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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Drittes Vierteljahr.

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Allgemeine zweijährige Dienstzeit

noch als eine andre Nation brauchen wir, die so leicht zur Theorie und zur
Überschätzung des "Wissens" geneigten Deutschen, eine Erziehung zum ge¬
sunden Menschenverstande, und als ein geradezu himmelschreiendes Unrecht will
es uns erscheinen, wenn wir sehen, wie Tausenden von jungen Leuten eine
Schulung zu teil wird -- der Name "Erziehung" verdient eine bessere Ver¬
wendung --, die sie in der schönen Absicht, sie zu "gebildeten Menschen" zu
machen, zu oberflächlichen Vielwissern und unleidlichen Dilettanten heranbildet.
Aus welchem Grunde? Sehr häufig aus gar keinem andern, als weil man
doch den Einjährigenschein haben muß! Hier sind natürlich überhaupt keine
erzieherischen Gesichtspunkte mehr maßgebend, selbst der Ehrgeiz, es mit höhern
Gesellschaftsklassen aufzunehmen und auch mit zu den "gebildeten Menschen"
gerechnet zu werden, ist nicht allein entscheidend, sondern der Vater legt sich in
seinem eignen Interesse, und in dem seines Sprößlings die recht einfache Frage
vor: Was ist das billigste: ein Jahr auf meine Kosten, und dann die
Möglichkeit eines raschem Broterwerbs, oder zwei bis drei Jahre, die ja
meist auch noch einen Zuschuß erfordern, und während deren er nicht zum
Verdienst kommt? Natürlich ist an eine Aussicht, die gewonnene Bildung
als Reserveoffizier dem Lande wieder nutzbar zu machen, gar nicht zu denken;
im Gegenteil, sie würde ja wieder mannichfaltige und kostspielige Verpflich¬
tungen auferlegen. Wer es also irgend "leisten" kann, schickt seinen Sohn auf
die Schulen, auf denen der so wertvolle Schein errungen wird, ohne Rücksicht
auf Anlage, ohne ideelle Motive irgend welcher Art, lediglich deshalb, weil
es, wie die Dinge einmal liegen, das billigste und vorteilhafteste ist. Nun ist
die gelehrte Schulung da. Vertrcigts der Säckel noch, so folgen schnell noch
ein paar Gymnasialjahre, und das Abiturientenexamen wird "bestanden" in der¬
selben Absicht, wie der Schein erworben wurde. "Mein Sohn soll das Gym¬
nasium durchmachen -- dann kann er alles werden," ist die zum Dogma ge-
wordne Formel, und unberechenbar das Unrecht, das wir damit unsrer Jugend
und unserm Volke anthun. Wird doch hier nach Gesichtspunkten Verfahren,
die mit "Erziehung" gar nichts mehr zu thun haben. Freilich, auf der Schule
lernen wirs bis zum Überdruß: Non sollolas, sha vit>g,6 -- aber wie viele
unter uns haben das ernste Wort im Leben bestätigt gefunden?

Dem Berechtigungsunwesen -- namentlich der Einrichtung der Einjährig-
Freiwilligen -- stehen unsre Schulen rat- und hilflos gegenüber. Es ist das
Stauwerk, das den breiten Strom unsrer Jugenderziehung hemmt und die
Wasser in einen Sumpf verlaufen läßt. Was Wunder, daß alle Schulreform
dem kreißenden Berge gleicht, aus dem als lächerliche Maus bändereiche "En¬
queten" herausspringen? Hier, bei der Abschaffung des Einjährigenscheins und
in der Folge aller übrigen "Berechtigungen" muß jede Reform einsetzen. Mit
ihr verhallt das tönende Schlagwort der allgemeinen Bildung, das uus nun
lange genug bethört hat, mit ihr fällt die Anbetung der Vielwisfcrei, und die


Allgemeine zweijährige Dienstzeit

noch als eine andre Nation brauchen wir, die so leicht zur Theorie und zur
Überschätzung des „Wissens" geneigten Deutschen, eine Erziehung zum ge¬
sunden Menschenverstande, und als ein geradezu himmelschreiendes Unrecht will
es uns erscheinen, wenn wir sehen, wie Tausenden von jungen Leuten eine
Schulung zu teil wird — der Name „Erziehung" verdient eine bessere Ver¬
wendung —, die sie in der schönen Absicht, sie zu „gebildeten Menschen" zu
machen, zu oberflächlichen Vielwissern und unleidlichen Dilettanten heranbildet.
Aus welchem Grunde? Sehr häufig aus gar keinem andern, als weil man
doch den Einjährigenschein haben muß! Hier sind natürlich überhaupt keine
erzieherischen Gesichtspunkte mehr maßgebend, selbst der Ehrgeiz, es mit höhern
Gesellschaftsklassen aufzunehmen und auch mit zu den „gebildeten Menschen"
gerechnet zu werden, ist nicht allein entscheidend, sondern der Vater legt sich in
seinem eignen Interesse, und in dem seines Sprößlings die recht einfache Frage
vor: Was ist das billigste: ein Jahr auf meine Kosten, und dann die
Möglichkeit eines raschem Broterwerbs, oder zwei bis drei Jahre, die ja
meist auch noch einen Zuschuß erfordern, und während deren er nicht zum
Verdienst kommt? Natürlich ist an eine Aussicht, die gewonnene Bildung
als Reserveoffizier dem Lande wieder nutzbar zu machen, gar nicht zu denken;
im Gegenteil, sie würde ja wieder mannichfaltige und kostspielige Verpflich¬
tungen auferlegen. Wer es also irgend „leisten" kann, schickt seinen Sohn auf
die Schulen, auf denen der so wertvolle Schein errungen wird, ohne Rücksicht
auf Anlage, ohne ideelle Motive irgend welcher Art, lediglich deshalb, weil
es, wie die Dinge einmal liegen, das billigste und vorteilhafteste ist. Nun ist
die gelehrte Schulung da. Vertrcigts der Säckel noch, so folgen schnell noch
ein paar Gymnasialjahre, und das Abiturientenexamen wird „bestanden" in der¬
selben Absicht, wie der Schein erworben wurde. „Mein Sohn soll das Gym¬
nasium durchmachen — dann kann er alles werden," ist die zum Dogma ge-
wordne Formel, und unberechenbar das Unrecht, das wir damit unsrer Jugend
und unserm Volke anthun. Wird doch hier nach Gesichtspunkten Verfahren,
die mit „Erziehung" gar nichts mehr zu thun haben. Freilich, auf der Schule
lernen wirs bis zum Überdruß: Non sollolas, sha vit>g,6 — aber wie viele
unter uns haben das ernste Wort im Leben bestätigt gefunden?

