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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Drittes Vierteljahr.

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Alte Leute

sind noch -- die Schutzwehren gegen das allzu stürmisch andrängende Neue.
Die Alten vertreten die beharrende Kraft in der rollenden Kugel, die Nach¬
wirkung ehemaliger Stöße. Der neue Antrieb nach rechts oder links geht
von geistigen Strömungen aus, die der Greis unbehaglich empfindet.

Nicht alles ist Fortschritt, was von der großen Masse der Lebenden
dafür gehalten wird. Sicher ist aber, daß die Herrschaft der Alten Stillstand
bedeuten würde. Neue Ideen gebiert das Alter nicht mehr. Und alle Er¬
fahrung hat nur einen relativen Wert. Auch hat sie niemals, wie die Welt
einmal ist, das letzte Wort gesprochen. Haben jemals die Väter ihre Sohne,
die Mütter ihre Töchter vor Thorheiten bewahren können? Wäre es auch
nur wünschenswert, daß die Erziehung leisten könnte, was fanatische Päda¬
gogen von ihr-verlangen? Schleppt sich nicht schon genug von Geschlecht zu
Geschlecht weiter, das längst wert war, zu Grunde zu gehen?

Gewiß ist die in den Köpfen der Alten aufgespeicherte Lebensweisheit
ein kostbares Gut. Aber nur in Zeiten der Stille macht sie sich vernehmbar.
Auf dem lauten Markte, in dem Brausen des Sturmes ist sie nur ein ein¬
ziger Ton unter vielen. Besserwissenwollen ist das natürliche Vorrecht der
Jungen, der Aufwürtsstrebenden. Laßt uns auch einmal an das Regiment,
das ihr lange genug geführt habt! rufen beständig die Jungen und drängen
die Alten unbarmherzig von den Ratsstühlen. Diese Bewegung vollzieht sich
beständig in allen Kreisen der Gesellschaft, meistens in den Formen achtungs¬
voller Höflichkeit, manchmal aber auch unter heftigen Fehden. Und immer
ist der Sieg bei den Jungen. Das ist der Lauf der Welt. Deshalb gieb
nach, Alter, gieb beizeiten nach! Zum freiwilligen Rückzüge werden dir Fan¬
faren geblasen, den unfreiwilligen mußt du ohne Sang und Klang vollziehen.
Ein "effektvoller" Abgang von der Bühne ist das letzte, was du dir sichern
kannst. Sich selbst überleben -- schmerzlichstes Schicksal der Staubgebornen!

Jede Lebensstufe hat ihren besondern Charakter, den sie mehr oder we¬
niger rein ausprägt. Beim Austritt aus dem Kindesalter sangen freilich die
Grenzen an sich zu verwischen. Das dauert so lange, bis das Greisenalter
erreicht ist. Kind und Greis -- die beiden Extreme -- kommen am deut¬
lichsten zur Darstellung. Und es muß wohl zwischen ihnen eine gewisse Wesens-
nhnlichleit sein. Daher kommt es, daß zwischen alten Leuten und dem kleinen
Volk häufig ein inniges Freundschaftsverhältnis angetroffen wird. Die alten
Lieblinge der Kinder sind nicht etwa in Stumpfsinn versunkne Greise und
Greisinnen; mit solchen weiß schon ein aufgeweckter Dreijähriger nichts rechtes
anzufangen und erkennt mit erstaunlichem Scharfblick ihre Gebrechen, für die
er keine Spur von Mitleid hat. Nein, es find die zur Milde und Güte
durchgereiften, die alle Äußerungen der reinen, unverfälschten Natur mit freund¬
lichem Lächeln und liebevollem Verständnis betrachten. Es sind die glücklichen
Naturen, die nnverbittert die Enttäuschungen des Lebens über sich haben er-


Alte Leute

sind noch — die Schutzwehren gegen das allzu stürmisch andrängende Neue.
Die Alten vertreten die beharrende Kraft in der rollenden Kugel, die Nach¬
wirkung ehemaliger Stöße. Der neue Antrieb nach rechts oder links geht
von geistigen Strömungen aus, die der Greis unbehaglich empfindet.

Nicht alles ist Fortschritt, was von der großen Masse der Lebenden
dafür gehalten wird. Sicher ist aber, daß die Herrschaft der Alten Stillstand
bedeuten würde. Neue Ideen gebiert das Alter nicht mehr. Und alle Er¬
fahrung hat nur einen relativen Wert. Auch hat sie niemals, wie die Welt
einmal ist, das letzte Wort gesprochen. Haben jemals die Väter ihre Sohne,
die Mütter ihre Töchter vor Thorheiten bewahren können? Wäre es auch
nur wünschenswert, daß die Erziehung leisten könnte, was fanatische Päda¬
gogen von ihr-verlangen? Schleppt sich nicht schon genug von Geschlecht zu
Geschlecht weiter, das längst wert war, zu Grunde zu gehen?

Gewiß ist die in den Köpfen der Alten aufgespeicherte Lebensweisheit
ein kostbares Gut. Aber nur in Zeiten der Stille macht sie sich vernehmbar.
Auf dem lauten Markte, in dem Brausen des Sturmes ist sie nur ein ein¬
ziger Ton unter vielen. Besserwissenwollen ist das natürliche Vorrecht der
Jungen, der Aufwürtsstrebenden. Laßt uns auch einmal an das Regiment,
das ihr lange genug geführt habt! rufen beständig die Jungen und drängen
die Alten unbarmherzig von den Ratsstühlen. Diese Bewegung vollzieht sich
beständig in allen Kreisen der Gesellschaft, meistens in den Formen achtungs¬
voller Höflichkeit, manchmal aber auch unter heftigen Fehden. Und immer
ist der Sieg bei den Jungen. Das ist der Lauf der Welt. Deshalb gieb
nach, Alter, gieb beizeiten nach! Zum freiwilligen Rückzüge werden dir Fan¬
faren geblasen, den unfreiwilligen mußt du ohne Sang und Klang vollziehen.
Ein „effektvoller" Abgang von der Bühne ist das letzte, was du dir sichern
kannst. Sich selbst überleben — schmerzlichstes Schicksal der Staubgebornen!

