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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Drittes Vierteljahr.

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Im Gedenkjahr

uns auch geräuschvolle Feste nicht als die rechte Stätte erschienen sind, natio¬
nales Denken zur Schau zu tragen. Kaiser Wilhelm der Enkel hat vielleicht
niemals verständlicher zur Volksseele gesprochen, als indem er die einst nach
Frankreich getragnen Feldzeichen in diesen Erinnernngstageu mit dem Laub
der deutschen Eichen schmücken hieß. Der böse Taumel der ersten Friedens-
jahre ist unter dem harten Druck der ihm folgenden Zeiten am deutschen
Gemüt ohne dauernden Schaden vorübergegangen, noch haben wir eine ge¬
meinsame Volksmoral, die das Laster wenigstens hindert, sich offen zu spreizen,
die den Prasser und Schlemmer verächtlich erscheinen läßt und die Deutschen
bisher vor der Hybris bewahrt hat.

Nicht dem deutschen Volksgemüt legen wir die beklagenswerte Verwirrung
der innern deutschen Verhältnisse zur Last, wie sie, Gott sei's geklagt, dieses
Jubeljahr ausweist. Die sprichwörtliche deutsche Uneinigkeit hat sich doch sonst
nnr in dem Verhältnis der einzelnen Länder und Stämme, niemals in dem
Verhältnis einzelner Volksschichten zu einander gezeigt. Jener Stammeszwist,
im Grunde doch nur dynastischen Ursprungs, wurde vor fünfundzwanzig Jahren
von der ersten Windsbraut des erwachenden nationalen Zorns wie Spreu hin¬
weggefegt und ist seitdem nie wieder zu Kräften gekommen. Konfessionelle und
soziale Gegensätze waren dem deutschen Volke damals noch so gut wie un¬
bekannt. Zwar ist der inzwischen schwer gestörte konfessionelle Friede heute
äußerlich wieder hergestellt. Um so schärfer und erbitterter aber tobt heute
der soziale Kampf. Dank seinem verbitternden Einfluß ist es leider gewiß,
daß eine Wiederkehr der Tage von Eins heute in Deutschland nicht der gleichen
Einmütigkeit der nationalen Empfindungen begegnen würde. Aber hat man
wirklich den Mut, bei der Gedenkfeier jener Tage einer allgemeinen nationalen
Erhebung zum Kampfe der Deutschen gegen Deutsche aufzurufen? Verträgt
es sich mit unsrer Vaterlandsliebe oder "richtiger ausgedrückt mit der Liebe
des Einzelnen zu seiner Nation und zu seinem Volke, die da ist zuvörderst
achtend, vertrauend, desselben sich freuend, mit der Abstammung daraus sich
ehrend" (Fichte), wenn man gerade heute in greisenhafter Wiederholungen nnr
zur Unterdrückung von Millionen Deutschen, mit der Schärfe des Gesetzes
oder des Schwertes, zu raten weiß? Gewiß, jene Millionen stehen gerade
in diesen Tagen teilnahmlos, ja zum Teil spottend und selbst frech höhnend
zur Seite. Aber haben nicht bis zur Mitte des Jahrhunderts die Herrschenden
den Erinnerungen an die mindestens eben so großen Befreiungskriege ganz
ebenso mißtrauisch und feindselig gegenübergestanden? Erst als sie die Ver¬
söhnung mit ihren Völkern gesucht und gefunden hatten, kehrten für Deutsch¬
land jene großen Tage wieder. Die Sozialdemokraten von heute sind zu
einem guten Teile dieselben treuherzigen, still begeisterten, bis in den Tod
getreuen braven Jungen gerade der untern Klassen, die in dem großen Kampfe
die Bewundrung ihrer Offiziere, der Schrecken ihrer Feinde und der Neid des


Im Gedenkjahr

uns auch geräuschvolle Feste nicht als die rechte Stätte erschienen sind, natio¬
nales Denken zur Schau zu tragen. Kaiser Wilhelm der Enkel hat vielleicht
niemals verständlicher zur Volksseele gesprochen, als indem er die einst nach
Frankreich getragnen Feldzeichen in diesen Erinnernngstageu mit dem Laub
der deutschen Eichen schmücken hieß. Der böse Taumel der ersten Friedens-
jahre ist unter dem harten Druck der ihm folgenden Zeiten am deutschen
Gemüt ohne dauernden Schaden vorübergegangen, noch haben wir eine ge¬
meinsame Volksmoral, die das Laster wenigstens hindert, sich offen zu spreizen,
die den Prasser und Schlemmer verächtlich erscheinen läßt und die Deutschen
bisher vor der Hybris bewahrt hat.