Dem Berechtigungsunwesen — namentlich der Einrichtung der Einjährig-
Freiwilligen — stehen unsre Schulen rat- und hilflos gegenüber. Es ist das
Stauwerk, das den breiten Strom unsrer Jugenderziehung hemmt und die
Wasser in einen Sumpf verlaufen läßt. Was Wunder, daß alle Schulreform
dem kreißenden Berge gleicht, aus dem als lächerliche Maus bändereiche „En¬
queten" herausspringen? Hier, bei der Abschaffung des Einjährigenscheins und
in der Folge aller übrigen „Berechtigungen" muß jede Reform einsetzen. Mit
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[0175] Allgemeine zweijährige Dienstzeit noch als eine andre Nation brauchen wir, die so leicht zur Theorie und zur Überschätzung des „Wissens" geneigten Deutschen, eine Erziehung zum ge¬ sunden Menschenverstande, und als ein geradezu himmelschreiendes Unrecht will es uns erscheinen, wenn wir sehen, wie Tausenden von jungen Leuten eine Schulung zu teil wird — der Name „Erziehung" verdient eine bessere Ver¬ wendung —, die sie in der schönen Absicht, sie zu „gebildeten Menschen" zu machen, zu oberflächlichen Vielwissern und unleidlichen Dilettanten heranbildet. Aus welchem Grunde? Sehr häufig aus gar keinem andern, als weil man doch den Einjährigenschein haben muß! Hier sind natürlich überhaupt keine erzieherischen Gesichtspunkte mehr maßgebend, selbst der Ehrgeiz, es mit höhern Gesellschaftsklassen aufzunehmen und auch mit zu den „gebildeten Menschen" gerechnet zu werden, ist nicht allein entscheidend, sondern der Vater legt sich in seinem eignen Interesse, und in dem seines Sprößlings die recht einfache Frage vor: Was ist das billigste: ein Jahr auf meine Kosten, und dann die Möglichkeit eines raschem Broterwerbs, oder zwei bis drei Jahre, die ja meist auch noch einen Zuschuß erfordern, und während deren er nicht zum Verdienst kommt? Natürlich ist an eine Aussicht, die gewonnene Bildung als Reserveoffizier dem Lande wieder nutzbar zu machen, gar nicht zu denken; im Gegenteil, sie würde ja wieder mannichfaltige und kostspielige Verpflich¬ tungen auferlegen. Wer es also irgend „leisten" kann, schickt seinen Sohn auf die Schulen, auf denen der so wertvolle Schein errungen wird, ohne Rücksicht auf Anlage, ohne ideelle Motive irgend welcher Art, lediglich deshalb, weil es, wie die Dinge einmal liegen, das billigste und vorteilhafteste ist. Nun ist die gelehrte Schulung da. Vertrcigts der Säckel noch, so folgen schnell noch ein paar Gymnasialjahre, und das Abiturientenexamen wird „bestanden" in der¬ selben Absicht, wie der Schein erworben wurde. „Mein Sohn soll das Gym¬ nasium durchmachen — dann kann er alles werden," ist die zum Dogma ge- wordne Formel, und unberechenbar das Unrecht, das wir damit unsrer Jugend und unserm Volke anthun. Wird doch hier nach Gesichtspunkten Verfahren, die mit „Erziehung" gar nichts mehr zu thun haben. Freilich, auf der Schule lernen wirs bis zum Überdruß: Non sollolas, sha vit>g,6 — aber wie viele unter uns haben das ernste Wort im Leben bestätigt gefunden? Dem Berechtigungsunwesen — namentlich der Einrichtung der Einjährig- Freiwilligen — stehen unsre Schulen rat- und hilflos gegenüber. Es ist das Stauwerk, das den breiten Strom unsrer Jugenderziehung hemmt und die Wasser in einen Sumpf verlaufen läßt. Was Wunder, daß alle Schulreform dem kreißenden Berge gleicht, aus dem als lächerliche Maus bändereiche „En¬ queten" herausspringen? Hier, bei der Abschaffung des Einjährigenscheins und in der Folge aller übrigen „Berechtigungen" muß jede Reform einsetzen. Mit ihr verhallt das tönende Schlagwort der allgemeinen Bildung, das uus nun lange genug bethört hat, mit ihr fällt die Anbetung der Vielwisfcrei, und die

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220325/175>, abgerufen am 23.05.2024.