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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Drittes Vierteljahr.

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Beitrag eines deutschen Kolonisten zur Lösung der sozialen Frage

Wird der Leser fragen, was das alles mit dem Thema zu thun habe, über
das ich schreiben wollte. Sehr viel, wie ich nun nachweisen will.

Als ich Deutschland verließ, gab es noch keine deutschen Kolonien; der
erste schwache Anfang zur Kolonialpolitik war durch die deutschen Volks¬
vertreter in der Samoavorlage zurückgewiesen worden. Und doch gährte es
schon damals unter den Proletariern der Reichshauptstadt und vieler großen
Industriestädte Deutschlands.

Die Beendigung des großen deutschen Einigungskrieges hatte viele junge
und kräftige Leute aller Stände, die im Kriege verwundet oder durch Leiden,
die sie sich im Kriege zugezogen hatten, zur Fortsetzung des Militärdienstes
untauglich geworden, im übrigen aber oft noch recht rüstig waren, vor die
Wahl gestellt, mit Hilfe ihrer Pension bis ans Ende ihrer Tage zu vegetiren
oder aber sich einen neuen Lebensberuf zu wählen. Die Zivilbehörden konnten
unmöglich bei der großen Anzahl der Anwärter alle verwenden.

Die aus dem Kriege heimkommenden Studenten kehrten in die Hörsäle,
die Lehrlinge zu ihren Meistern zurück, um die seit ein oder zwei Jahren, bei
den Angehörigen der Okkupationsarmee sogar seit drei Jahren unterbrochner
Studien und Vorbereitungen für einen Lebensberuf wieder aufzunehmen. Daß
die Fortsetzung dieser Studien nach der Zerstreuung des Kriegs und eines
längern Aufenthalts im Feindesland nicht leicht war, zeigte der Erfolg: viele
dieser Leute erreichten ihr Ziel nicht. Man hörte oft Klagen über verfehlten
Lebensberuf, über die Aussichtslosigkeit, eine Selbständigkeit zu erringen, ein
eignes Heim zu begründen. Zu diesen beiden Klassen kamen dann noch die,
die nach der Rückkehr aus Feindesland an dem militärischen Friedensdienste
kein Gefallen mehr fanden. Ihr Mißbehagen nannte man damals scherz¬
weise "Weltschmerz." Wenn man sich auch über den Grund dieses Welt¬
schmerzes nicht immer klar war, so zeigt doch die Militärrangliste jener Jahre
(1871 bis 1875), daß recht viele sich darüber klar wurden, denn man findet
sehr oft die Vermerke: "zu den Reserveoffizieren des xten Bataillons (Land¬
wehr) übergetreten," oder "der Abschied bewilligt," oder "der Abschied behufs
Auswanderung bewilligt."

Was diese drei Klassen fühlten und was ihre Handlungen leitete, das
war nichts andres, als was jetzt die Proletarier bewegt, und was auch mich
bewog, außer Landes zu gehen: der Wunsch, ein eignes Heim auf freier
Scholle zu gründen.

Wenn ich so meine jetzige Lage überblicke, dieses Klima, den Grund und
Boden und seine Fruchtbarkeit, und die großen, unbebauten Flächen, die der
Thätigkeit des Lmidmanns noch warten, so sage ich mir immer: wie viel glück¬
licher sind wir hier in diesem Lande als die Leute, die in kältern Gegenden
leben, wo man sich neun Monate des Jahres nicht wohlfühlt, wenn nicht der
Ofen zum Glühen geheizt wird, wo es Leüte giebt, die nicht wissen, wo sie


Beitrag eines deutschen Kolonisten zur Lösung der sozialen Frage

Wird der Leser fragen, was das alles mit dem Thema zu thun habe, über
das ich schreiben wollte. Sehr viel, wie ich nun nachweisen will.

Als ich Deutschland verließ, gab es noch keine deutschen Kolonien; der
erste schwache Anfang zur Kolonialpolitik war durch die deutschen Volks¬
vertreter in der Samoavorlage zurückgewiesen worden. Und doch gährte es
schon damals unter den Proletariern der Reichshauptstadt und vieler großen
Industriestädte Deutschlands.

Die Beendigung des großen deutschen Einigungskrieges hatte viele junge
und kräftige Leute aller Stände, die im Kriege verwundet oder durch Leiden,
die sie sich im Kriege zugezogen hatten, zur Fortsetzung des Militärdienstes
untauglich geworden, im übrigen aber oft noch recht rüstig waren, vor die
Wahl gestellt, mit Hilfe ihrer Pension bis ans Ende ihrer Tage zu vegetiren
oder aber sich einen neuen Lebensberuf zu wählen. Die Zivilbehörden konnten
unmöglich bei der großen Anzahl der Anwärter alle verwenden.

