Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Unser Zrrenwesen

Kranken beseitigen oder eine drohende Aufregung im Keime ersticken. Wie
wenig geeignet mit Geisteskranken zu verkehren ist dagegen der Geistliche, der
mit einer vorgefaßten Meinung an sein Amt herantritt! Bei jungen Anstalts¬
geistlichen kann man das oft beobachten. Sie müssen ihrer Mißgriffe wegen
so lange Vorwürfe anhören, bis sie alle eigenmächtigen Versuche zu unmittelbarer
geistiger Einwirkung aufgeben und sich darauf beschränken, das religiöse Be¬
dürfnis der ihnen eigens vom Arzt überwiesenen Pfleglinge zu befriedigen.
Ältere, erfahrene Anstaltsgeistliche haben fast immer diesen richtigen Stand¬
punkt gewonnen und wollen von Übergriffen in das Reich des Arztes nichts
mehr wissen. Gerade sie wirken segensreich, denn nicht wenige Kranke haben
ein ganz normales religiöses Bedürfnis, dem nachzukommen sie kein Arzt ver¬
hindern wird, wenn er auch keine Beeinflussung ihres Leidens dadurch er¬
wartet.

Also der Geisteskranke ist dem Jrrenarzt ein Gegenstand der Pflege, nicht
der Erziehung. Freilich giebt es Geisteskranke, die ebenso erziehungsbedürftig
sind wie mancher Gesunde -- nicht alle ihre Handlungen sind Ergebnisse der
Krankheit --, aber die Kranken werden doch dem Arzte uicht der Erziehung,
sondern der Heilung wegen übergeben, die Heilung aber kann durch Erziehungs¬
versuche nicht gefördert, sondern höchstens beeinträchtigt werden. Nur wo das
Leiden chronisch geworden ist, wird man innerhalb gewisser.Grenzen erzieherisch
einwirken können; dazu gehört aber ein Arzt, der seit Jahren mit dem Kranken
und seiner Krankheit völlig vertraut ist. Eine Gattung von Kranken, bei
denen die Erziehung größere Bedeutung hat, sind allein die Idioten. Es sind
das Kranke, die von frühester Jugend an Geistesschwache leiden. Ein Teil
von ihnen ist einer gewissen Ausbildung fähig. Diese braucht nicht in den
Händen des Arztes zu liegen, aber sie muß von ihm geleitet und geregelt
werden, wenn Unheil verhütet werden soll. Das Gehirn des Idioten, das
durch die Erziehung angestrengt wird, ist krankhaft geschwächt und wird ohne¬
hin leicht von mannichfachen gemeinen Geisteskrankheiten befallen.

In noch höherm Grade thut den Epileptischen die verständnisvolle Für¬
sorge des Arztes not, und gerade diese Kranken werden mit Vorliebe Laien
überantwortet. Sehen doch die Geistlichen in dem Epileptischen mit seinen
Krampfanfällen und den Zwischenzeiten anscheinend völliger Vernünftigkeit den
Typus der Besessenheit und damit den eigentlichsten Gegenstand ihrer Be¬
mühungen. Dem Arzte gilt der Epileptiker auch in den krumpffreien Zeiten
nicht als geistig normal. Die Abweichungen von der Norm können allerdings
sehr verschiednen Grades sein, bei manchen ünßern sie sich als leichte Ver¬
stimmungen, als Niedergeschlagenheit, als Gereiztheit, als krankhafte Aus¬
gelassenheit, bei andern treten heftigere Erregungen bis zur furchtbarsten Tob¬
sucht auf, wieder andre leiden an stumpfer Benommenheit, und schließlich ent¬
wickeln sich auch Bewußtseinstrübungen, die als Wahnideen auftreten. Gerade


