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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Drittes Vierteljahr.

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Alte Leute

Natürlich wissen die Jungen, daß sich auch ihr Sommer einst in Winter
wandeln wird. Aber das scheint ihnen noch unendlich lange hin. Wer
kümmert sich denn auf dem Wege, den er wandelt, um die Tagereisen, die er
in ferner Zukunft zurücklegen muß? Es ist immer nur die nächste Strecke,
in die er prüfend vorausblickt. Dem Knaben schwebt der Jüngling vor, dem
Jüngling der Mann. Und wie unendlich groß ist die Fülle der Gesichte
für den Zwanzigjährigen! Wie genußreich das Gefühl der Kraft, das ihn
durchströmt! Er weiß sich nicht zu retten vor all dem neuen Leben, das
von allen Seiten auf ihn eindringt, von innen wie von außen. Und da sollte
er Neigung haben, sich einen künstlichen Schauer anzufrösteln vor den fernen
Tagen, wo seine Pulse langsam schlagen werden, wo es nur noch ein Un¬
bekanntes für ihn geben wird: den Tod? Es wäre unnatürlich.

Wer aber schon ein halbes Jahrhundert hinter sich liegen hat, wer seine
schwerste Lebensarbeit gethan zu haben glaubt, der sieht den Herbst vor
sich mit seinen klaren, stillen, freundlichen Tagen, mit seiner milden Wärme
und dem Füllhorn voll von köstliche" Früchten, das er herantrügt und über
die Erde schüttet. Stunden der Ruhe, Stunden der Muße winken ihm.
Nun erst glaubt er, sein Leben auf die richtige Weise genießen zu können.
Seine Kinder hat er erzogen, so gut er es vermochte, und sie ins Leben ent¬
lassen. Sie sind seiner Leitung entwachsen und müssen sich selbst ihr Schicksal
schaffen. Wie eine Befreiung kommt es über ihn. Als er heiratete, wußte
er da, was ihm die Natur im Rausche der Liebe aufpackte? Dachte er daran,
daß er bei Unterzeichnung seiner Eheakten auf lange Jahre hinaus über einen
Teil seiner Kraft, seiner Zeit, seiner Bequemlichkeit zu Gunsten des nächsten
Geschlechts verfügte? Nein, so nüchtern war er nicht. Eine jener Illusionen,
die sich unfehlbar dann einstellen, wenn der Egoismus des Einzelnen zum
Nutzen der Gesamtheit gebeugt werden muß, fälschte sein Urteil.

Wohl denkt der Fünfzigjährige zuweilen an den Abstieg in das Thal
der Schatten, der anch ihm bevorsteht. Immer häufiger werden die Grau¬
köpfe unter feinen Bekannten. Aber noch weiß er sich auf der Lebenshöhe.
Er sieht unvollendete Aufgaben vor sich, die insbesondre ihm gesetzt sind, die
er keinem andern überlassen möchte; noch hält er sich für unentbehrlich an
der Stelle, die er in der Gesellschaft einnimmt. Und auch mit den Freuden
des Lebens hat er noch lange nicht abgeschlossen. Er ist Großvater geworden
und sieht nun das zweite Geschlecht heranwachsen, das ihm seinen Ursprung
verdankt. Die Enkel -- kaum mag er es sich gestehen -- sind ihm fast noch
lieber, als ihm die Kinder in demselben Alter waren. Er steht anders zu
ihnen, das Gefühl der Verantwortlichkeit für sie drückt ihn nicht, sie sind für
ihn Rosen ohne Dornen. Der Wunsch scheint ihm durchaus uicht vermessen,
noch die Mädchen im Myrtenkranz und die Knaben im Waffenrock zu sehen.
Dann mag das Abendrot kommen.


Alte Leute

Natürlich wissen die Jungen, daß sich auch ihr Sommer einst in Winter
wandeln wird. Aber das scheint ihnen noch unendlich lange hin. Wer
kümmert sich denn auf dem Wege, den er wandelt, um die Tagereisen, die er
in ferner Zukunft zurücklegen muß? Es ist immer nur die nächste Strecke,
in die er prüfend vorausblickt. Dem Knaben schwebt der Jüngling vor, dem
Jüngling der Mann. Und wie unendlich groß ist die Fülle der Gesichte
für den Zwanzigjährigen! Wie genußreich das Gefühl der Kraft, das ihn
durchströmt! Er weiß sich nicht zu retten vor all dem neuen Leben, das
von allen Seiten auf ihn eindringt, von innen wie von außen. Und da sollte
er Neigung haben, sich einen künstlichen Schauer anzufrösteln vor den fernen
Tagen, wo seine Pulse langsam schlagen werden, wo es nur noch ein Un¬
bekanntes für ihn geben wird: den Tod? Es wäre unnatürlich.

Wer aber schon ein halbes Jahrhundert hinter sich liegen hat, wer seine
schwerste Lebensarbeit gethan zu haben glaubt, der sieht den Herbst vor
sich mit seinen klaren, stillen, freundlichen Tagen, mit seiner milden Wärme
und dem Füllhorn voll von köstliche» Früchten, das er herantrügt und über
die Erde schüttet. Stunden der Ruhe, Stunden der Muße winken ihm.
Nun erst glaubt er, sein Leben auf die richtige Weise genießen zu können.
Seine Kinder hat er erzogen, so gut er es vermochte, und sie ins Leben ent¬
lassen. Sie sind seiner Leitung entwachsen und müssen sich selbst ihr Schicksal
schaffen. Wie eine Befreiung kommt es über ihn. Als er heiratete, wußte
er da, was ihm die Natur im Rausche der Liebe aufpackte? Dachte er daran,
daß er bei Unterzeichnung seiner Eheakten auf lange Jahre hinaus über einen
Teil seiner Kraft, seiner Zeit, seiner Bequemlichkeit zu Gunsten des nächsten
Geschlechts verfügte? Nein, so nüchtern war er nicht. Eine jener Illusionen,
die sich unfehlbar dann einstellen, wenn der Egoismus des Einzelnen zum
Nutzen der Gesamtheit gebeugt werden muß, fälschte sein Urteil.

Wohl denkt der Fünfzigjährige zuweilen an den Abstieg in das Thal
der Schatten, der anch ihm bevorsteht. Immer häufiger werden die Grau¬
köpfe unter feinen Bekannten. Aber noch weiß er sich auf der Lebenshöhe.
Er sieht unvollendete Aufgaben vor sich, die insbesondre ihm gesetzt sind, die
er keinem andern überlassen möchte; noch hält er sich für unentbehrlich an
der Stelle, die er in der Gesellschaft einnimmt. Und auch mit den Freuden
des Lebens hat er noch lange nicht abgeschlossen. Er ist Großvater geworden
und sieht nun das zweite Geschlecht heranwachsen, das ihm seinen Ursprung
verdankt. Die Enkel — kaum mag er es sich gestehen — sind ihm fast noch
lieber, als ihm die Kinder in demselben Alter waren. Er steht anders zu
ihnen, das Gefühl der Verantwortlichkeit für sie drückt ihn nicht, sie sind für
ihn Rosen ohne Dornen. Der Wunsch scheint ihm durchaus uicht vermessen,
noch die Mädchen im Myrtenkranz und die Knaben im Waffenrock zu sehen.
Dann mag das Abendrot kommen.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220325/287>, abgerufen am 11.05.2024.