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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Drittes Vierteljahr.

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Beitrag eines deutschen Kolonisten zur Lösung der sozialen Frage

abends ihr Haupt hinlegen sollen, wo man täglich acht bis zwölf Stunden
(zur Zeit der Heu- und Roggenernte oft sogar sechzehn Stunden) arbeiten
muß, um sein bischen tägliche Nahrung zu verdienen, und ich kann es den
Leuten nicht verdenken, wenn sie, mit den "sozialen Verhältnissen" unzufrieden,
auf deren Abänderung hindrängen -- und je größer das Mißbehagen ist,
desto heftiger wird das Drängen sein --, weil sie ihnen nicht erlauben, sich
ein eignes Heim zu gründen, ein menschenwürdiges Dasein zu führen, sich täg¬
lich wenigstens einmal satt zu essen und für die kalte Jahreszeit das genügende
Brennholz und warme Kleidung zu schaffen.

Es kann nur böser Wille, Leichtsinn, Beschränktheit oder empörende Spott¬
lust sein, die den Leuten Religion predigt, statt ihre Lage zu verbessern, die
auf die Frage: Was ist Sozialismus? antwortet: "Es ist das Bestreben der
untern Klassen, ein Wirtschaftssystem, das bisher in der ganzen Welt sechs¬
tausend Jahre bestanden hat, und das von ihnen als ungerecht bezeichnet wird,
auf friedlichem Wege durch das allgemeine Stimmrecht oder mit Gewalt zu
beseitigen." Denn nicht die Verhältnisse der Gesellschaft, nicht die Gesetze,
nicht das Wirtschaftssystem oder sonst etwas, sondern die Volksvermehrung ist
es, was deu Sozialismus geschaffen hat, der nun so lange wachsen wird, bis
ein Ausweg gefunden ist. Da die Bolksvermehrung nicht mit der Austeilung
des Grundbesitzes gleichen Schritt gehalten hat, diese Austeilung bei weitem
von der Volksvermehrung überflügelt, der anbaufähige Boden der alten Welt
vergeben, eine noch weitere Teilung des Grundbesitzes nur in wenigen Füllen
möglich ist, ohne die Produktionskraft des Landes zu schädigen, so sind die
Leute unzufrieden und haben ebenso und mit demselben Recht ein Stichwort,
nämlich "Sozialdemokratie," auf die ihren Interessenkreis bezeichnende Fahne
geschrieben, wie die "Agrarier," die gegen die Geldmacht und die Großindustrie,
oder die "Nativnalliberalen," die für die Geldmncht und die Großindustrie
gegen die bestehende Gesellschaft kämpfen, und so fort. Daß der ungebildeten
Masse der Grund ihrer Unzufriedenheit nicht klar ist, daß sie in dem Partei¬
getriebe die Spreu nicht vorn Weizen unterscheiden kann, das ist nicht neu,
denn sie befindet sich in derselben Lage wie ein Kranker, der nur fühlt, daß
er nicht gesund ist, ein bestimmtes Glied aber anzugeben, das ihn schmerzt,
nicht imstande ist.

Was ist nun bisher geschehen, um diese Krankheit zu heben, die Sozial¬
demokratie zu bekämpfen?

Nun, man hat Zugeständnisse gemacht auf Kosten der ländlichen und der
gewerblichen "Arbeitgeber" und hat diese Klassen bis an die Grenze des
Möglichen zu Gunsten ihrer Arbeiter belastet, man hat Hilfskassen, Kranken¬
kassen, Altersversorgungskassen gegründet und Zwangsversicherung eingeführt;
man hat die Steuergesetze zu Gunsten der untern Steuerklassen geändert, man
hat es versucht, den Preis des Brvtkorns herabzudrücken, und einige pro-


Beitrag eines deutschen Kolonisten zur Lösung der sozialen Frage

abends ihr Haupt hinlegen sollen, wo man täglich acht bis zwölf Stunden
(zur Zeit der Heu- und Roggenernte oft sogar sechzehn Stunden) arbeiten
muß, um sein bischen tägliche Nahrung zu verdienen, und ich kann es den
Leuten nicht verdenken, wenn sie, mit den „sozialen Verhältnissen" unzufrieden,
auf deren Abänderung hindrängen — und je größer das Mißbehagen ist,
desto heftiger wird das Drängen sein —, weil sie ihnen nicht erlauben, sich
ein eignes Heim zu gründen, ein menschenwürdiges Dasein zu führen, sich täg¬
lich wenigstens einmal satt zu essen und für die kalte Jahreszeit das genügende
Brennholz und warme Kleidung zu schaffen.

Es kann nur böser Wille, Leichtsinn, Beschränktheit oder empörende Spott¬
lust sein, die den Leuten Religion predigt, statt ihre Lage zu verbessern, die
auf die Frage: Was ist Sozialismus? antwortet: „Es ist das Bestreben der
untern Klassen, ein Wirtschaftssystem, das bisher in der ganzen Welt sechs¬
tausend Jahre bestanden hat, und das von ihnen als ungerecht bezeichnet wird,
auf friedlichem Wege durch das allgemeine Stimmrecht oder mit Gewalt zu
beseitigen." Denn nicht die Verhältnisse der Gesellschaft, nicht die Gesetze,
nicht das Wirtschaftssystem oder sonst etwas, sondern die Volksvermehrung ist
es, was deu Sozialismus geschaffen hat, der nun so lange wachsen wird, bis
ein Ausweg gefunden ist. Da die Bolksvermehrung nicht mit der Austeilung
des Grundbesitzes gleichen Schritt gehalten hat, diese Austeilung bei weitem
von der Volksvermehrung überflügelt, der anbaufähige Boden der alten Welt
vergeben, eine noch weitere Teilung des Grundbesitzes nur in wenigen Füllen
möglich ist, ohne die Produktionskraft des Landes zu schädigen, so sind die
Leute unzufrieden und haben ebenso und mit demselben Recht ein Stichwort,
nämlich „Sozialdemokratie," auf die ihren Interessenkreis bezeichnende Fahne
geschrieben, wie die „Agrarier," die gegen die Geldmacht und die Großindustrie,
oder die „Nativnalliberalen,„ die für die Geldmncht und die Großindustrie
gegen die bestehende Gesellschaft kämpfen, und so fort. Daß der ungebildeten
Masse der Grund ihrer Unzufriedenheit nicht klar ist, daß sie in dem Partei¬
getriebe die Spreu nicht vorn Weizen unterscheiden kann, das ist nicht neu,
denn sie befindet sich in derselben Lage wie ein Kranker, der nur fühlt, daß
er nicht gesund ist, ein bestimmtes Glied aber anzugeben, das ihn schmerzt,
nicht imstande ist.

Was ist nun bisher geschehen, um diese Krankheit zu heben, die Sozial¬
demokratie zu bekämpfen?

Nun, man hat Zugeständnisse gemacht auf Kosten der ländlichen und der
gewerblichen „Arbeitgeber" und hat diese Klassen bis an die Grenze des
Möglichen zu Gunsten ihrer Arbeiter belastet, man hat Hilfskassen, Kranken¬
kassen, Altersversorgungskassen gegründet und Zwangsversicherung eingeführt;
man hat die Steuergesetze zu Gunsten der untern Steuerklassen geändert, man
hat es versucht, den Preis des Brvtkorns herabzudrücken, und einige pro-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220325/260>, abgerufen am 16.06.2024.