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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Drittes Vierteljahr.

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Alte Leute

Ein Geburtstag folgt dem andern. Eines Tages hört der Fünfund-
fünfzigjährige, daß man hinter seinem Rücken von ihm als von dem alten
Herrn Soundso spricht. Er lächelt verächtlich. Er schlägt sich an die Brust:
"So lange sichs da drin noch regt, ist man nicht alt." Aber das Wort geht
ihm doch nach und klingt ihm bisweilen unbehaglich in den Ohren. Heimlich
wird der Spiegel zu Rate gezogen. Nun ja: die grauen Haare haben sich
in letzter Zeit gemehrt, im Barte oben auf den Kinnbacken haben sie schon
förmliche kleine Kolonien gebildet, und an den Schläfen schimmert es wie ein
leichter Reif. Und die Stirn ist ganz langsam ein paar Centimeter in die
Höhe gewachsen. Was aber will das sagen? Giebt es nicht eine Menge
gesunder junger Männer, die entweder grauen Haarschmuck tragen oder sich
eine Glatze gefallen lassen müssen?

Der Fünfundfünfzigjährige beruhigt sich. Er läßt sich vom Spiegel be¬
lehren, daß er allerdings nicht mehr so aussehe wie auf jener Photographie
an der Wand, die ihn als Bräutigam an der Seite einer blühenden Braut
darstellt. Natürlich nicht. Aber er sagt sich, daß er sich eigentlich zu seinem
Vorteil verändert habe. Die ehemals verschwommenen Züge haben feste
Prägung erhalten; in scharfen Linien tritt der ausgebildete Charakter hervor.
Und schließlich kommt er zu der Einsicht, daß jede Altersstufe ihre eigentüm¬
liche Art von Schönheit habe. Die be-ax jours fallen bei dem einen früh,
bei dem andern spät. Ein Mann kann noch mit siebzig Jahren das Ent¬
zücken aller Maler werden.

Damit hat jedoch bei dem Alternden das Nachdenken eingesetzt. Nun
möchte er der Frage auf den Grund kommen, wo der Mittagsmeridian des
Lebens gezogen sei. Er wendet sich an die Wissenschaft und erfährt von
einem Chemiker, daß der menschliche Körper bei voller Arbeitsleistung etwa
vom dreißigsten bis zum fünfundvierzigsten Lebensjahre seine größte Menge
an Kohlenstoff verbrenne, von da an aber immer weniger.

Darnach also stünde er bereits seit zehn Jahren in der Liste der Ab¬
reisenden. Das hat er gar nicht gemerkt. Jedenfalls ist er nicht in einen
Schnellzug eingestiegen, sondern in eine altmodische Postkutsche, mit der sichs
reizend hintrödelt.

Auf dem nächsten Meilenstein erscheint die Ziffer Sechzig und gleitet
vorüber. Muß sich der Fahrende jetzt gefallen lassen, alt genannt zu werden?
Er überlegt. Allerdings: Allotria treibt er nicht mehr. Wettfahrten auf
dem Rade unterbleiben, und die Beteiligung an einem Fußballspiel ist aus¬
geschlossen. Ein spätes Mittagessen von sechs Gängen mit schweren Weinen,
das sich bis in die Morgenstunden hinzieht, ist zu einer gefürchteten Plage
geworden. Es macht sich leise ein Bedürfnis nach Wärme bemerkbar; die
Widerstandsfähigkeit gegen schädliche klimatische Einflüsse nimmt langsam ab.
Dein Sturm, dem Rege", dein Wind entgegen -- daran ist kein Gedanke


Alte Leute

Ein Geburtstag folgt dem andern. Eines Tages hört der Fünfund-
fünfzigjährige, daß man hinter seinem Rücken von ihm als von dem alten
Herrn Soundso spricht. Er lächelt verächtlich. Er schlägt sich an die Brust:
„So lange sichs da drin noch regt, ist man nicht alt." Aber das Wort geht
ihm doch nach und klingt ihm bisweilen unbehaglich in den Ohren. Heimlich
wird der Spiegel zu Rate gezogen. Nun ja: die grauen Haare haben sich
in letzter Zeit gemehrt, im Barte oben auf den Kinnbacken haben sie schon
förmliche kleine Kolonien gebildet, und an den Schläfen schimmert es wie ein
leichter Reif. Und die Stirn ist ganz langsam ein paar Centimeter in die
Höhe gewachsen. Was aber will das sagen? Giebt es nicht eine Menge
gesunder junger Männer, die entweder grauen Haarschmuck tragen oder sich
eine Glatze gefallen lassen müssen?

Der Fünfundfünfzigjährige beruhigt sich. Er läßt sich vom Spiegel be¬
lehren, daß er allerdings nicht mehr so aussehe wie auf jener Photographie
an der Wand, die ihn als Bräutigam an der Seite einer blühenden Braut
darstellt. Natürlich nicht. Aber er sagt sich, daß er sich eigentlich zu seinem
Vorteil verändert habe. Die ehemals verschwommenen Züge haben feste
Prägung erhalten; in scharfen Linien tritt der ausgebildete Charakter hervor.
Und schließlich kommt er zu der Einsicht, daß jede Altersstufe ihre eigentüm¬
liche Art von Schönheit habe. Die be-ax jours fallen bei dem einen früh,
bei dem andern spät. Ein Mann kann noch mit siebzig Jahren das Ent¬
zücken aller Maler werden.

