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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Drittes Vierteljahr.

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Neue Novellen

Anschauung und guten Geschmacks gilt, ist der schlechteste Ausweg aus diesem
Labyrinth, der ehrliche Versuch, auch mit verkürzten Maßstäben wenigstens
noch zu messen und die fast erstorbne Urteilsfähigkeit unsrer gebildeten Kreise
wieder zu erwecken, ist bei weitem vorzuziehen. Wenn sich neben zahlreichen
Lesern, die ihre Teilnahme den von uns hervvrgehobnen Erfindungen zuwenden,
einige andre finden, die das, was die Grenzboten ablehnen, von vornherein
für das Rechte halte", so ist ja beiden Teilen geholfen; das Endurteil können
wir ruhig der Zeit überlassen, die in den meisten Fällen nicht einmal eine
sehr ferne Zeit sein wird,

Unter den Erzählern, deren Name uns in den letzten Jahren oft begegnet
ist, ohne daß sich der Eindruck einer bestimmter ausgeprägten künstlerischen
Eigentümlichkeit mit dein Namen verbände, findet sich auch der Verfasser einer
Novellensammlung Trinacria, sizilische Geschichten von Konrad Telmann
(Stuttgart, I. G. Cottasche Buchhandlung, 1895), die lebendigen Eindrücke"
von den: Eilande der Kyklopen und wohl auch ein wenig von den Nachwir¬
kungen der sizilischen Dorfgeschichte" Vergas, des berühmten Verfassers der
"Bauernehre," ihre Entstehung verdanken. Die Neigung des Verfassers geht
entschieden dahin, die gewaltsamen Konflikte und melodramatischen Effekte, die
in. den schlimmen und dunkeln Seiten des sizilinnischen Lebens vorhanden sind,
zu bevorzugen. Denn wenn auch der Titel "Trinacria" an die homerisch-
theokritische Insel erinnert, so sieht doch der moderne Novellist in aller Fülle
und Mannichfaltigkeit Siziliens hauptsächlich die entgegengesetzten Bilder. Die
steilen schwarzen Felsen, an denen schwärzliche Städtchen kleben und "mit ihren
Felslukeu aufs blauer Jouermeer herabstarren," die Bergrücken und Schluchten,
hinter und in denen nach uraltem Herkommen die "Brigcmten" Hausen, die
versteckten Dörfer in wilden, halbangebanten Thälern geben den Hintergrund
für Novellen wie "Blinde Liebe," "Orest," "Die Gattensucherin" und "Santi
Pellegro" ab, in denen allen der Mord eine mehr oder minder entscheidende
Rolle spielt, und in deuen (die Geschichte "Die Gattensucheriu" ausgenommen)
für das Idyll kein Raum ist. Das Sizilien, das wir namentlich durch die
Schilderungen der letzten Erhebungen kennen gelernt haben, das in beständigem,
offnem oder heimlichem Kriege mit dem modernen Staate liegt, giebt die Mo¬
tive zu Erfindungen, von denen namentlich "Blinde Liebe" und "Santi Pellegro"
wie auf einen modernen naturalistischen Operntext zugeschnitten erscheinen. In
der "Blinden Liebe" treibt die Absicht eines jungen deutschen Arztes, einem
schönen, jungen erblindeten Weibe das Augenlicht wiederzugeben, den Gatten
der jungen Frau, der der Mörder ihres Vaters ist, von der Blinden geliebt
wird, aber von der Sehenden augenblicklich wieder erkannt werden würde, in
den Tod; in "Santi Pellegro" erschießt der Held, ein sizilianischer Bauer,
ans grimmiger Eifersucht seinen Nebenbuhler Tito Bonera, läßt eine junge
Witwe einen Meineid für sich leisten, um sein Alibi in der Mordnacht zu er-


Grenzboten III 1U95 28
Neue Novellen

Anschauung und guten Geschmacks gilt, ist der schlechteste Ausweg aus diesem
Labyrinth, der ehrliche Versuch, auch mit verkürzten Maßstäben wenigstens
noch zu messen und die fast erstorbne Urteilsfähigkeit unsrer gebildeten Kreise
wieder zu erwecken, ist bei weitem vorzuziehen. Wenn sich neben zahlreichen
Lesern, die ihre Teilnahme den von uns hervvrgehobnen Erfindungen zuwenden,
einige andre finden, die das, was die Grenzboten ablehnen, von vornherein
für das Rechte halte», so ist ja beiden Teilen geholfen; das Endurteil können
wir ruhig der Zeit überlassen, die in den meisten Fällen nicht einmal eine
sehr ferne Zeit sein wird,