Unser Zrrenwesen

Kranken beseitigen oder eine drohende Aufregung im Keime ersticken. Wie
wenig geeignet mit Geisteskranken zu verkehren ist dagegen der Geistliche, der
mit einer vorgefaßten Meinung an sein Amt herantritt! Bei jungen Anstalts¬
geistlichen kann man das oft beobachten. Sie müssen ihrer Mißgriffe wegen
so lange Vorwürfe anhören, bis sie alle eigenmächtigen Versuche zu unmittelbarer
geistiger Einwirkung aufgeben und sich darauf beschränken, das religiöse Be¬
dürfnis der ihnen eigens vom Arzt überwiesenen Pfleglinge zu befriedigen.
Ältere, erfahrene Anstaltsgeistliche haben fast immer diesen richtigen Stand¬
punkt gewonnen und wollen von Übergriffen in das Reich des Arztes nichts
mehr wissen. Gerade sie wirken segensreich, denn nicht wenige Kranke haben
ein ganz normales religiöses Bedürfnis, dem nachzukommen sie kein Arzt ver¬
hindern wird, wenn er auch keine Beeinflussung ihres Leidens dadurch er¬
wartet.

Also der Geisteskranke ist dem Jrrenarzt ein Gegenstand der Pflege, nicht
der Erziehung. Freilich giebt es Geisteskranke, die ebenso erziehungsbedürftig
sind wie mancher Gesunde — nicht alle ihre Handlungen sind Ergebnisse der
Krankheit —, aber die Kranken werden doch dem Arzte uicht der Erziehung,
sondern der Heilung wegen übergeben, die Heilung aber kann durch Erziehungs¬
versuche nicht gefördert, sondern höchstens beeinträchtigt werden. Nur wo das
Leiden chronisch geworden ist, wird man innerhalb gewisser.Grenzen erzieherisch
einwirken können; dazu gehört aber ein Arzt, der seit Jahren mit dem Kranken
und seiner Krankheit völlig vertraut ist. Eine Gattung von Kranken, bei
denen die Erziehung größere Bedeutung hat, sind allein die Idioten. Es sind
das Kranke, die von frühester Jugend an Geistesschwache leiden. Ein Teil
von ihnen ist einer gewissen Ausbildung fähig. Diese braucht nicht in den
Händen des Arztes zu liegen, aber sie muß von ihm geleitet und geregelt
werden, wenn Unheil verhütet werden soll. Das Gehirn des Idioten, das
durch die Erziehung angestrengt wird, ist krankhaft geschwächt und wird ohne¬
hin leicht von mannichfachen gemeinen Geisteskrankheiten befallen.

In noch höherm Grade thut den Epileptischen die verständnisvolle Für¬
sorge des Arztes not, und gerade diese Kranken werden mit Vorliebe Laien
überantwortet. Sehen doch die Geistlichen in dem Epileptischen mit seinen
Krampfanfällen und den Zwischenzeiten anscheinend völliger Vernünftigkeit den
Typus der Besessenheit und damit den eigentlichsten Gegenstand ihrer Be¬
mühungen. Dem Arzte gilt der Epileptiker auch in den krumpffreien Zeiten
nicht als geistig normal. Die Abweichungen von der Norm können allerdings
sehr verschiednen Grades sein, bei manchen ünßern sie sich als leichte Ver¬
stimmungen, als Niedergeschlagenheit, als Gereiztheit, als krankhafte Aus¬
gelassenheit, bei andern treten heftigere Erregungen bis zur furchtbarsten Tob¬
sucht auf, wieder andre leiden an stumpfer Benommenheit, und schließlich ent¬
wickeln sich auch Bewußtseinstrübungen, die als Wahnideen auftreten. Gerade


