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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Drittes Vierteljahr.

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nisse hat, sondern durch seine ganze Lebensführung an eine Gesinnungsart
-- eine "Bildung" -- gewöhnt ist, die zu seiner hohen Aufgabe und Stel¬
lung in richtigem Verhältnis steht. Inzwischen sind die Begriffe Kenntnisse
und Bildung in eins zusammengeflossen: das Examen entscheidet über beide,
und erreicht werden sie bereits nach einer bestimmten Anzahl wohlabgesessener
Schuljahre. Was dem einen recht ist, muß dem andern billig sein, und wie
sollte die Schule, diese demokratischste aller unsrer Einrichtungen, dazu kommen,
einem befähigten jungen Menschen, um dessen innere Gesinnung sie sich außer¬
ordentlich wenig kümmert, den Schein vorzuenthalten, während sie ihn dem
schwer arbeitenden, wohlgesitteten Jüngling "aus guter Familie" zuerkennen
würde? Hängt einmal die Sache vom Schein ab, so bekommt ihn jeder,
der sein Pensum mit Anstand absolvirt hat. Die "Bildung" beschränkt sich
darauf, daß das "Betragen" tadellos gewesen sein muß -- eine Forderung,
die auch Jünglingen mit nicht sonderlich hoher Gesinnungsart leicht zu er¬
füllen gelingt. Thatsächlich ist so heute der "Einjährig-Freiwillige" nur der
Sammelname für alle geworden, die die nötigen Mittel dazu haben, eine
höhere Schule zu besuchen und sich selber zu beköstigen zu dem Zwecke, ein
Jahr statt zwei oder drei zu dienen. Und um diesen ungeheuerlichen Sammel¬
namen in die Welt zu setzen, der dem Berufssoldaten in den meisten Fällen
nichts weniger als willkommen ist, während er unsrer modernen Anschauung
der "gleichen Last für alle Staatsbürger" schnurstracks zuwiderläuft, dazu dient
heutzutage ein großer Teil unsers höhern Schulwesens! Wenn der Zweck
des Einjührigenwesens der war, jungen Leuten von Bildung und Kenntnissen
die Dienstzeit zu verkürzen, andrerseits aber auch aus dieser Bildung, die doch
mittelbar wieder ihren Grund in der elterlichen Arbeit für das Gemeinwohl
hatte, den Vorteil zu ziehen, ans der Zahl ihrer Vertreter die Offiziere der Re¬
serve und Landwehr zu ergänzen, so muß diese Einrichtung von dem Augen¬
blick als überlebt bezeichnet werden, wo die Bedingungen zum Vorrecht nicht
mehr dieselben sind und die gesteckten Ziele nicht mehr erreicht werden. Nun ist
aber infolge des Berechtigungsscheins der Begriff der Bildung ein so sche¬
maticher, ja völlig verkehrter geworden, daß wohl niemand wird behaupten
wollen: der oder jener junge Mann ist ein "Mann von Bildung," weil er
einen Berechtigungsschein dazu hat. Die Beigabe -- der Nachweis von
Kenntnissen -- mußte natürlich im Laufe der Zeit auf den nach militärischen
Gesichtspunkten eingerichteten Schulen zur Hauptsache werden; ein Mensch
kann aber bekanntlich ungeheuer viel wissen und dennoch kein "Mann von
Bildung" sein. Ganz folgerichtig werden daher heutzutage die Einjahrig-
Freiwilligen der Mehrzahl nach überhaupt nicht mehr Reserveoffiziere, sondern
ein großer Teil geht (sogar von Truppenteilen, die in Universitätsstädten
liegen, deren Überzahl von Einjährigen daher Studenten zu sein Pflegen)
ohne jede Beförderung, ein andrer als "Gefreite," ein dritter als Unter-


Grenzboten III 1395 2Z

nisse hat, sondern durch seine ganze Lebensführung an eine Gesinnungsart
— eine „Bildung" — gewöhnt ist, die zu seiner hohen Aufgabe und Stel¬
lung in richtigem Verhältnis steht. Inzwischen sind die Begriffe Kenntnisse
und Bildung in eins zusammengeflossen: das Examen entscheidet über beide,
und erreicht werden sie bereits nach einer bestimmten Anzahl wohlabgesessener
Schuljahre. Was dem einen recht ist, muß dem andern billig sein, und wie
sollte die Schule, diese demokratischste aller unsrer Einrichtungen, dazu kommen,
einem befähigten jungen Menschen, um dessen innere Gesinnung sie sich außer¬
ordentlich wenig kümmert, den Schein vorzuenthalten, während sie ihn dem
schwer arbeitenden, wohlgesitteten Jüngling „aus guter Familie" zuerkennen
würde? Hängt einmal die Sache vom Schein ab, so bekommt ihn jeder,
der sein Pensum mit Anstand absolvirt hat. Die „Bildung" beschränkt sich
darauf, daß das „Betragen" tadellos gewesen sein muß — eine Forderung,
die auch Jünglingen mit nicht sonderlich hoher Gesinnungsart leicht zu er¬
füllen gelingt. Thatsächlich ist so heute der „Einjährig-Freiwillige" nur der
Sammelname für alle geworden, die die nötigen Mittel dazu haben, eine
höhere Schule zu besuchen und sich selber zu beköstigen zu dem Zwecke, ein
Jahr statt zwei oder drei zu dienen. Und um diesen ungeheuerlichen Sammel¬
namen in die Welt zu setzen, der dem Berufssoldaten in den meisten Fällen
nichts weniger als willkommen ist, während er unsrer modernen Anschauung
der „gleichen Last für alle Staatsbürger" schnurstracks zuwiderläuft, dazu dient
heutzutage ein großer Teil unsers höhern Schulwesens! Wenn der Zweck
des Einjührigenwesens der war, jungen Leuten von Bildung und Kenntnissen
die Dienstzeit zu verkürzen, andrerseits aber auch aus dieser Bildung, die doch
mittelbar wieder ihren Grund in der elterlichen Arbeit für das Gemeinwohl
hatte, den Vorteil zu ziehen, ans der Zahl ihrer Vertreter die Offiziere der Re¬
serve und Landwehr zu ergänzen, so muß diese Einrichtung von dem Augen¬
blick als überlebt bezeichnet werden, wo die Bedingungen zum Vorrecht nicht
mehr dieselben sind und die gesteckten Ziele nicht mehr erreicht werden. Nun ist
aber infolge des Berechtigungsscheins der Begriff der Bildung ein so sche¬
maticher, ja völlig verkehrter geworden, daß wohl niemand wird behaupten
wollen: der oder jener junge Mann ist ein „Mann von Bildung," weil er
einen Berechtigungsschein dazu hat. Die Beigabe — der Nachweis von
Kenntnissen — mußte natürlich im Laufe der Zeit auf den nach militärischen
Gesichtspunkten eingerichteten Schulen zur Hauptsache werden; ein Mensch
kann aber bekanntlich ungeheuer viel wissen und dennoch kein „Mann von
Bildung" sein. Ganz folgerichtig werden daher heutzutage die Einjahrig-
Freiwilligen der Mehrzahl nach überhaupt nicht mehr Reserveoffiziere, sondern
ein großer Teil geht (sogar von Truppenteilen, die in Universitätsstädten
liegen, deren Überzahl von Einjährigen daher Studenten zu sein Pflegen)
ohne jede Beförderung, ein andrer als „Gefreite," ein dritter als Unter-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220325/177>, abgerufen am 23.05.2024.