Unter den Erzählern, deren Name uns in den letzten Jahren oft begegnet
ist, ohne daß sich der Eindruck einer bestimmter ausgeprägten künstlerischen
Eigentümlichkeit mit dein Namen verbände, findet sich auch der Verfasser einer
Novellensammlung Trinacria, sizilische Geschichten von Konrad Telmann
(Stuttgart, I. G. Cottasche Buchhandlung, 1895), die lebendigen Eindrücke»
von den: Eilande der Kyklopen und wohl auch ein wenig von den Nachwir¬
kungen der sizilischen Dorfgeschichte» Vergas, des berühmten Verfassers der
„Bauernehre," ihre Entstehung verdanken. Die Neigung des Verfassers geht
entschieden dahin, die gewaltsamen Konflikte und melodramatischen Effekte, die
in. den schlimmen und dunkeln Seiten des sizilinnischen Lebens vorhanden sind,
zu bevorzugen. Denn wenn auch der Titel „Trinacria" an die homerisch-
theokritische Insel erinnert, so sieht doch der moderne Novellist in aller Fülle
und Mannichfaltigkeit Siziliens hauptsächlich die entgegengesetzten Bilder. Die
steilen schwarzen Felsen, an denen schwärzliche Städtchen kleben und „mit ihren
Felslukeu aufs blauer Jouermeer herabstarren," die Bergrücken und Schluchten,
hinter und in denen nach uraltem Herkommen die „Brigcmten" Hausen, die
versteckten Dörfer in wilden, halbangebanten Thälern geben den Hintergrund
für Novellen wie „Blinde Liebe," „Orest," „Die Gattensucherin" und „Santi
Pellegro" ab, in denen allen der Mord eine mehr oder minder entscheidende
Rolle spielt, und in deuen (die Geschichte „Die Gattensucheriu" ausgenommen)
für das Idyll kein Raum ist. Das Sizilien, das wir namentlich durch die
Schilderungen der letzten Erhebungen kennen gelernt haben, das in beständigem,
offnem oder heimlichem Kriege mit dem modernen Staate liegt, giebt die Mo¬
tive zu Erfindungen, von denen namentlich „Blinde Liebe" und „Santi Pellegro"
wie auf einen modernen naturalistischen Operntext zugeschnitten erscheinen. In
der „Blinden Liebe" treibt die Absicht eines jungen deutschen Arztes, einem
schönen, jungen erblindeten Weibe das Augenlicht wiederzugeben, den Gatten
der jungen Frau, der der Mörder ihres Vaters ist, von der Blinden geliebt
wird, aber von der Sehenden augenblicklich wieder erkannt werden würde, in
den Tod; in „Santi Pellegro" erschießt der Held, ein sizilianischer Bauer,
ans grimmiger Eifersucht seinen Nebenbuhler Tito Bonera, läßt eine junge
Witwe einen Meineid für sich leisten, um sein Alibi in der Mordnacht zu er-


Grenzboten III 1U95 28
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[0225] Neue Novellen Anschauung und guten Geschmacks gilt, ist der schlechteste Ausweg aus diesem Labyrinth, der ehrliche Versuch, auch mit verkürzten Maßstäben wenigstens noch zu messen und die fast erstorbne Urteilsfähigkeit unsrer gebildeten Kreise wieder zu erwecken, ist bei weitem vorzuziehen. Wenn sich neben zahlreichen Lesern, die ihre Teilnahme den von uns hervvrgehobnen Erfindungen zuwenden, einige andre finden, die das, was die Grenzboten ablehnen, von vornherein für das Rechte halte», so ist ja beiden Teilen geholfen; das Endurteil können wir ruhig der Zeit überlassen, die in den meisten Fällen nicht einmal eine sehr ferne Zeit sein wird, Unter den Erzählern, deren Name uns in den letzten Jahren oft begegnet ist, ohne daß sich der Eindruck einer bestimmter ausgeprägten künstlerischen Eigentümlichkeit mit dein Namen verbände, findet sich auch der Verfasser einer Novellensammlung Trinacria, sizilische Geschichten von Konrad Telmann (Stuttgart, I. G. Cottasche Buchhandlung, 1895), die lebendigen Eindrücke» von den: Eilande der Kyklopen und wohl auch ein wenig von den Nachwir¬ kungen der sizilischen Dorfgeschichte» Vergas, des berühmten Verfassers der „Bauernehre," ihre Entstehung verdanken. Die Neigung des Verfassers geht entschieden dahin, die gewaltsamen Konflikte und melodramatischen Effekte, die in. den schlimmen und dunkeln Seiten des sizilinnischen Lebens vorhanden sind, zu bevorzugen. Denn wenn auch der Titel „Trinacria" an die homerisch- theokritische Insel erinnert, so sieht doch der moderne Novellist in aller Fülle und Mannichfaltigkeit Siziliens hauptsächlich die entgegengesetzten Bilder. Die steilen schwarzen Felsen, an denen schwärzliche Städtchen kleben und „mit ihren Felslukeu aufs blauer Jouermeer herabstarren," die Bergrücken und Schluchten, hinter und in denen nach uraltem Herkommen die „Brigcmten" Hausen, die versteckten Dörfer in wilden, halbangebanten Thälern geben den Hintergrund für Novellen wie „Blinde Liebe," „Orest," „Die Gattensucherin" und „Santi Pellegro" ab, in denen allen der Mord eine mehr oder minder entscheidende Rolle spielt, und in deuen (die Geschichte „Die Gattensucheriu" ausgenommen) für das Idyll kein Raum ist. Das Sizilien, das wir namentlich durch die Schilderungen der letzten Erhebungen kennen gelernt haben, das in beständigem, offnem oder heimlichem Kriege mit dem modernen Staate liegt, giebt die Mo¬ tive zu Erfindungen, von denen namentlich „Blinde Liebe" und „Santi Pellegro" wie auf einen modernen naturalistischen Operntext zugeschnitten erscheinen. In der „Blinden Liebe" treibt die Absicht eines jungen deutschen Arztes, einem schönen, jungen erblindeten Weibe das Augenlicht wiederzugeben, den Gatten der jungen Frau, der der Mörder ihres Vaters ist, von der Blinden geliebt wird, aber von der Sehenden augenblicklich wieder erkannt werden würde, in den Tod; in „Santi Pellegro" erschießt der Held, ein sizilianischer Bauer, ans grimmiger Eifersucht seinen Nebenbuhler Tito Bonera, läßt eine junge Witwe einen Meineid für sich leisten, um sein Alibi in der Mordnacht zu er- Grenzboten III 1U95 28

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220325/225>, abgerufen am 11.05.2024.