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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Drittes Vierteljahr.

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Allgemeine zweijährige Dienstzeit

Erziehung tritt in ihr Recht, die Erziehung zu geistiger und körperlicher Ge¬
sundheit. Denn jetzt erst wird sich auch die Zeit finden zur Ausbildung des
Körpers in freiem, den Kampf ums Dasein im Spiele wiederspiegelnden Wett¬
streit; man wird begreifen lernen, daß alles in allem genommen der gesunde
Leib noch wertvoller ist als alle geistige Bildung, und daß daher der Ausbil¬
dung des Körpers mindestens die Hälfte der Zeit gewidmet werden muß, die
heute das Höcker über den Büchern verlangt, weil -- es der Schein oder das
Examen erfordert! Man wird ebenso wieder Zeit finden, sich mit den Anlagen
des Einzelnen zu beschäftigen. Die große allgemeine Bildungsmühle, durch
die alles hindurch mußte, ob es mochte, konnte, wollte oder nicht, wird still
stehen und ihre Stelle in einem Museum neben dem Nürnberger Trichter
finden. Wir werden nicht bloß eine Menge von Leuten haben, die von allem
etwas wissen, sondern wir werden vor allen Dingen wieder wahrhaft gebildete
Menschen haben und diese Bildung nicht bloß bei denen suchen, die den Schein
dazu erhalten haben, sondern ebenso gut beim Handwerker, unter den Arbeitern
und im bescheidnen Bürgerhause. Wahrlich ein Preis, um den die Vergünstigung
von zwanzigtausend jungen Leuten, anstatt zweier Jahre nur eins bei der
Fahne zu bleiben, nicht sonderlich hoch erscheint. Böte die Abschaffung des
Einjührigenwesens keinen andern als nur diesen Vorteil, er dürfte schwer
genug in die Wagschale falle", deun was so die Schule gewinnt, trägt tausend¬
fältige Frucht im Leben des Volks.

Aber entspricht denn das heutige Einjährig-Freiwilligenwesen noch seiner
ursprünglichen Absicht und den veränderten Anschauungen? Lehrreich könnten
hier die Bemühungen sein, die andre Nationen gemacht haben, um die bald
vor einem Jahrhundert geschaffne Einrichtung in die eigne Heeresvrganisation
einzufügen, deren Umgestaltung das deutsche Siegesjahr 1870/71 der Welt
klar machte: es ist nicht einer einzigen gelungen, und daß die Ergebnisse bei
uns noch immer befriedigend sind, ist viel weniger ein Grund für die Güte
der Einrichtung, als für die Geschicklichkeit, mit der unser Heer zu arbeiten
versteht. Die jungen "Leute von Bildung, die sich während ihrer Dienstzeit
selbst bekleiden, ausrüsten und verpflegen und die gewonnenen Kenntnisse in
dem vorschriftsmäßigen Umfange dargelegt haben," rekrutirten sich früher in
überwiegender Zahl aus den ziemlich scharf umgrenzten "bessern Ständen,"
durchaus der Klausel des Gesetzes entsprechend, daß "junge Leute von Bil¬
dung" eine Prüfung über ihre "Kenntnisse" ablegen mußten. Kenntnisse und
Bildung waren eben noch zweierlei; Bildung galt als selbstverständlich im
Elternhause erworben; Kenntnisse mußten durch Prüfung dargelegt werden.
Natürlich waren dann solche junge Leute von Bildung und Kenntnissen,
nachdem sie sich auch militärisch als tüchtig erwiesen hatten, das Material für
den Reserve- und Landwehroffizier; entsprachen sie doch der richtigen Er¬
kenntnis, daß zum Offizier ein ganzer Mann gehört, der nicht bloß Kennt-


Allgemeine zweijährige Dienstzeit

Erziehung tritt in ihr Recht, die Erziehung zu geistiger und körperlicher Ge¬
sundheit. Denn jetzt erst wird sich auch die Zeit finden zur Ausbildung des
Körpers in freiem, den Kampf ums Dasein im Spiele wiederspiegelnden Wett¬
streit; man wird begreifen lernen, daß alles in allem genommen der gesunde
Leib noch wertvoller ist als alle geistige Bildung, und daß daher der Ausbil¬
dung des Körpers mindestens die Hälfte der Zeit gewidmet werden muß, die
heute das Höcker über den Büchern verlangt, weil — es der Schein oder das
Examen erfordert! Man wird ebenso wieder Zeit finden, sich mit den Anlagen
des Einzelnen zu beschäftigen. Die große allgemeine Bildungsmühle, durch
die alles hindurch mußte, ob es mochte, konnte, wollte oder nicht, wird still
stehen und ihre Stelle in einem Museum neben dem Nürnberger Trichter
finden. Wir werden nicht bloß eine Menge von Leuten haben, die von allem
etwas wissen, sondern wir werden vor allen Dingen wieder wahrhaft gebildete
Menschen haben und diese Bildung nicht bloß bei denen suchen, die den Schein
dazu erhalten haben, sondern ebenso gut beim Handwerker, unter den Arbeitern
und im bescheidnen Bürgerhause. Wahrlich ein Preis, um den die Vergünstigung
von zwanzigtausend jungen Leuten, anstatt zweier Jahre nur eins bei der
Fahne zu bleiben, nicht sonderlich hoch erscheint. Böte die Abschaffung des
Einjührigenwesens keinen andern als nur diesen Vorteil, er dürfte schwer
genug in die Wagschale falle», deun was so die Schule gewinnt, trägt tausend¬
fältige Frucht im Leben des Volks.

