Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Der Zug nach dein Osten

wäre nicht ausgeschlossen, wenn deutsche Kultur in die slawische Bevölkerung
der Balkanhalbinsel auf friedlichem Wege Zugang funde: nach Bildung ein¬
zelner kolonialer Gruppen würde mit der Zeit ein Zusammenschluß stattfinden,
der, wenn nicht zu einem deutschen Kolonialstaat, so doch zu staatlichen Ge¬
staltungen führen könnte, in denen die Deutschen in ihrer Eigentümlichkeit be-
harrten und eine maßgebende Macht werden würden, denn vom slawischen
Stamme würden sie nicht aufgesogen werden, wie vom anglosüchsischen.

Es könnte gegen diese Auffassung der Einwand erhoben werden, daß die
starke Einwanderung und die Ansiedlung Deutscher in den südwestlichen Pro¬
vinzen Rußlands und in den Steppen der Wolgagegend keinen bildenden Ein¬
fluß auf die russische Bevölkerung ausgeübt haben. Aber die Sachlage ist hier
eine andre. Die ansässige slawische Bevölkerung bildet hier eine feste Masse,
während sie sich aus der Balkanhalbinsel, wie schon bei einem Blick auf die
Völkerkarte Bosniens zu ersehen ist, mehr in versprengten Gruppen zusammen¬
hält. Das russische Reich mit seiner autokratischen Zentralisation gewährt
Fremden nicht leicht Spielraum. Statt sich an dem deutschen Kolonisten ein
Beispiel zu nehmen, verharrt der Südrusse in Trägheit und Trunksucht und
verliert Jahr für Jahr mehr an Bodenbesitz. Während die Kolonisten den
Boden verbesserten, verödeten die Russen durch Raubbau die fruchtbaren Ge¬
genden der "schwarzen Erde" und wanderten nach Osten aus, in die nächst¬
liegenden anbaufähigen Gegenden Sibiriens. Die Auswanderung wurde um
so notwendiger und wurde von der Regierung orgcinisirt, als der mit dem
leidigen Gemeindebesitz aus der Zeit der Leibeigenschaft stammende Grundsatz,
daß jeder Bauer eignes Land besitzen müsse, bei der Zunahme der Bevölke¬
rung nicht mehr durchgeführt werden konnte.

Diese Umstände wirkten zusammen, den zahlreichen deutschen Kolonisten
das Leben zu verleiden. Statt durch Volkserziehung die einheimische Bevölke¬
rung auf eine höhere sittliche Stufe zu bringen und konkurrenzfähig zu machen,
hat die Regierung unter dem Druck der panslawistischen Strömung der Ein¬
wanderung Hindernisse aller Art bereitet, sodaß sie zurückgegangen ist. Ma߬
gebend ist dabei dieselbe Verblendung, die eine feindselige Stimmung gegen die
ihrer Nationalität nach nichtrussischen Provinzen unterhält. Finnland, die Ost¬
seeprovinzen und Polen haben die aus dem Westen überkvmmne Kultur zu
pflegen gewußt. Jetzt fuhrt die Staatsräson zu einer öden Gleichmacherei.
In seltsamem Widerspruch zu der dem Russen eigentümlichen Ironie, mit der
er die innern Schäden des Reichs oft in cynischer Weise aufdeckt, steht die
nationale Selbstüberhebung, die nicht nur in der Tagespresse, sondern auch
bei Schriftstellern ersten Ranges grell hervortritt. Gogol schildert in seinen
"Toten Seelen" meisterhaft die Fäulnis der russischen sozialen Zustände und
vergleicht doch am Schluß des ersten Teils Rußland mit einem feurigen Drei¬
gespann, das unaufhaltsam prächtig dcchinsaust. "An allem, was auf der Erde


Der Zug nach dein Osten

wäre nicht ausgeschlossen, wenn deutsche Kultur in die slawische Bevölkerung
der Balkanhalbinsel auf friedlichem Wege Zugang funde: nach Bildung ein¬
zelner kolonialer Gruppen würde mit der Zeit ein Zusammenschluß stattfinden,
der, wenn nicht zu einem deutschen Kolonialstaat, so doch zu staatlichen Ge¬
staltungen führen könnte, in denen die Deutschen in ihrer Eigentümlichkeit be-
harrten und eine maßgebende Macht werden würden, denn vom slawischen
Stamme würden sie nicht aufgesogen werden, wie vom anglosüchsischen.

