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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Drittes Vierteljahr.

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Unser Irrenwesen

der ewige Wechsel des Verhaltens, das Unberechenbare des Wesens macht die
Pflege dieser Kranken sehr schwierig. Sie geraten bei der geringsten Veran¬
lassung unter einander oder mit den Wärtern in Streit und verfallen dabei
in blinde Wut. Hinterher bereuen sie nicht selteu ihren Jähzorn und ver¬
sprechen Besserung. Damit erwecken sie den Anschein, als ob sie erzieherischer
Einwirkung besonders zugänglich wären, doch ist das gerade Gegenteil der
Fall. Ermahnungen fruchten bei ihnen gar nichts, zur Unzeit angebracht,
rufen sie nur heftige Erregung hervor, und gegen bereits bestehende Erregung
sind sie erst recht zwecklos. Der Epileptische vermag sich eben auf keine Weise
zu beherrschen, so sehr er sich das auch in ruhigen Zeiten vornimmt, die Er¬
regbarkeit ist eben ein Teil seiner Krankheit. Man erreicht daher beim Epi¬
leptischen nur durch freundliches Nachgeben etwas, oft sogar recht viel. Jeden¬
falls stellt seine Pflege nicht nur an den Arzt, sondern auch an den Wärter
ganz besondre Anforderungen.

Die Ausbildung der Wärter ist überhaupt eine der wichtigsten Aufgaben
des Anstaltsleiters, geradezu ein Prüfstein seiner Befähigung für die Jrren-
pflcgc. Die Wärter sind in dauernderer Berührung mit den Kranken als der
Arzt, und das Wohlbefinden der Kranken hängt daher unmittelbar davon ab,
wie die Wärter die Pflege handhaben. Für die offenkundiger schweren Geistes¬
störungen haben sie ja nun bald das richtige Verständnis; wenn aber der Kranke
als ein Gemisch von Vernunft und Unvernunft erscheint, wie es bei sehr vielen
Geisteskrankheiten und besonders bei der Epilepsie geschieht, dann verfallen sie
nur gar zu leicht immer wieder in die laienhafte Auffassung, die in den gegen
sie gerichteten Handlungen des Kranken nicht Erzeugnisse seines Leidens, sondern
Ausflüsse eines schlechten Charakters sieht. Das ist ja auch ganz begreiflich,
wenn man sich vergegenwärtigt, daß der Wärter vielleicht wochenlang ganz
kameradschaftlich mit dem Kranken verkehrt und für alle seine Anordnungen
volles Verständnis findet, bis plötzlich eine krankhafte Erregung dazwischentritt.
Der Wärter hat sich schon fast daran gewöhnt, den Kranken wie einen Ge-!
funden zu behandeln, und kann nun nicht gleich das richtige Verhalten finden.
Es fehlt ihm als Laien die theoretische Durchbildung, die auch in den wechselnden
Gestaltungen das Bild der Krankheit festhält und das Benehmen darnach ein¬
richtet. Diese tiefere Einsicht muß aber der Jrrenarzt haben und darnach seine
Untergebnen anleiten.

Die geistlichen Anstalten stehen hinsichtlich der Pfleger entschieden hinter
den weltlichen zurück, erfreuen sich doch selbst die Bodelschwinghschen "Brüder"
keines guten Rufs mehr, seit die an der Irrenanstalt in Bremen thätigen
wegen planmäßiger Mißhandlung der Kranken entlassen worden sind. Dennoch
liegt es mir ganz fern, daraus den Schluß zu ziehen, daß sich Mitglieder
'-.licnöser Gemeinschaften zur Jrrenpflege weniger eigneten, im Gegenteil, ich
um ^erzeugt, d.>ß sie dazu vortrefflich befähigt sind, ebenso wie zur Kranken-


Unser Irrenwesen

der ewige Wechsel des Verhaltens, das Unberechenbare des Wesens macht die
Pflege dieser Kranken sehr schwierig. Sie geraten bei der geringsten Veran¬
lassung unter einander oder mit den Wärtern in Streit und verfallen dabei
in blinde Wut. Hinterher bereuen sie nicht selteu ihren Jähzorn und ver¬
sprechen Besserung. Damit erwecken sie den Anschein, als ob sie erzieherischer
Einwirkung besonders zugänglich wären, doch ist das gerade Gegenteil der
Fall. Ermahnungen fruchten bei ihnen gar nichts, zur Unzeit angebracht,
rufen sie nur heftige Erregung hervor, und gegen bereits bestehende Erregung
sind sie erst recht zwecklos. Der Epileptische vermag sich eben auf keine Weise
zu beherrschen, so sehr er sich das auch in ruhigen Zeiten vornimmt, die Er¬
regbarkeit ist eben ein Teil seiner Krankheit. Man erreicht daher beim Epi¬
leptischen nur durch freundliches Nachgeben etwas, oft sogar recht viel. Jeden¬
falls stellt seine Pflege nicht nur an den Arzt, sondern auch an den Wärter
ganz besondre Anforderungen.

