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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Drittes Vierteljahr.

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milden Zwang auf ihn aus, man thut es aber auch dann nur in einer Form,
die den Kranken nicht erniedrigt. Fort aus den Anstalten sind die Zwangs¬
stühle, die Zwangsbetten, die Zwangsjacken, fort die Einzelzellen, in denen der
Kranke, sich selbst überlassen, vertierte, fort auch die vergitterten Fenster, die
das Irrenhaus zum Gefängnis machen; an die Stelle der frühern Vernach¬
lässigung ist die sorgsamste Pflege im Krankenbett getreten, an die Stelle der
gefünguisartigen Einsperrung die Behandlung bei offnen Thüren, und an die
Stelle plumper geistiger Bearbeitung die planmäßige Gewöhnung an nutz¬
bringende Beschäftigung, vor allem in ländlichen Kolonien. Das Leben auch
des unheilbaren Geisteskranken verfließt nicht mehr in entsetzlicher Öde, auch
dies zeigt Lichtblicke, ist menschenwürdiger geworden. Das alles verdankt der
Geisteskranke dein Irrenärzte, und es ist daher ein berechtigtes Verlangen des
Irrenarztes, wenn er die Pflege der Geisteskranken, der Idioten und der Epi¬
leptischen für sich in Anspruch nimmt und dagegen Verwahrung einlegt, daß
sie Laien anvertraut wird, die nichts von ihr verstehen und sie obendrein in
einem Sinne handhaben, der seiner Anschauung schnurstracks zuwiderläuft.

Nachdem wir so einen Einblick in die wissenschaftliche Jrrenpflege gewonnen
haben, werden wir die Zustünde, die in dem Kloster Mariaberg geherrscht haben,
mit bessern: Verständnis betrachten. Wir werden in ihnen weniger einen ver-
abscheuungswürdigen Einzelfall sehen, als vielmehr die Beschaffenheit der Laien¬
psychiatrie überhaupt. Zentrumsblütter freilich suchten die Alexianer nur als
verirrte Schafe einer sonst vortrefflichen Herde hinzustellen, und auch ein kon¬
servativer Abgeordneter nannte sie eine unrühmliche Ausnahme und wies auf
die großen Verdienste hin, die sich die Orden um die Jrrenpflege erworben
Hütten. Dieser Auffassung gegenüber kann nicht nachdrücklich genug betont
werden, daß der Geist des Mittelalters, der die Behandlung der Kranken im
Kloster Mariaberg kennzeichnet, den andern geistlichen Anstalten im wesentlichen
ebenso anhaftet. Es mag sein, daß nicht überall so grobe Ausschreitungen
vorkommen, wie es hier geschehen ist. Ob das Verfahren gröber oder feiner
ist, hängt von dem Stande der Bildung dessen ab, der es handhabt. Ich
halte es aber auch für ungerecht, die Alexianer nun als einen Ausbund der
Roheit und Schlechtigkeit hinzustellen, wie es allgemein geschehen ist. Ich kann
in ihnen nur ungebildete und nicht gerade zartfühlende Leute sehen, die ohne
irgend welche Anleitung -- sie hatten nicht einmal einen Mann von höherer
Bildung an ihrer Spitze -- ihren überaus schwierigen Dienst versahen, und
wenn sie eine Reihe mehr oder weniger kräftiger Strafmittel planmäßig an¬
wandten, sich gewiß in dem guten Glauben befanden, ohne sie nicht auskommen
zu können. Man muß sich den Beruf des Jrrenwärters nicht leicht vorstellen.
Er ist fortwährend den Schimpfreden und den thätlichen Angriffen der Kranken
ausgesetzt, namentlich die Epileptischen haben oft eine wahre Geriebenheit darin,
ihn durch allerhand Hinterlist, Schabernack und falsche Beschuldigungen zu


milden Zwang auf ihn aus, man thut es aber auch dann nur in einer Form,
die den Kranken nicht erniedrigt. Fort aus den Anstalten sind die Zwangs¬
stühle, die Zwangsbetten, die Zwangsjacken, fort die Einzelzellen, in denen der
Kranke, sich selbst überlassen, vertierte, fort auch die vergitterten Fenster, die
das Irrenhaus zum Gefängnis machen; an die Stelle der frühern Vernach¬
lässigung ist die sorgsamste Pflege im Krankenbett getreten, an die Stelle der
gefünguisartigen Einsperrung die Behandlung bei offnen Thüren, und an die
Stelle plumper geistiger Bearbeitung die planmäßige Gewöhnung an nutz¬
bringende Beschäftigung, vor allem in ländlichen Kolonien. Das Leben auch
des unheilbaren Geisteskranken verfließt nicht mehr in entsetzlicher Öde, auch
dies zeigt Lichtblicke, ist menschenwürdiger geworden. Das alles verdankt der
Geisteskranke dein Irrenärzte, und es ist daher ein berechtigtes Verlangen des
Irrenarztes, wenn er die Pflege der Geisteskranken, der Idioten und der Epi¬
leptischen für sich in Anspruch nimmt und dagegen Verwahrung einlegt, daß
sie Laien anvertraut wird, die nichts von ihr verstehen und sie obendrein in
einem Sinne handhaben, der seiner Anschauung schnurstracks zuwiderläuft.

Nachdem wir so einen Einblick in die wissenschaftliche Jrrenpflege gewonnen
haben, werden wir die Zustünde, die in dem Kloster Mariaberg geherrscht haben,
mit bessern: Verständnis betrachten. Wir werden in ihnen weniger einen ver-
abscheuungswürdigen Einzelfall sehen, als vielmehr die Beschaffenheit der Laien¬
psychiatrie überhaupt. Zentrumsblütter freilich suchten die Alexianer nur als
verirrte Schafe einer sonst vortrefflichen Herde hinzustellen, und auch ein kon¬
servativer Abgeordneter nannte sie eine unrühmliche Ausnahme und wies auf
die großen Verdienste hin, die sich die Orden um die Jrrenpflege erworben
Hütten. Dieser Auffassung gegenüber kann nicht nachdrücklich genug betont
werden, daß der Geist des Mittelalters, der die Behandlung der Kranken im
Kloster Mariaberg kennzeichnet, den andern geistlichen Anstalten im wesentlichen
ebenso anhaftet. Es mag sein, daß nicht überall so grobe Ausschreitungen
vorkommen, wie es hier geschehen ist. Ob das Verfahren gröber oder feiner
ist, hängt von dem Stande der Bildung dessen ab, der es handhabt. Ich
halte es aber auch für ungerecht, die Alexianer nun als einen Ausbund der
Roheit und Schlechtigkeit hinzustellen, wie es allgemein geschehen ist. Ich kann
in ihnen nur ungebildete und nicht gerade zartfühlende Leute sehen, die ohne
irgend welche Anleitung — sie hatten nicht einmal einen Mann von höherer
Bildung an ihrer Spitze — ihren überaus schwierigen Dienst versahen, und
wenn sie eine Reihe mehr oder weniger kräftiger Strafmittel planmäßig an¬
wandten, sich gewiß in dem guten Glauben befanden, ohne sie nicht auskommen
zu können. Man muß sich den Beruf des Jrrenwärters nicht leicht vorstellen.
Er ist fortwährend den Schimpfreden und den thätlichen Angriffen der Kranken
ausgesetzt, namentlich die Epileptischen haben oft eine wahre Geriebenheit darin,
ihn durch allerhand Hinterlist, Schabernack und falsche Beschuldigungen zu


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220325/270>, abgerufen am 16.06.2024.