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0267" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/220593"/>
            <fw type="header" place="top"> Unser Zrrenwesen</fw><lb/>
            <p xml:id="ID_1113" prev="#ID_1112"> Kranken beseitigen oder eine drohende Aufregung im Keime ersticken. Wie<lb/>
wenig geeignet mit Geisteskranken zu verkehren ist dagegen der Geistliche, der<lb/>
mit einer vorgefaßten Meinung an sein Amt herantritt! Bei jungen Anstalts¬<lb/>
geistlichen kann man das oft beobachten. Sie müssen ihrer Mißgriffe wegen<lb/>
so lange Vorwürfe anhören, bis sie alle eigenmächtigen Versuche zu unmittelbarer<lb/>
geistiger Einwirkung aufgeben und sich darauf beschränken, das religiöse Be¬<lb/>
dürfnis der ihnen eigens vom Arzt überwiesenen Pfleglinge zu befriedigen.<lb/>
Ältere, erfahrene Anstaltsgeistliche haben fast immer diesen richtigen Stand¬<lb/>
punkt gewonnen und wollen von Übergriffen in das Reich des Arztes nichts<lb/>
mehr wissen. Gerade sie wirken segensreich, denn nicht wenige Kranke haben<lb/>
ein ganz normales religiöses Bedürfnis, dem nachzukommen sie kein Arzt ver¬<lb/>
hindern wird, wenn er auch keine Beeinflussung ihres Leidens dadurch er¬<lb/>
wartet.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_1114"> Also der Geisteskranke ist dem Jrrenarzt ein Gegenstand der Pflege, nicht<lb/>
der Erziehung. Freilich giebt es Geisteskranke, die ebenso erziehungsbedürftig<lb/>
sind wie mancher Gesunde &#x2014; nicht alle ihre Handlungen sind Ergebnisse der<lb/>
Krankheit &#x2014;, aber die Kranken werden doch dem Arzte uicht der Erziehung,<lb/>
sondern der Heilung wegen übergeben, die Heilung aber kann durch Erziehungs¬<lb/>
versuche nicht gefördert, sondern höchstens beeinträchtigt werden. Nur wo das<lb/>
Leiden chronisch geworden ist, wird man innerhalb gewisser.Grenzen erzieherisch<lb/>
einwirken können; dazu gehört aber ein Arzt, der seit Jahren mit dem Kranken<lb/>
und seiner Krankheit völlig vertraut ist. Eine Gattung von Kranken, bei<lb/>
denen die Erziehung größere Bedeutung hat, sind allein die Idioten. Es sind<lb/>
das Kranke, die von frühester Jugend an Geistesschwache leiden. Ein Teil<lb/>
von ihnen ist einer gewissen Ausbildung fähig. Diese braucht nicht in den<lb/>
Händen des Arztes zu liegen, aber sie muß von ihm geleitet und geregelt<lb/>
werden, wenn Unheil verhütet werden soll. Das Gehirn des Idioten, das<lb/>
durch die Erziehung angestrengt wird, ist krankhaft geschwächt und wird ohne¬<lb/>
hin leicht von mannichfachen gemeinen Geisteskrankheiten befallen.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_1115" next="#ID_1116"> In noch höherm Grade thut den Epileptischen die verständnisvolle Für¬<lb/>
sorge des Arztes not, und gerade diese Kranken werden mit Vorliebe Laien<lb/>
überantwortet. Sehen doch die Geistlichen in dem Epileptischen mit seinen<lb/>
Krampfanfällen und den Zwischenzeiten anscheinend völliger Vernünftigkeit den<lb/>
Typus der Besessenheit und damit den eigentlichsten Gegenstand ihrer Be¬<lb/>
mühungen. Dem Arzte gilt der Epileptiker auch in den krumpffreien Zeiten<lb/>
nicht als geistig normal. Die Abweichungen von der Norm können allerdings<lb/>
sehr verschiednen Grades sein, bei manchen ünßern sie sich als leichte Ver¬<lb/>
stimmungen, als Niedergeschlagenheit, als Gereiztheit, als krankhafte Aus¬<lb/>
gelassenheit, bei andern treten heftigere Erregungen bis zur furchtbarsten Tob¬<lb/>