Es könnte gegen diese Auffassung der Einwand erhoben werden, daß die
starke Einwanderung und die Ansiedlung Deutscher in den südwestlichen Pro¬
vinzen Rußlands und in den Steppen der Wolgagegend keinen bildenden Ein¬
fluß auf die russische Bevölkerung ausgeübt haben. Aber die Sachlage ist hier
eine andre. Die ansässige slawische Bevölkerung bildet hier eine feste Masse,
während sie sich aus der Balkanhalbinsel, wie schon bei einem Blick auf die
Völkerkarte Bosniens zu ersehen ist, mehr in versprengten Gruppen zusammen¬
hält. Das russische Reich mit seiner autokratischen Zentralisation gewährt
Fremden nicht leicht Spielraum. Statt sich an dem deutschen Kolonisten ein
Beispiel zu nehmen, verharrt der Südrusse in Trägheit und Trunksucht und
verliert Jahr für Jahr mehr an Bodenbesitz. Während die Kolonisten den
Boden verbesserten, verödeten die Russen durch Raubbau die fruchtbaren Ge¬
genden der „schwarzen Erde" und wanderten nach Osten aus, in die nächst¬
liegenden anbaufähigen Gegenden Sibiriens. Die Auswanderung wurde um
so notwendiger und wurde von der Regierung orgcinisirt, als der mit dem
leidigen Gemeindebesitz aus der Zeit der Leibeigenschaft stammende Grundsatz,
daß jeder Bauer eignes Land besitzen müsse, bei der Zunahme der Bevölke¬
rung nicht mehr durchgeführt werden konnte.

Diese Umstände wirkten zusammen, den zahlreichen deutschen Kolonisten
das Leben zu verleiden. Statt durch Volkserziehung die einheimische Bevölke¬
rung auf eine höhere sittliche Stufe zu bringen und konkurrenzfähig zu machen,
hat die Regierung unter dem Druck der panslawistischen Strömung der Ein¬
wanderung Hindernisse aller Art bereitet, sodaß sie zurückgegangen ist. Ma߬
gebend ist dabei dieselbe Verblendung, die eine feindselige Stimmung gegen die
ihrer Nationalität nach nichtrussischen Provinzen unterhält. Finnland, die Ost¬
seeprovinzen und Polen haben die aus dem Westen überkvmmne Kultur zu
pflegen gewußt. Jetzt fuhrt die Staatsräson zu einer öden Gleichmacherei.
In seltsamem Widerspruch zu der dem Russen eigentümlichen Ironie, mit der
er die innern Schäden des Reichs oft in cynischer Weise aufdeckt, steht die
nationale Selbstüberhebung, die nicht nur in der Tagespresse, sondern auch
bei Schriftstellern ersten Ranges grell hervortritt. Gogol schildert in seinen
„Toten Seelen" meisterhaft die Fäulnis der russischen sozialen Zustände und
vergleicht doch am Schluß des ersten Teils Rußland mit einem feurigen Drei¬
gespann, das unaufhaltsam prächtig dcchinsaust. „An allem, was auf der Erde