Jede Lebensstufe hat ihren besondern Charakter, den sie mehr oder we¬
niger rein ausprägt. Beim Austritt aus dem Kindesalter sangen freilich die
Grenzen an sich zu verwischen. Das dauert so lange, bis das Greisenalter
erreicht ist. Kind und Greis — die beiden Extreme — kommen am deut¬
lichsten zur Darstellung. Und es muß wohl zwischen ihnen eine gewisse Wesens-
nhnlichleit sein. Daher kommt es, daß zwischen alten Leuten und dem kleinen
Volk häufig ein inniges Freundschaftsverhältnis angetroffen wird. Die alten
Lieblinge der Kinder sind nicht etwa in Stumpfsinn versunkne Greise und
Greisinnen; mit solchen weiß schon ein aufgeweckter Dreijähriger nichts rechtes
anzufangen und erkennt mit erstaunlichem Scharfblick ihre Gebrechen, für die
er keine Spur von Mitleid hat. Nein, es find die zur Milde und Güte
durchgereiften, die alle Äußerungen der reinen, unverfälschten Natur mit freund¬
lichem Lächeln und liebevollem Verständnis betrachten. Es sind die glücklichen
Naturen, die nnverbittert die Enttäuschungen des Lebens über sich haben er-


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[0291] Alte Leute sind noch — die Schutzwehren gegen das allzu stürmisch andrängende Neue. Die Alten vertreten die beharrende Kraft in der rollenden Kugel, die Nach¬ wirkung ehemaliger Stöße. Der neue Antrieb nach rechts oder links geht von geistigen Strömungen aus, die der Greis unbehaglich empfindet. Nicht alles ist Fortschritt, was von der großen Masse der Lebenden dafür gehalten wird. Sicher ist aber, daß die Herrschaft der Alten Stillstand bedeuten würde. Neue Ideen gebiert das Alter nicht mehr. Und alle Er¬ fahrung hat nur einen relativen Wert. Auch hat sie niemals, wie die Welt einmal ist, das letzte Wort gesprochen. Haben jemals die Väter ihre Sohne, die Mütter ihre Töchter vor Thorheiten bewahren können? Wäre es auch nur wünschenswert, daß die Erziehung leisten könnte, was fanatische Päda¬ gogen von ihr-verlangen? Schleppt sich nicht schon genug von Geschlecht zu Geschlecht weiter, das längst wert war, zu Grunde zu gehen? Gewiß ist die in den Köpfen der Alten aufgespeicherte Lebensweisheit ein kostbares Gut. Aber nur in Zeiten der Stille macht sie sich vernehmbar. Auf dem lauten Markte, in dem Brausen des Sturmes ist sie nur ein ein¬ ziger Ton unter vielen. Besserwissenwollen ist das natürliche Vorrecht der Jungen, der Aufwürtsstrebenden. Laßt uns auch einmal an das Regiment, das ihr lange genug geführt habt! rufen beständig die Jungen und drängen die Alten unbarmherzig von den Ratsstühlen. Diese Bewegung vollzieht sich beständig in allen Kreisen der Gesellschaft, meistens in den Formen achtungs¬ voller Höflichkeit, manchmal aber auch unter heftigen Fehden. Und immer ist der Sieg bei den Jungen. Das ist der Lauf der Welt. Deshalb gieb nach, Alter, gieb beizeiten nach! Zum freiwilligen Rückzüge werden dir Fan¬ faren geblasen, den unfreiwilligen mußt du ohne Sang und Klang vollziehen. Ein „effektvoller" Abgang von der Bühne ist das letzte, was du dir sichern kannst. Sich selbst überleben — schmerzlichstes Schicksal der Staubgebornen! Jede Lebensstufe hat ihren besondern Charakter, den sie mehr oder we¬ niger rein ausprägt. Beim Austritt aus dem Kindesalter sangen freilich die Grenzen an sich zu verwischen. Das dauert so lange, bis das Greisenalter erreicht ist. Kind und Greis — die beiden Extreme — kommen am deut¬ lichsten zur Darstellung. Und es muß wohl zwischen ihnen eine gewisse Wesens- nhnlichleit sein. Daher kommt es, daß zwischen alten Leuten und dem kleinen Volk häufig ein inniges Freundschaftsverhältnis angetroffen wird. Die alten Lieblinge der Kinder sind nicht etwa in Stumpfsinn versunkne Greise und Greisinnen; mit solchen weiß schon ein aufgeweckter Dreijähriger nichts rechtes anzufangen und erkennt mit erstaunlichem Scharfblick ihre Gebrechen, für die er keine Spur von Mitleid hat. Nein, es find die zur Milde und Güte durchgereiften, die alle Äußerungen der reinen, unverfälschten Natur mit freund¬ lichem Lächeln und liebevollem Verständnis betrachten. Es sind die glücklichen Naturen, die nnverbittert die Enttäuschungen des Lebens über sich haben er-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220325/291>, abgerufen am 28.05.2024.