Damit hat jedoch bei dem Alternden das Nachdenken eingesetzt. Nun
möchte er der Frage auf den Grund kommen, wo der Mittagsmeridian des
Lebens gezogen sei. Er wendet sich an die Wissenschaft und erfährt von
einem Chemiker, daß der menschliche Körper bei voller Arbeitsleistung etwa
vom dreißigsten bis zum fünfundvierzigsten Lebensjahre seine größte Menge
an Kohlenstoff verbrenne, von da an aber immer weniger.

Darnach also stünde er bereits seit zehn Jahren in der Liste der Ab¬
reisenden. Das hat er gar nicht gemerkt. Jedenfalls ist er nicht in einen
Schnellzug eingestiegen, sondern in eine altmodische Postkutsche, mit der sichs
reizend hintrödelt.

Auf dem nächsten Meilenstein erscheint die Ziffer Sechzig und gleitet
vorüber. Muß sich der Fahrende jetzt gefallen lassen, alt genannt zu werden?
Er überlegt. Allerdings: Allotria treibt er nicht mehr. Wettfahrten auf
dem Rade unterbleiben, und die Beteiligung an einem Fußballspiel ist aus¬
geschlossen. Ein spätes Mittagessen von sechs Gängen mit schweren Weinen,
das sich bis in die Morgenstunden hinzieht, ist zu einer gefürchteten Plage
geworden. Es macht sich leise ein Bedürfnis nach Wärme bemerkbar; die
Widerstandsfähigkeit gegen schädliche klimatische Einflüsse nimmt langsam ab.
Dein Sturm, dem Rege», dein Wind entgegen — daran ist kein Gedanke


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[0288] Alte Leute Ein Geburtstag folgt dem andern. Eines Tages hört der Fünfund- fünfzigjährige, daß man hinter seinem Rücken von ihm als von dem alten Herrn Soundso spricht. Er lächelt verächtlich. Er schlägt sich an die Brust: „So lange sichs da drin noch regt, ist man nicht alt." Aber das Wort geht ihm doch nach und klingt ihm bisweilen unbehaglich in den Ohren. Heimlich wird der Spiegel zu Rate gezogen. Nun ja: die grauen Haare haben sich in letzter Zeit gemehrt, im Barte oben auf den Kinnbacken haben sie schon förmliche kleine Kolonien gebildet, und an den Schläfen schimmert es wie ein leichter Reif. Und die Stirn ist ganz langsam ein paar Centimeter in die Höhe gewachsen. Was aber will das sagen? Giebt es nicht eine Menge gesunder junger Männer, die entweder grauen Haarschmuck tragen oder sich eine Glatze gefallen lassen müssen? Der Fünfundfünfzigjährige beruhigt sich. Er läßt sich vom Spiegel be¬ lehren, daß er allerdings nicht mehr so aussehe wie auf jener Photographie an der Wand, die ihn als Bräutigam an der Seite einer blühenden Braut darstellt. Natürlich nicht. Aber er sagt sich, daß er sich eigentlich zu seinem Vorteil verändert habe. Die ehemals verschwommenen Züge haben feste Prägung erhalten; in scharfen Linien tritt der ausgebildete Charakter hervor. Und schließlich kommt er zu der Einsicht, daß jede Altersstufe ihre eigentüm¬ liche Art von Schönheit habe. Die be-ax jours fallen bei dem einen früh, bei dem andern spät. Ein Mann kann noch mit siebzig Jahren das Ent¬ zücken aller Maler werden. Damit hat jedoch bei dem Alternden das Nachdenken eingesetzt. Nun möchte er der Frage auf den Grund kommen, wo der Mittagsmeridian des Lebens gezogen sei. Er wendet sich an die Wissenschaft und erfährt von einem Chemiker, daß der menschliche Körper bei voller Arbeitsleistung etwa vom dreißigsten bis zum fünfundvierzigsten Lebensjahre seine größte Menge an Kohlenstoff verbrenne, von da an aber immer weniger. Darnach also stünde er bereits seit zehn Jahren in der Liste der Ab¬ reisenden. Das hat er gar nicht gemerkt. Jedenfalls ist er nicht in einen Schnellzug eingestiegen, sondern in eine altmodische Postkutsche, mit der sichs reizend hintrödelt. Auf dem nächsten Meilenstein erscheint die Ziffer Sechzig und gleitet vorüber. Muß sich der Fahrende jetzt gefallen lassen, alt genannt zu werden? Er überlegt. Allerdings: Allotria treibt er nicht mehr. Wettfahrten auf dem Rade unterbleiben, und die Beteiligung an einem Fußballspiel ist aus¬ geschlossen. Ein spätes Mittagessen von sechs Gängen mit schweren Weinen, das sich bis in die Morgenstunden hinzieht, ist zu einer gefürchteten Plage geworden. Es macht sich leise ein Bedürfnis nach Wärme bemerkbar; die Widerstandsfähigkeit gegen schädliche klimatische Einflüsse nimmt langsam ab. Dein Sturm, dem Rege», dein Wind entgegen — daran ist kein Gedanke

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220325/288>, abgerufen am 05.06.2024.