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0309" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/220635"/>
          <fw type="header" place="top"> Der Zug nach dein Osten</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1320" prev="#ID_1319"> wäre nicht ausgeschlossen, wenn deutsche Kultur in die slawische Bevölkerung<lb/>
der Balkanhalbinsel auf friedlichem Wege Zugang funde: nach Bildung ein¬<lb/>
zelner kolonialer Gruppen würde mit der Zeit ein Zusammenschluß stattfinden,<lb/>
der, wenn nicht zu einem deutschen Kolonialstaat, so doch zu staatlichen Ge¬<lb/>
staltungen führen könnte, in denen die Deutschen in ihrer Eigentümlichkeit be-<lb/>
harrten und eine maßgebende Macht werden würden, denn vom slawischen<lb/>
Stamme würden sie nicht aufgesogen werden, wie vom anglosüchsischen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1321"> Es könnte gegen diese Auffassung der Einwand erhoben werden, daß die<lb/>
starke Einwanderung und die Ansiedlung Deutscher in den südwestlichen Pro¬<lb/>
vinzen Rußlands und in den Steppen der Wolgagegend keinen bildenden Ein¬<lb/>
fluß auf die russische Bevölkerung ausgeübt haben. Aber die Sachlage ist hier<lb/>
eine andre. Die ansässige slawische Bevölkerung bildet hier eine feste Masse,<lb/>
während sie sich aus der Balkanhalbinsel, wie schon bei einem Blick auf die<lb/>
Völkerkarte Bosniens zu ersehen ist, mehr in versprengten Gruppen zusammen¬<lb/>
hält. Das russische Reich mit seiner autokratischen Zentralisation gewährt<lb/>
Fremden nicht leicht Spielraum. Statt sich an dem deutschen Kolonisten ein<lb/>
Beispiel zu nehmen, verharrt der Südrusse in Trägheit und Trunksucht und<lb/>
verliert Jahr für Jahr mehr an Bodenbesitz. Während die Kolonisten den<lb/>
Boden verbesserten, verödeten die Russen durch Raubbau die fruchtbaren Ge¬<lb/>
genden der &#x201E;schwarzen Erde" und wanderten nach Osten aus, in die nächst¬<lb/>
liegenden anbaufähigen Gegenden Sibiriens. Die Auswanderung wurde um<lb/>
so notwendiger und wurde von der Regierung orgcinisirt, als der mit dem<lb/>
leidigen Gemeindebesitz aus der Zeit der Leibeigenschaft stammende Grundsatz,<lb/>
daß jeder Bauer eignes Land besitzen müsse, bei der Zunahme der Bevölke¬<lb/>
rung nicht mehr durchgeführt werden konnte.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1322" next="#ID_1323"> Diese Umstände wirkten zusammen, den zahlreichen deutschen Kolonisten<lb/>
das Leben zu verleiden. Statt durch Volkserziehung die einheimische Bevölke¬<lb/>
rung auf eine höhere sittliche Stufe zu bringen und konkurrenzfähig zu machen,<lb/>
hat die Regierung unter dem Druck der panslawistischen Strömung der Ein¬<lb/>
wanderung Hindernisse aller Art bereitet, sodaß sie zurückgegangen ist. Ma߬<lb/>
gebend ist dabei dieselbe Verblendung, die eine feindselige Stimmung gegen die<lb/>
ihrer Nationalität nach nichtrussischen Provinzen unterhält. Finnland, die Ost¬<lb/>
seeprovinzen und Polen haben die aus dem Westen überkvmmne Kultur zu<lb/>
pflegen gewußt. Jetzt fuhrt die Staatsräson zu einer öden Gleichmacherei.<lb/>
In seltsamem Widerspruch zu der dem Russen eigentümlichen Ironie, mit der<lb/>
er die innern Schäden des Reichs oft in cynischer Weise aufdeckt, steht die<lb/>
nationale Selbstüberhebung, die nicht nur in der Tagespresse, sondern auch<lb/>
bei Schriftstellern ersten Ranges grell hervortritt. Gogol schildert in seinen<lb/>
&#x201E;Toten Seelen" meisterhaft die Fäulnis der russischen sozialen Zustände und<lb/>