sucht auf, wieder andre leiden an stumpfer Benommenheit, und schließlich ent¬<lb/>
wickeln sich auch Bewußtseinstrübungen, die als Wahnideen auftreten. Gerade</p><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0267] Unser Zrrenwesen Kranken beseitigen oder eine drohende Aufregung im Keime ersticken. Wie wenig geeignet mit Geisteskranken zu verkehren ist dagegen der Geistliche, der mit einer vorgefaßten Meinung an sein Amt herantritt! Bei jungen Anstalts¬ geistlichen kann man das oft beobachten. Sie müssen ihrer Mißgriffe wegen so lange Vorwürfe anhören, bis sie alle eigenmächtigen Versuche zu unmittelbarer geistiger Einwirkung aufgeben und sich darauf beschränken, das religiöse Be¬ dürfnis der ihnen eigens vom Arzt überwiesenen Pfleglinge zu befriedigen. Ältere, erfahrene Anstaltsgeistliche haben fast immer diesen richtigen Stand¬ punkt gewonnen und wollen von Übergriffen in das Reich des Arztes nichts mehr wissen. Gerade sie wirken segensreich, denn nicht wenige Kranke haben ein ganz normales religiöses Bedürfnis, dem nachzukommen sie kein Arzt ver¬ hindern wird, wenn er auch keine Beeinflussung ihres Leidens dadurch er¬ wartet. Also der Geisteskranke ist dem Jrrenarzt ein Gegenstand der Pflege, nicht der Erziehung. Freilich giebt es Geisteskranke, die ebenso erziehungsbedürftig sind wie mancher Gesunde — nicht alle ihre Handlungen sind Ergebnisse der Krankheit —, aber die Kranken werden doch dem Arzte uicht der Erziehung, sondern der Heilung wegen übergeben, die Heilung aber kann durch Erziehungs¬ versuche nicht gefördert, sondern höchstens beeinträchtigt werden. Nur wo das Leiden chronisch geworden ist, wird man innerhalb gewisser.Grenzen erzieherisch einwirken können; dazu gehört aber ein Arzt, der seit Jahren mit dem Kranken und seiner Krankheit völlig vertraut ist. Eine Gattung von Kranken, bei denen die Erziehung größere Bedeutung hat, sind allein die Idioten. Es sind das Kranke, die von frühester Jugend an Geistesschwache leiden. Ein Teil von ihnen ist einer gewissen Ausbildung fähig. Diese braucht nicht in den Händen des Arztes zu liegen, aber sie muß von ihm geleitet und geregelt werden, wenn Unheil verhütet werden soll. Das Gehirn des Idioten, das durch die Erziehung angestrengt wird, ist krankhaft geschwächt und wird ohne¬ hin leicht von mannichfachen gemeinen Geisteskrankheiten befallen. In noch höherm Grade thut den Epileptischen die verständnisvolle Für¬ sorge des Arztes not, und gerade diese Kranken werden mit Vorliebe Laien überantwortet. Sehen doch die Geistlichen in dem Epileptischen mit seinen Krampfanfällen und den Zwischenzeiten anscheinend völliger Vernünftigkeit den Typus der Besessenheit und damit den eigentlichsten Gegenstand ihrer Be¬ mühungen. Dem Arzte gilt der Epileptiker auch in den krumpffreien Zeiten nicht als geistig normal. Die Abweichungen von der Norm können allerdings sehr verschiednen Grades sein, bei manchen ünßern sie sich als leichte Ver¬ stimmungen, als Niedergeschlagenheit, als Gereiztheit, als krankhafte Aus¬ gelassenheit, bei andern treten heftigere Erregungen bis zur furchtbarsten Tob¬ sucht auf, wieder andre leiden an stumpfer Benommenheit, und schließlich ent¬ wickeln sich auch Bewußtseinstrübungen, die als Wahnideen auftreten. Gerade

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220325
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220325/267
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220325/267>, abgerufen am 16.06.2024.