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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Drittes Vierteljahr.

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Im Gedenkjahr

Dabei ist die thörichte Nachahmungssucht des Deutschen auch nicht um eine"
Grad geringer geworden, sie hat nur den Gegenstand gewechselt: an die
Stelle der Franzvsennachahmnng ist die Engländernachahmung getreten, und
ein guter Teil unsrer Männerwelt, der jungen wie der alten, gesällt sich in
einer mädchenhaft tändelnde" Putzsucht, die wahrlich auch kein Zeichen tieferer
Geistesbildung ist. Erfreulich ist es dagegen, daß in den untern Klassen der
Wert der Wissenschaft heute willig anerkannt wird, daß gerade dort nicht
selten ein Heißhunger nach Bildung herrscht, der, wenn erst die gefährliche
Halbbildung überwunden sein wird, der Nation eine neue Blüte gemeinsamen
Geisteslebens verspricht.

Völlig ausgeblieben ist der Aufschwung leider gerade dort, wo man ihn
nach den großen politischen Erfolgen der Kriegsjahre am sichersten erwartet
hatte, ans dem Gebiete der Kunst. Wir halten es aber mit denen, die in dem
allgemeinen Chaos eher Überfluß als Armut an Gedanken erblicken wollen
und sich der Hoffnung getrosten, daß sich auch diese Gedanken zu Idealen
und die Ideale zu schönen Formen hindurchringen werden.

Wir lassen uns daher auch nicht von Unmut und Kleinmut überwinden,
weil wir des Glaubens leben, daß das deutsche Volksgemüt im Grunde doch
das alte, treue, sinnige und herrliche geblieben ist, das, was fremde Nationen
an den Deutschen glauben bespötteln zu dürfen, weil sie es nie verstanden
haben und niemals verstehen werden, der Quell unsrer Schwäche und doch
auch der ewige Jungbrunnen, aus dem wir die Kraft schöpfen wollen, die im
Schoße der Zukunft unser noch harrende weltgeschichtliche Aufgabe zu lösen.
Gerade darum reden diese Tage der Erinnerung zu uns eine vertraute, ge¬
heimnisvolle und doch gewaltige Sprache. Deutschlands jüngste Heldenthat
tritt klar und lebendig auch denen vor Augen, die sie nicht oder doch nicht
mit vollem Bewußtsein erlebt haben, gerade wie wir ältern in der hoch¬
gehenden Bewegung des Jahres 1870 einen Hauch aus den großen Zeiten
der germanischen Wanderungen, aus der Hohenstaufenzeit, dem Nefvrmcitious-
zeitalter und den Befreiungskriegen zu spüren meinten. Ein Volk, das ins
Feld zog in dem frommen Vertrauen ans die Gerechtigkeit seiner Sache, in
treuer Hingebung an die Männer, die eine gütige Vorsehung gerade damals
um seine Spitze gestellt hatte, ohne Ruhmredigkeit, ohne Selbstüberhebung,
aber auch ohne Zagen und Schwanken, mit dem Entschluß zu siegen oder zu
sterben, und doch ohne hiervon Aufhebens zu machen, ja ohne sich seinen
Humor verkümmern zu lassen -- ein solches Volk von vielen Millionen
Deutschen darf um seine Zukunft nicht bange werden. Es ist ein unbilliges
Verlangen, daß jene Fest- und Feiertagsstimmuug der Nation, in die wir
uus heute wieder^ versenken, auch durch das Werktngslebeu immer hindurch-
lenchteu solle. Wir sind ihr deshalb nicht untreu geworden, wenn wir sie
als etwas Keusches und Heiliges in unsern Herzen geborgen haben, wenn


Im Gedenkjahr

Dabei ist die thörichte Nachahmungssucht des Deutschen auch nicht um eine»
Grad geringer geworden, sie hat nur den Gegenstand gewechselt: an die
Stelle der Franzvsennachahmnng ist die Engländernachahmung getreten, und
ein guter Teil unsrer Männerwelt, der jungen wie der alten, gesällt sich in
einer mädchenhaft tändelnde» Putzsucht, die wahrlich auch kein Zeichen tieferer
Geistesbildung ist. Erfreulich ist es dagegen, daß in den untern Klassen der
Wert der Wissenschaft heute willig anerkannt wird, daß gerade dort nicht
selten ein Heißhunger nach Bildung herrscht, der, wenn erst die gefährliche
Halbbildung überwunden sein wird, der Nation eine neue Blüte gemeinsamen
Geisteslebens verspricht.

Völlig ausgeblieben ist der Aufschwung leider gerade dort, wo man ihn
nach den großen politischen Erfolgen der Kriegsjahre am sichersten erwartet
hatte, ans dem Gebiete der Kunst. Wir halten es aber mit denen, die in dem
allgemeinen Chaos eher Überfluß als Armut an Gedanken erblicken wollen
und sich der Hoffnung getrosten, daß sich auch diese Gedanken zu Idealen
und die Ideale zu schönen Formen hindurchringen werden.