vergleicht doch am Schluß des ersten Teils Rußland mit einem feurigen Drei¬<lb/>
gespann, das unaufhaltsam prächtig dcchinsaust. &#x201E;An allem, was auf der Erde</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0309] Der Zug nach dein Osten wäre nicht ausgeschlossen, wenn deutsche Kultur in die slawische Bevölkerung der Balkanhalbinsel auf friedlichem Wege Zugang funde: nach Bildung ein¬ zelner kolonialer Gruppen würde mit der Zeit ein Zusammenschluß stattfinden, der, wenn nicht zu einem deutschen Kolonialstaat, so doch zu staatlichen Ge¬ staltungen führen könnte, in denen die Deutschen in ihrer Eigentümlichkeit be- harrten und eine maßgebende Macht werden würden, denn vom slawischen Stamme würden sie nicht aufgesogen werden, wie vom anglosüchsischen. Es könnte gegen diese Auffassung der Einwand erhoben werden, daß die starke Einwanderung und die Ansiedlung Deutscher in den südwestlichen Pro¬ vinzen Rußlands und in den Steppen der Wolgagegend keinen bildenden Ein¬ fluß auf die russische Bevölkerung ausgeübt haben. Aber die Sachlage ist hier eine andre. Die ansässige slawische Bevölkerung bildet hier eine feste Masse, während sie sich aus der Balkanhalbinsel, wie schon bei einem Blick auf die Völkerkarte Bosniens zu ersehen ist, mehr in versprengten Gruppen zusammen¬ hält. Das russische Reich mit seiner autokratischen Zentralisation gewährt Fremden nicht leicht Spielraum. Statt sich an dem deutschen Kolonisten ein Beispiel zu nehmen, verharrt der Südrusse in Trägheit und Trunksucht und verliert Jahr für Jahr mehr an Bodenbesitz. Während die Kolonisten den Boden verbesserten, verödeten die Russen durch Raubbau die fruchtbaren Ge¬ genden der „schwarzen Erde" und wanderten nach Osten aus, in die nächst¬ liegenden anbaufähigen Gegenden Sibiriens. Die Auswanderung wurde um so notwendiger und wurde von der Regierung orgcinisirt, als der mit dem leidigen Gemeindebesitz aus der Zeit der Leibeigenschaft stammende Grundsatz, daß jeder Bauer eignes Land besitzen müsse, bei der Zunahme der Bevölke¬ rung nicht mehr durchgeführt werden konnte. Diese Umstände wirkten zusammen, den zahlreichen deutschen Kolonisten das Leben zu verleiden. Statt durch Volkserziehung die einheimische Bevölke¬ rung auf eine höhere sittliche Stufe zu bringen und konkurrenzfähig zu machen, hat die Regierung unter dem Druck der panslawistischen Strömung der Ein¬ wanderung Hindernisse aller Art bereitet, sodaß sie zurückgegangen ist. Ma߬ gebend ist dabei dieselbe Verblendung, die eine feindselige Stimmung gegen die ihrer Nationalität nach nichtrussischen Provinzen unterhält. Finnland, die Ost¬ seeprovinzen und Polen haben die aus dem Westen überkvmmne Kultur zu pflegen gewußt. Jetzt fuhrt die Staatsräson zu einer öden Gleichmacherei. In seltsamem Widerspruch zu der dem Russen eigentümlichen Ironie, mit der er die innern Schäden des Reichs oft in cynischer Weise aufdeckt, steht die nationale Selbstüberhebung, die nicht nur in der Tagespresse, sondern auch bei Schriftstellern ersten Ranges grell hervortritt. Gogol schildert in seinen „Toten Seelen" meisterhaft die Fäulnis der russischen sozialen Zustände und vergleicht doch am Schluß des ersten Teils Rußland mit einem feurigen Drei¬ gespann, das unaufhaltsam prächtig dcchinsaust. „An allem, was auf der Erde

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220325
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220325/309
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220325/309>, abgerufen am 16.06.2024.