bäume nageln, das ist alles, was ich hier aufdringe. Wenn Sie
mich im Sommer besuchen, wie ich voraussetze, so will ich Ihnen vorhängen, daß


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[0344] Gu Brief Gustav Freytags Bild des fremd gewordnen, leidenschaftlich verzognen kleinen Gesichts. Nach zweihundert Schritten war er stehen geblieben in der dumpfen Empfindung eines unbekannten Schmerzgefühls. In seinen Schläfen hämmerte es; seine Stirn brannte. Er riß den Hut herunter und wandte sich seitwärts dem frischen Winde entgegen, der bereits in lebhaftem Stößen dahergefegt kam. So stand er, in anfangs zerfahrnem, allmählich gespannterem Grübeln auf demselben Fleck, ohne sich zu rühren. Er wußte nicht, daß ihn von draußen her, von wo er eben gekommen war, zwei scharfe junge Augen beobachteten. (Fortsetzung folgt) Gin Brief Gustav Freytags meer den Briefen, die sich aus den alten Grenzbotenzeiten erhalten haben, finden wir auch einen von Gustav Freytag, der ein kleines Bild aus seinem Siebleber Aufenthalt giebt — er hatte ein Jahr vorher sein dortiges Landhaus erworben . In diesen Tagen, wo an Freytags Grabe viele Erinnerungen um vergangne Zeiten wach geworden sind, blicken auch wir gern über das zurück, was die Grenzboten von ihrem frühern Herausgeber getrennt hat. Der Brief zeigt das freundschaftliche Verhältnis, in dem damals Herausgeber und Verleger zu einander standen, und lautet: , 1. Juni 52 Lieber Grunow! Sie verstehen es, Ihre Freunde warten zu lassen. Wissen Sie, daß Sie schuld sind, wenn ich hier ein ganz wilder nucivilisirtcr Mensch werde, der nichts Höheres kennt, als Vogelnester ausnehmen und Maikäfer fangen! Sie haben mir bis jetzt die Grenzboten vorenthalten und mich in die verzweifelte Lage versetzt, daß ich gar nicht mehr weiß, wohin die Weltgeschichte in den letzten 8 Tagen gerückt ist. Ich bitte Sie also dringend, ja ich beschwöre Sie bei Plutos Haupt und Ohren, senden Sie mir die letzten 4 Nummern der Grenzboten so schleunig als möglich, und fortan regelmäßig nnter Kreuzband. Ich lese auch keine andere Zeitung als das Gvthnische Tageblatt und bin deshalb wirklich in einer verzweifelten politischen Lage. Sonst ist es schön hier, wie jetzt überall in der Natur. Eine allerliebste Banmblüthe, etwas blaue Berge und gutmüthige Menschen haben die Existenz leicht gemacht. Von der Stadt Gotha habe ich bis jetzt sehr wenig gesehen, sie ist ein kleiner Gernegroß unter den thüringischen Städten, und die Leute bauen so viele neue Häuser, daß es gar keine Menschen mehr giebt, welche hineinziehen wollen. Die Miethen sind deshalb hier merkwürdig billig, für 10V Thaler bekommt man ein ganzes Haus, und 200 Thaler zahlt hier in Gotha, glaube ich, Niemand, so groß ist gar kein Quartier. Was mir hier sehr fehlt, ist die Turnstunde. Ich lasse mir eine Hängeleiter zwischen 2 Bäume nageln, das ist alles, was ich hier aufdringe. Wenn Sie mich im Sommer besuchen, wie ich voraussetze, so will ich Ihnen vorhängen, daß

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219675/344>, abgerufen am 16.06.2024.