Wir lassen uns daher auch nicht von Unmut und Kleinmut überwinden,
weil wir des Glaubens leben, daß das deutsche Volksgemüt im Grunde doch
das alte, treue, sinnige und herrliche geblieben ist, das, was fremde Nationen
an den Deutschen glauben bespötteln zu dürfen, weil sie es nie verstanden
haben und niemals verstehen werden, der Quell unsrer Schwäche und doch
auch der ewige Jungbrunnen, aus dem wir die Kraft schöpfen wollen, die im
Schoße der Zukunft unser noch harrende weltgeschichtliche Aufgabe zu lösen.
Gerade darum reden diese Tage der Erinnerung zu uns eine vertraute, ge¬
heimnisvolle und doch gewaltige Sprache. Deutschlands jüngste Heldenthat
tritt klar und lebendig auch denen vor Augen, die sie nicht oder doch nicht
mit vollem Bewußtsein erlebt haben, gerade wie wir ältern in der hoch¬
gehenden Bewegung des Jahres 1870 einen Hauch aus den großen Zeiten
der germanischen Wanderungen, aus der Hohenstaufenzeit, dem Nefvrmcitious-
zeitalter und den Befreiungskriegen zu spüren meinten. Ein Volk, das ins
Feld zog in dem frommen Vertrauen ans die Gerechtigkeit seiner Sache, in
treuer Hingebung an die Männer, die eine gütige Vorsehung gerade damals
um seine Spitze gestellt hatte, ohne Ruhmredigkeit, ohne Selbstüberhebung,
aber auch ohne Zagen und Schwanken, mit dem Entschluß zu siegen oder zu
sterben, und doch ohne hiervon Aufhebens zu machen, ja ohne sich seinen
Humor verkümmern zu lassen — ein solches Volk von vielen Millionen
Deutschen darf um seine Zukunft nicht bange werden. Es ist ein unbilliges
Verlangen, daß jene Fest- und Feiertagsstimmuug der Nation, in die wir
uus heute wieder^ versenken, auch durch das Werktngslebeu immer hindurch-
lenchteu solle. Wir sind ihr deshalb nicht untreu geworden, wenn wir sie
als etwas Keusches und Heiliges in unsern Herzen geborgen haben, wenn


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[0213] Im Gedenkjahr Dabei ist die thörichte Nachahmungssucht des Deutschen auch nicht um eine» Grad geringer geworden, sie hat nur den Gegenstand gewechselt: an die Stelle der Franzvsennachahmnng ist die Engländernachahmung getreten, und ein guter Teil unsrer Männerwelt, der jungen wie der alten, gesällt sich in einer mädchenhaft tändelnde» Putzsucht, die wahrlich auch kein Zeichen tieferer Geistesbildung ist. Erfreulich ist es dagegen, daß in den untern Klassen der Wert der Wissenschaft heute willig anerkannt wird, daß gerade dort nicht selten ein Heißhunger nach Bildung herrscht, der, wenn erst die gefährliche Halbbildung überwunden sein wird, der Nation eine neue Blüte gemeinsamen Geisteslebens verspricht. Völlig ausgeblieben ist der Aufschwung leider gerade dort, wo man ihn nach den großen politischen Erfolgen der Kriegsjahre am sichersten erwartet hatte, ans dem Gebiete der Kunst. Wir halten es aber mit denen, die in dem allgemeinen Chaos eher Überfluß als Armut an Gedanken erblicken wollen und sich der Hoffnung getrosten, daß sich auch diese Gedanken zu Idealen und die Ideale zu schönen Formen hindurchringen werden. Wir lassen uns daher auch nicht von Unmut und Kleinmut überwinden, weil wir des Glaubens leben, daß das deutsche Volksgemüt im Grunde doch das alte, treue, sinnige und herrliche geblieben ist, das, was fremde Nationen an den Deutschen glauben bespötteln zu dürfen, weil sie es nie verstanden haben und niemals verstehen werden, der Quell unsrer Schwäche und doch auch der ewige Jungbrunnen, aus dem wir die Kraft schöpfen wollen, die im Schoße der Zukunft unser noch harrende weltgeschichtliche Aufgabe zu lösen. Gerade darum reden diese Tage der Erinnerung zu uns eine vertraute, ge¬ heimnisvolle und doch gewaltige Sprache. Deutschlands jüngste Heldenthat tritt klar und lebendig auch denen vor Augen, die sie nicht oder doch nicht mit vollem Bewußtsein erlebt haben, gerade wie wir ältern in der hoch¬ gehenden Bewegung des Jahres 1870 einen Hauch aus den großen Zeiten der germanischen Wanderungen, aus der Hohenstaufenzeit, dem Nefvrmcitious- zeitalter und den Befreiungskriegen zu spüren meinten. Ein Volk, das ins Feld zog in dem frommen Vertrauen ans die Gerechtigkeit seiner Sache, in treuer Hingebung an die Männer, die eine gütige Vorsehung gerade damals um seine Spitze gestellt hatte, ohne Ruhmredigkeit, ohne Selbstüberhebung, aber auch ohne Zagen und Schwanken, mit dem Entschluß zu siegen oder zu sterben, und doch ohne hiervon Aufhebens zu machen, ja ohne sich seinen Humor verkümmern zu lassen — ein solches Volk von vielen Millionen Deutschen darf um seine Zukunft nicht bange werden. Es ist ein unbilliges Verlangen, daß jene Fest- und Feiertagsstimmuug der Nation, in die wir uus heute wieder^ versenken, auch durch das Werktngslebeu immer hindurch- lenchteu solle. Wir sind ihr deshalb nicht untreu geworden, wenn wir sie als etwas Keusches und Heiliges in unsern Herzen geborgen haben, wenn

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220325/213>, abgerufen am 23.05.2024.