Nicht dem deutschen Volksgemüt legen wir die beklagenswerte Verwirrung
der innern deutschen Verhältnisse zur Last, wie sie, Gott sei's geklagt, dieses
Jubeljahr ausweist. Die sprichwörtliche deutsche Uneinigkeit hat sich doch sonst
nnr in dem Verhältnis der einzelnen Länder und Stämme, niemals in dem
Verhältnis einzelner Volksschichten zu einander gezeigt. Jener Stammeszwist,
im Grunde doch nur dynastischen Ursprungs, wurde vor fünfundzwanzig Jahren
von der ersten Windsbraut des erwachenden nationalen Zorns wie Spreu hin¬
weggefegt und ist seitdem nie wieder zu Kräften gekommen. Konfessionelle und
soziale Gegensätze waren dem deutschen Volke damals noch so gut wie un¬
bekannt. Zwar ist der inzwischen schwer gestörte konfessionelle Friede heute
äußerlich wieder hergestellt. Um so schärfer und erbitterter aber tobt heute
der soziale Kampf. Dank seinem verbitternden Einfluß ist es leider gewiß,
daß eine Wiederkehr der Tage von Eins heute in Deutschland nicht der gleichen
Einmütigkeit der nationalen Empfindungen begegnen würde. Aber hat man
wirklich den Mut, bei der Gedenkfeier jener Tage einer allgemeinen nationalen
Erhebung zum Kampfe der Deutschen gegen Deutsche aufzurufen? Verträgt
es sich mit unsrer Vaterlandsliebe oder „richtiger ausgedrückt mit der Liebe
des Einzelnen zu seiner Nation und zu seinem Volke, die da ist zuvörderst
achtend, vertrauend, desselben sich freuend, mit der Abstammung daraus sich
ehrend" (Fichte), wenn man gerade heute in greisenhafter Wiederholungen nnr
zur Unterdrückung von Millionen Deutschen, mit der Schärfe des Gesetzes
oder des Schwertes, zu raten weiß? Gewiß, jene Millionen stehen gerade
in diesen Tagen teilnahmlos, ja zum Teil spottend und selbst frech höhnend
zur Seite. Aber haben nicht bis zur Mitte des Jahrhunderts die Herrschenden
den Erinnerungen an die mindestens eben so großen Befreiungskriege ganz
ebenso mißtrauisch und feindselig gegenübergestanden? Erst als sie die Ver¬
söhnung mit ihren Völkern gesucht und gefunden hatten, kehrten für Deutsch¬
land jene großen Tage wieder. Die Sozialdemokraten von heute sind zu
einem guten Teile dieselben treuherzigen, still begeisterten, bis in den Tod
getreuen braven Jungen gerade der untern Klassen, die in dem großen Kampfe
die Bewundrung ihrer Offiziere, der Schrecken ihrer Feinde und der Neid des


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[0214] Im Gedenkjahr uns auch geräuschvolle Feste nicht als die rechte Stätte erschienen sind, natio¬ nales Denken zur Schau zu tragen. Kaiser Wilhelm der Enkel hat vielleicht niemals verständlicher zur Volksseele gesprochen, als indem er die einst nach Frankreich getragnen Feldzeichen in diesen Erinnernngstageu mit dem Laub der deutschen Eichen schmücken hieß. Der böse Taumel der ersten Friedens- jahre ist unter dem harten Druck der ihm folgenden Zeiten am deutschen Gemüt ohne dauernden Schaden vorübergegangen, noch haben wir eine ge¬ meinsame Volksmoral, die das Laster wenigstens hindert, sich offen zu spreizen, die den Prasser und Schlemmer verächtlich erscheinen läßt und die Deutschen bisher vor der Hybris bewahrt hat. Nicht dem deutschen Volksgemüt legen wir die beklagenswerte Verwirrung der innern deutschen Verhältnisse zur Last, wie sie, Gott sei's geklagt, dieses Jubeljahr ausweist. Die sprichwörtliche deutsche Uneinigkeit hat sich doch sonst nnr in dem Verhältnis der einzelnen Länder und Stämme, niemals in dem Verhältnis einzelner Volksschichten zu einander gezeigt. Jener Stammeszwist, im Grunde doch nur dynastischen Ursprungs, wurde vor fünfundzwanzig Jahren von der ersten Windsbraut des erwachenden nationalen Zorns wie Spreu hin¬ weggefegt und ist seitdem nie wieder zu Kräften gekommen. Konfessionelle und soziale Gegensätze waren dem deutschen Volke damals noch so gut wie un¬ bekannt. Zwar ist der inzwischen schwer gestörte konfessionelle Friede heute äußerlich wieder hergestellt. Um so schärfer und erbitterter aber tobt heute der soziale Kampf. Dank seinem verbitternden Einfluß ist es leider gewiß, daß eine Wiederkehr der Tage von Eins heute in Deutschland nicht der gleichen Einmütigkeit der nationalen Empfindungen begegnen würde. Aber hat man wirklich den Mut, bei der Gedenkfeier jener Tage einer allgemeinen nationalen Erhebung zum Kampfe der Deutschen gegen Deutsche aufzurufen? Verträgt es sich mit unsrer Vaterlandsliebe oder „richtiger ausgedrückt mit der Liebe des Einzelnen zu seiner Nation und zu seinem Volke, die da ist zuvörderst achtend, vertrauend, desselben sich freuend, mit der Abstammung daraus sich ehrend" (Fichte), wenn man gerade heute in greisenhafter Wiederholungen nnr zur Unterdrückung von Millionen Deutschen, mit der Schärfe des Gesetzes oder des Schwertes, zu raten weiß? Gewiß, jene Millionen stehen gerade in diesen Tagen teilnahmlos, ja zum Teil spottend und selbst frech höhnend zur Seite. Aber haben nicht bis zur Mitte des Jahrhunderts die Herrschenden den Erinnerungen an die mindestens eben so großen Befreiungskriege ganz ebenso mißtrauisch und feindselig gegenübergestanden? Erst als sie die Ver¬ söhnung mit ihren Völkern gesucht und gefunden hatten, kehrten für Deutsch¬ land jene großen Tage wieder. Die Sozialdemokraten von heute sind zu einem guten Teile dieselben treuherzigen, still begeisterten, bis in den Tod getreuen braven Jungen gerade der untern Klassen, die in dem großen Kampfe die Bewundrung ihrer Offiziere, der Schrecken ihrer Feinde und der Neid des

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220325/214>, abgerufen am 13.05.2024.