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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Drittes Vierteljahr.

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reizen. Da hat auch ein geschulter Wärter einen schweren Stand, der ungc-
schulte aber weiß sich gar nicht zu helfen und verliert bald die Geduld. Be¬
sonders erschwert wurde den "Brüdern" ihre Stellung durch ihre geringe Zahl;
an öffentlichen Anstalten sind für die gleiche Krankenzahl zwei- bis dreimal so
viel Wärter thätig.

Es hat also keinen Sinn, auf einzelne Personen einen Stein zu werfen,
wo der Fehler an der ganzen Einrichtung liegt. Ganz thöricht aber ist der
Vorwurf, den man der Staatsanwaltschaft gemacht hat, daß sie nicht selbst
gegen die "Brüder" eingeschritten ist. Brüder sind keine Beamten, wie die
Wärter öffentlicher Anstalten, gegen die der Staatsanwalt ohne weiteres vor¬
gehen kann. Gegen die Brüder konnte der Staatsanwalt nur auf Antrag der
Geschädigten einschreiten. Will man die Kranken wirksamer schützen, so
übergebe man sie nicht Leuten, die man hinterher nicht zur Verantwortung
ziehen kann.

Aber wie gesagt: die Hauptsache sind nicht die einzelnen Ausschreitungen,
die Hauptsache ist die ganze Einrichtung. Unter den Ärzten ist es öffentliches
Geheimnis, daß auch in andern geistlichen Anstalten und nicht nur in solchen,
die Geisteskranke beherbergen, die Krnntenbehandlung ähnlich gehandhabt wird
wie in Mariaberg. Aber was ist mit der bloßen Brandmarkung und Be¬
strafung der Missethäter geholfen? Fort mit der ganzen Einrichtung, die Laien
an die Stelle des Sachverständigen setzt, denn sie wird immer wieder ähnliche
Blüten hervortreiben.

Es leuchtet jedermann ein, daß die Ärzte in Mariaberg eine klägliche
Rolle gespielt haben. Zwei Ärzte waren abwechselnd ein Stündchen des Tages
um die Kranken beschäftigt, im übrigen gingen sie ihrer Privatpraxis nach.
Dabei waren ihnen im ganzen nicht weniger als sechshundertscchzig Kranke an¬
vertraut, wofür an öffentlichen Anstalten mindestens vier, gewöhnlich fünf Ärzte
ihre ganze Zeit aufwenden. Die beiden Aachener Ärzte sind überdies ihrem
Bildungsgange nach nicht als geschulte Psychiater anzusehen, und nach ihren
Aussagen vor Gericht erscheinen sie auch nicht als solche, denn wer Geistes¬
kranke "nichtsnutzige Kerle" nennt und gegen ihre Schimpfreden die Zwangs¬
jacke verordnet, ist kein Psychiater. Sie werden sich Wohl fast nur um das
körperliche Wohlbefinden ihrer Pfleglinge gekümmert haben, während die Be¬
handlung der geistigen Leiden den "Brüdern" überlassen war.

Ganz so schlimm sieht es nun nicht an allen andern geistlichen Anstalten
aus, manche verfügen wenigstens über eigne Arzte, doch besteht auch hier überall
das offenkundige Bestreben, diese auf die Heilung der körperlichen Leiden zu
beschränken und die Behandlung der Geisteskrankheiten den Geistlichen vorzu¬
behalten. Von einer großen evangelischen Anstalt weiß ich sogar, daß sie noch
weniger Gebrauch von der Kunst des Arztes macht, als es das Kloster Maria¬
berg gethan hat. Jedenfalls lassen sich auch die beiden Anstaltsärzte nicht für


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reizen. Da hat auch ein geschulter Wärter einen schweren Stand, der ungc-
schulte aber weiß sich gar nicht zu helfen und verliert bald die Geduld. Be¬
sonders erschwert wurde den „Brüdern" ihre Stellung durch ihre geringe Zahl;
an öffentlichen Anstalten sind für die gleiche Krankenzahl zwei- bis dreimal so
viel Wärter thätig.

Es hat also keinen Sinn, auf einzelne Personen einen Stein zu werfen,
wo der Fehler an der ganzen Einrichtung liegt. Ganz thöricht aber ist der
Vorwurf, den man der Staatsanwaltschaft gemacht hat, daß sie nicht selbst
gegen die „Brüder" eingeschritten ist. Brüder sind keine Beamten, wie die
Wärter öffentlicher Anstalten, gegen die der Staatsanwalt ohne weiteres vor¬
gehen kann. Gegen die Brüder konnte der Staatsanwalt nur auf Antrag der
Geschädigten einschreiten. Will man die Kranken wirksamer schützen, so
übergebe man sie nicht Leuten, die man hinterher nicht zur Verantwortung
ziehen kann.

Aber wie gesagt: die Hauptsache sind nicht die einzelnen Ausschreitungen,
die Hauptsache ist die ganze Einrichtung. Unter den Ärzten ist es öffentliches
Geheimnis, daß auch in andern geistlichen Anstalten und nicht nur in solchen,
die Geisteskranke beherbergen, die Krnntenbehandlung ähnlich gehandhabt wird
wie in Mariaberg. Aber was ist mit der bloßen Brandmarkung und Be¬
strafung der Missethäter geholfen? Fort mit der ganzen Einrichtung, die Laien
an die Stelle des Sachverständigen setzt, denn sie wird immer wieder ähnliche
Blüten hervortreiben.