Die aus dem Kriege heimkommenden Studenten kehrten in die Hörsäle,
die Lehrlinge zu ihren Meistern zurück, um die seit ein oder zwei Jahren, bei
den Angehörigen der Okkupationsarmee sogar seit drei Jahren unterbrochner
Studien und Vorbereitungen für einen Lebensberuf wieder aufzunehmen. Daß
die Fortsetzung dieser Studien nach der Zerstreuung des Kriegs und eines
längern Aufenthalts im Feindesland nicht leicht war, zeigte der Erfolg: viele
dieser Leute erreichten ihr Ziel nicht. Man hörte oft Klagen über verfehlten
Lebensberuf, über die Aussichtslosigkeit, eine Selbständigkeit zu erringen, ein
eignes Heim zu begründen. Zu diesen beiden Klassen kamen dann noch die,
die nach der Rückkehr aus Feindesland an dem militärischen Friedensdienste
kein Gefallen mehr fanden. Ihr Mißbehagen nannte man damals scherz¬
weise „Weltschmerz." Wenn man sich auch über den Grund dieses Welt¬
schmerzes nicht immer klar war, so zeigt doch die Militärrangliste jener Jahre
(1871 bis 1875), daß recht viele sich darüber klar wurden, denn man findet
sehr oft die Vermerke: „zu den Reserveoffizieren des xten Bataillons (Land¬
wehr) übergetreten," oder „der Abschied bewilligt," oder „der Abschied behufs
Auswanderung bewilligt."

Was diese drei Klassen fühlten und was ihre Handlungen leitete, das
war nichts andres, als was jetzt die Proletarier bewegt, und was auch mich
bewog, außer Landes zu gehen: der Wunsch, ein eignes Heim auf freier
Scholle zu gründen.

Wenn ich so meine jetzige Lage überblicke, dieses Klima, den Grund und
Boden und seine Fruchtbarkeit, und die großen, unbebauten Flächen, die der
Thätigkeit des Lmidmanns noch warten, so sage ich mir immer: wie viel glück¬
licher sind wir hier in diesem Lande als die Leute, die in kältern Gegenden
leben, wo man sich neun Monate des Jahres nicht wohlfühlt, wenn nicht der
Ofen zum Glühen geheizt wird, wo es Leüte giebt, die nicht wissen, wo sie


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[0259] Beitrag eines deutschen Kolonisten zur Lösung der sozialen Frage Wird der Leser fragen, was das alles mit dem Thema zu thun habe, über das ich schreiben wollte. Sehr viel, wie ich nun nachweisen will. Als ich Deutschland verließ, gab es noch keine deutschen Kolonien; der erste schwache Anfang zur Kolonialpolitik war durch die deutschen Volks¬ vertreter in der Samoavorlage zurückgewiesen worden. Und doch gährte es schon damals unter den Proletariern der Reichshauptstadt und vieler großen Industriestädte Deutschlands. Die Beendigung des großen deutschen Einigungskrieges hatte viele junge und kräftige Leute aller Stände, die im Kriege verwundet oder durch Leiden, die sie sich im Kriege zugezogen hatten, zur Fortsetzung des Militärdienstes untauglich geworden, im übrigen aber oft noch recht rüstig waren, vor die Wahl gestellt, mit Hilfe ihrer Pension bis ans Ende ihrer Tage zu vegetiren oder aber sich einen neuen Lebensberuf zu wählen. Die Zivilbehörden konnten unmöglich bei der großen Anzahl der Anwärter alle verwenden. Die aus dem Kriege heimkommenden Studenten kehrten in die Hörsäle, die Lehrlinge zu ihren Meistern zurück, um die seit ein oder zwei Jahren, bei den Angehörigen der Okkupationsarmee sogar seit drei Jahren unterbrochner Studien und Vorbereitungen für einen Lebensberuf wieder aufzunehmen. Daß die Fortsetzung dieser Studien nach der Zerstreuung des Kriegs und eines längern Aufenthalts im Feindesland nicht leicht war, zeigte der Erfolg: viele dieser Leute erreichten ihr Ziel nicht. Man hörte oft Klagen über verfehlten Lebensberuf, über die Aussichtslosigkeit, eine Selbständigkeit zu erringen, ein eignes Heim zu begründen. Zu diesen beiden Klassen kamen dann noch die, die nach der Rückkehr aus Feindesland an dem militärischen Friedensdienste kein Gefallen mehr fanden. Ihr Mißbehagen nannte man damals scherz¬ weise „Weltschmerz." Wenn man sich auch über den Grund dieses Welt¬ schmerzes nicht immer klar war, so zeigt doch die Militärrangliste jener Jahre (1871 bis 1875), daß recht viele sich darüber klar wurden, denn man findet sehr oft die Vermerke: „zu den Reserveoffizieren des xten Bataillons (Land¬ wehr) übergetreten," oder „der Abschied bewilligt," oder „der Abschied behufs Auswanderung bewilligt." Was diese drei Klassen fühlten und was ihre Handlungen leitete, das war nichts andres, als was jetzt die Proletarier bewegt, und was auch mich bewog, außer Landes zu gehen: der Wunsch, ein eignes Heim auf freier Scholle zu gründen. Wenn ich so meine jetzige Lage überblicke, dieses Klima, den Grund und Boden und seine Fruchtbarkeit, und die großen, unbebauten Flächen, die der Thätigkeit des Lmidmanns noch warten, so sage ich mir immer: wie viel glück¬ licher sind wir hier in diesem Lande als die Leute, die in kältern Gegenden leben, wo man sich neun Monate des Jahres nicht wohlfühlt, wenn nicht der Ofen zum Glühen geheizt wird, wo es Leüte giebt, die nicht wissen, wo sie

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220325/259>, abgerufen am 16.06.2024.