Aber entspricht denn das heutige Einjährig-Freiwilligenwesen noch seiner
ursprünglichen Absicht und den veränderten Anschauungen? Lehrreich könnten
hier die Bemühungen sein, die andre Nationen gemacht haben, um die bald
vor einem Jahrhundert geschaffne Einrichtung in die eigne Heeresvrganisation
einzufügen, deren Umgestaltung das deutsche Siegesjahr 1870/71 der Welt
klar machte: es ist nicht einer einzigen gelungen, und daß die Ergebnisse bei
uns noch immer befriedigend sind, ist viel weniger ein Grund für die Güte
der Einrichtung, als für die Geschicklichkeit, mit der unser Heer zu arbeiten
versteht. Die jungen „Leute von Bildung, die sich während ihrer Dienstzeit
selbst bekleiden, ausrüsten und verpflegen und die gewonnenen Kenntnisse in
dem vorschriftsmäßigen Umfange dargelegt haben," rekrutirten sich früher in
überwiegender Zahl aus den ziemlich scharf umgrenzten „bessern Ständen,"
durchaus der Klausel des Gesetzes entsprechend, daß „junge Leute von Bil¬
dung" eine Prüfung über ihre „Kenntnisse" ablegen mußten. Kenntnisse und
Bildung waren eben noch zweierlei; Bildung galt als selbstverständlich im
Elternhause erworben; Kenntnisse mußten durch Prüfung dargelegt werden.
Natürlich waren dann solche junge Leute von Bildung und Kenntnissen,
nachdem sie sich auch militärisch als tüchtig erwiesen hatten, das Material für
den Reserve- und Landwehroffizier; entsprachen sie doch der richtigen Er¬
kenntnis, daß zum Offizier ein ganzer Mann gehört, der nicht bloß Kennt-


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[0176] Allgemeine zweijährige Dienstzeit Erziehung tritt in ihr Recht, die Erziehung zu geistiger und körperlicher Ge¬ sundheit. Denn jetzt erst wird sich auch die Zeit finden zur Ausbildung des Körpers in freiem, den Kampf ums Dasein im Spiele wiederspiegelnden Wett¬ streit; man wird begreifen lernen, daß alles in allem genommen der gesunde Leib noch wertvoller ist als alle geistige Bildung, und daß daher der Ausbil¬ dung des Körpers mindestens die Hälfte der Zeit gewidmet werden muß, die heute das Höcker über den Büchern verlangt, weil — es der Schein oder das Examen erfordert! Man wird ebenso wieder Zeit finden, sich mit den Anlagen des Einzelnen zu beschäftigen. Die große allgemeine Bildungsmühle, durch die alles hindurch mußte, ob es mochte, konnte, wollte oder nicht, wird still stehen und ihre Stelle in einem Museum neben dem Nürnberger Trichter finden. Wir werden nicht bloß eine Menge von Leuten haben, die von allem etwas wissen, sondern wir werden vor allen Dingen wieder wahrhaft gebildete Menschen haben und diese Bildung nicht bloß bei denen suchen, die den Schein dazu erhalten haben, sondern ebenso gut beim Handwerker, unter den Arbeitern und im bescheidnen Bürgerhause. Wahrlich ein Preis, um den die Vergünstigung von zwanzigtausend jungen Leuten, anstatt zweier Jahre nur eins bei der Fahne zu bleiben, nicht sonderlich hoch erscheint. Böte die Abschaffung des Einjührigenwesens keinen andern als nur diesen Vorteil, er dürfte schwer genug in die Wagschale falle», deun was so die Schule gewinnt, trägt tausend¬ fältige Frucht im Leben des Volks. Aber entspricht denn das heutige Einjährig-Freiwilligenwesen noch seiner ursprünglichen Absicht und den veränderten Anschauungen? Lehrreich könnten hier die Bemühungen sein, die andre Nationen gemacht haben, um die bald vor einem Jahrhundert geschaffne Einrichtung in die eigne Heeresvrganisation einzufügen, deren Umgestaltung das deutsche Siegesjahr 1870/71 der Welt klar machte: es ist nicht einer einzigen gelungen, und daß die Ergebnisse bei uns noch immer befriedigend sind, ist viel weniger ein Grund für die Güte der Einrichtung, als für die Geschicklichkeit, mit der unser Heer zu arbeiten versteht. Die jungen „Leute von Bildung, die sich während ihrer Dienstzeit selbst bekleiden, ausrüsten und verpflegen und die gewonnenen Kenntnisse in dem vorschriftsmäßigen Umfange dargelegt haben," rekrutirten sich früher in überwiegender Zahl aus den ziemlich scharf umgrenzten „bessern Ständen," durchaus der Klausel des Gesetzes entsprechend, daß „junge Leute von Bil¬ dung" eine Prüfung über ihre „Kenntnisse" ablegen mußten. Kenntnisse und Bildung waren eben noch zweierlei; Bildung galt als selbstverständlich im Elternhause erworben; Kenntnisse mußten durch Prüfung dargelegt werden. Natürlich waren dann solche junge Leute von Bildung und Kenntnissen, nachdem sie sich auch militärisch als tüchtig erwiesen hatten, das Material für den Reserve- und Landwehroffizier; entsprachen sie doch der richtigen Er¬ kenntnis, daß zum Offizier ein ganzer Mann gehört, der nicht bloß Kennt-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220325/176>, abgerufen am 05.06.2024.