Es leuchtet jedermann ein, daß die Ärzte in Mariaberg eine klägliche
Rolle gespielt haben. Zwei Ärzte waren abwechselnd ein Stündchen des Tages
um die Kranken beschäftigt, im übrigen gingen sie ihrer Privatpraxis nach.
Dabei waren ihnen im ganzen nicht weniger als sechshundertscchzig Kranke an¬
vertraut, wofür an öffentlichen Anstalten mindestens vier, gewöhnlich fünf Ärzte
ihre ganze Zeit aufwenden. Die beiden Aachener Ärzte sind überdies ihrem
Bildungsgange nach nicht als geschulte Psychiater anzusehen, und nach ihren
Aussagen vor Gericht erscheinen sie auch nicht als solche, denn wer Geistes¬
kranke „nichtsnutzige Kerle" nennt und gegen ihre Schimpfreden die Zwangs¬
jacke verordnet, ist kein Psychiater. Sie werden sich Wohl fast nur um das
körperliche Wohlbefinden ihrer Pfleglinge gekümmert haben, während die Be¬
handlung der geistigen Leiden den „Brüdern" überlassen war.

Ganz so schlimm sieht es nun nicht an allen andern geistlichen Anstalten
aus, manche verfügen wenigstens über eigne Arzte, doch besteht auch hier überall
das offenkundige Bestreben, diese auf die Heilung der körperlichen Leiden zu
beschränken und die Behandlung der Geisteskrankheiten den Geistlichen vorzu¬
behalten. Von einer großen evangelischen Anstalt weiß ich sogar, daß sie noch
weniger Gebrauch von der Kunst des Arztes macht, als es das Kloster Maria¬
berg gethan hat. Jedenfalls lassen sich auch die beiden Anstaltsärzte nicht für


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[0271] Unser Jrrenivesen reizen. Da hat auch ein geschulter Wärter einen schweren Stand, der ungc- schulte aber weiß sich gar nicht zu helfen und verliert bald die Geduld. Be¬ sonders erschwert wurde den „Brüdern" ihre Stellung durch ihre geringe Zahl; an öffentlichen Anstalten sind für die gleiche Krankenzahl zwei- bis dreimal so viel Wärter thätig. Es hat also keinen Sinn, auf einzelne Personen einen Stein zu werfen, wo der Fehler an der ganzen Einrichtung liegt. Ganz thöricht aber ist der Vorwurf, den man der Staatsanwaltschaft gemacht hat, daß sie nicht selbst gegen die „Brüder" eingeschritten ist. Brüder sind keine Beamten, wie die Wärter öffentlicher Anstalten, gegen die der Staatsanwalt ohne weiteres vor¬ gehen kann. Gegen die Brüder konnte der Staatsanwalt nur auf Antrag der Geschädigten einschreiten. Will man die Kranken wirksamer schützen, so übergebe man sie nicht Leuten, die man hinterher nicht zur Verantwortung ziehen kann. Aber wie gesagt: die Hauptsache sind nicht die einzelnen Ausschreitungen, die Hauptsache ist die ganze Einrichtung. Unter den Ärzten ist es öffentliches Geheimnis, daß auch in andern geistlichen Anstalten und nicht nur in solchen, die Geisteskranke beherbergen, die Krnntenbehandlung ähnlich gehandhabt wird wie in Mariaberg. Aber was ist mit der bloßen Brandmarkung und Be¬ strafung der Missethäter geholfen? Fort mit der ganzen Einrichtung, die Laien an die Stelle des Sachverständigen setzt, denn sie wird immer wieder ähnliche Blüten hervortreiben. Es leuchtet jedermann ein, daß die Ärzte in Mariaberg eine klägliche Rolle gespielt haben. Zwei Ärzte waren abwechselnd ein Stündchen des Tages um die Kranken beschäftigt, im übrigen gingen sie ihrer Privatpraxis nach. Dabei waren ihnen im ganzen nicht weniger als sechshundertscchzig Kranke an¬ vertraut, wofür an öffentlichen Anstalten mindestens vier, gewöhnlich fünf Ärzte ihre ganze Zeit aufwenden. Die beiden Aachener Ärzte sind überdies ihrem Bildungsgange nach nicht als geschulte Psychiater anzusehen, und nach ihren Aussagen vor Gericht erscheinen sie auch nicht als solche, denn wer Geistes¬ kranke „nichtsnutzige Kerle" nennt und gegen ihre Schimpfreden die Zwangs¬ jacke verordnet, ist kein Psychiater. Sie werden sich Wohl fast nur um das körperliche Wohlbefinden ihrer Pfleglinge gekümmert haben, während die Be¬ handlung der geistigen Leiden den „Brüdern" überlassen war. Ganz so schlimm sieht es nun nicht an allen andern geistlichen Anstalten aus, manche verfügen wenigstens über eigne Arzte, doch besteht auch hier überall das offenkundige Bestreben, diese auf die Heilung der körperlichen Leiden zu beschränken und die Behandlung der Geisteskrankheiten den Geistlichen vorzu¬ behalten. Von einer großen evangelischen Anstalt weiß ich sogar, daß sie noch weniger Gebrauch von der Kunst des Arztes macht, als es das Kloster Maria¬ berg gethan hat. Jedenfalls lassen sich auch die beiden Anstaltsärzte nicht für

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220325/271>, abgerufen am 16.06.2024.