Die Ausbildung der Wärter ist überhaupt eine der wichtigsten Aufgaben
des Anstaltsleiters, geradezu ein Prüfstein seiner Befähigung für die Jrren-
pflcgc. Die Wärter sind in dauernderer Berührung mit den Kranken als der
Arzt, und das Wohlbefinden der Kranken hängt daher unmittelbar davon ab,
wie die Wärter die Pflege handhaben. Für die offenkundiger schweren Geistes¬
störungen haben sie ja nun bald das richtige Verständnis; wenn aber der Kranke
als ein Gemisch von Vernunft und Unvernunft erscheint, wie es bei sehr vielen
Geisteskrankheiten und besonders bei der Epilepsie geschieht, dann verfallen sie
nur gar zu leicht immer wieder in die laienhafte Auffassung, die in den gegen
sie gerichteten Handlungen des Kranken nicht Erzeugnisse seines Leidens, sondern
Ausflüsse eines schlechten Charakters sieht. Das ist ja auch ganz begreiflich,
wenn man sich vergegenwärtigt, daß der Wärter vielleicht wochenlang ganz
kameradschaftlich mit dem Kranken verkehrt und für alle seine Anordnungen
volles Verständnis findet, bis plötzlich eine krankhafte Erregung dazwischentritt.
Der Wärter hat sich schon fast daran gewöhnt, den Kranken wie einen Ge-!
funden zu behandeln, und kann nun nicht gleich das richtige Verhalten finden.
Es fehlt ihm als Laien die theoretische Durchbildung, die auch in den wechselnden
Gestaltungen das Bild der Krankheit festhält und das Benehmen darnach ein¬
richtet. Diese tiefere Einsicht muß aber der Jrrenarzt haben und darnach seine
Untergebnen anleiten.

Die geistlichen Anstalten stehen hinsichtlich der Pfleger entschieden hinter
den weltlichen zurück, erfreuen sich doch selbst die Bodelschwinghschen „Brüder"
keines guten Rufs mehr, seit die an der Irrenanstalt in Bremen thätigen
wegen planmäßiger Mißhandlung der Kranken entlassen worden sind. Dennoch
liegt es mir ganz fern, daraus den Schluß zu ziehen, daß sich Mitglieder
'-.licnöser Gemeinschaften zur Jrrenpflege weniger eigneten, im Gegenteil, ich
um ^erzeugt, d.>ß sie dazu vortrefflich befähigt sind, ebenso wie zur Kranken-


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[0268] Unser Irrenwesen der ewige Wechsel des Verhaltens, das Unberechenbare des Wesens macht die Pflege dieser Kranken sehr schwierig. Sie geraten bei der geringsten Veran¬ lassung unter einander oder mit den Wärtern in Streit und verfallen dabei in blinde Wut. Hinterher bereuen sie nicht selteu ihren Jähzorn und ver¬ sprechen Besserung. Damit erwecken sie den Anschein, als ob sie erzieherischer Einwirkung besonders zugänglich wären, doch ist das gerade Gegenteil der Fall. Ermahnungen fruchten bei ihnen gar nichts, zur Unzeit angebracht, rufen sie nur heftige Erregung hervor, und gegen bereits bestehende Erregung sind sie erst recht zwecklos. Der Epileptische vermag sich eben auf keine Weise zu beherrschen, so sehr er sich das auch in ruhigen Zeiten vornimmt, die Er¬ regbarkeit ist eben ein Teil seiner Krankheit. Man erreicht daher beim Epi¬ leptischen nur durch freundliches Nachgeben etwas, oft sogar recht viel. Jeden¬ falls stellt seine Pflege nicht nur an den Arzt, sondern auch an den Wärter ganz besondre Anforderungen. Die Ausbildung der Wärter ist überhaupt eine der wichtigsten Aufgaben des Anstaltsleiters, geradezu ein Prüfstein seiner Befähigung für die Jrren- pflcgc. Die Wärter sind in dauernderer Berührung mit den Kranken als der Arzt, und das Wohlbefinden der Kranken hängt daher unmittelbar davon ab, wie die Wärter die Pflege handhaben. Für die offenkundiger schweren Geistes¬ störungen haben sie ja nun bald das richtige Verständnis; wenn aber der Kranke als ein Gemisch von Vernunft und Unvernunft erscheint, wie es bei sehr vielen Geisteskrankheiten und besonders bei der Epilepsie geschieht, dann verfallen sie nur gar zu leicht immer wieder in die laienhafte Auffassung, die in den gegen sie gerichteten Handlungen des Kranken nicht Erzeugnisse seines Leidens, sondern Ausflüsse eines schlechten Charakters sieht. Das ist ja auch ganz begreiflich, wenn man sich vergegenwärtigt, daß der Wärter vielleicht wochenlang ganz kameradschaftlich mit dem Kranken verkehrt und für alle seine Anordnungen volles Verständnis findet, bis plötzlich eine krankhafte Erregung dazwischentritt. Der Wärter hat sich schon fast daran gewöhnt, den Kranken wie einen Ge-! funden zu behandeln, und kann nun nicht gleich das richtige Verhalten finden. Es fehlt ihm als Laien die theoretische Durchbildung, die auch in den wechselnden Gestaltungen das Bild der Krankheit festhält und das Benehmen darnach ein¬ richtet. Diese tiefere Einsicht muß aber der Jrrenarzt haben und darnach seine Untergebnen anleiten. Die geistlichen Anstalten stehen hinsichtlich der Pfleger entschieden hinter den weltlichen zurück, erfreuen sich doch selbst die Bodelschwinghschen „Brüder" keines guten Rufs mehr, seit die an der Irrenanstalt in Bremen thätigen wegen planmäßiger Mißhandlung der Kranken entlassen worden sind. Dennoch liegt es mir ganz fern, daraus den Schluß zu ziehen, daß sich Mitglieder '-.licnöser Gemeinschaften zur Jrrenpflege weniger eigneten, im Gegenteil, ich um ^erzeugt, d.>ß sie dazu vortrefflich befähigt sind, ebenso wie zur Kranken-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220325/268>, abgerufen am 16.06.2024.