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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Drittes Vierteljahr.

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Der Zug nach dem Vsten

ist, fliegt es vorbei, und die andern Völker und Reiche treten beiseite und
geben ihm Raum."

Daß unter solchen Umständen die deutsche Kolonisation in Rußland keinen
Bestand gewinnen und befruchtend wirken kann, ist ebenso selbstverständlich,
wie es unrichtig wäre, hieraus ein ungünstiges Zeichen sür eine deutsche Ko¬
lonisation in deu jetzt noch unter türkischer Botmäßigkeit stehenden Ländern
zu sehen. Daß sich so mächtige Wanderungen und Verschiebungen nicht nur
ans friedlichem Wege vollziehen, ist allerdings nicht zu bestreiten, doch dürften
sich manche Umstände gerade in unsrer Zeit als günstig erweisen.

Das durch eignes Mißgeschick Verlorne Ansehen in den Balkanstaaten hat
die russische Oricntpolitik auf Konstantinopel zwar nicht verzichten lassen, wohl
aber ist ihre Aufmerksamkeit zur Zeit auf andre Dinge abgelenkt. In den
letzten Jahrzehnten hat Rußland jenseits des Urals und des Kaspischen Meeres
seiner Botmäßigkeit riesige Lnnderstrecken unterworfen. Zu dem General¬
gouvernement Turkestan mit Taschkend wurde Ferghana und Kaschgar erworben;
Chiwa und Vochara fristen ein Scheinleben; erst ans dem Hochplateau Pamirs
findet der Vorstoß durch England ein Hemmnis. Mag der Kultureinflusz
Rußlands in jenen Gegenden, nach dein Maßstab der europäischen Kultur ge¬
messen, noch so kärglich sein, so läßt sich doch im ganzen ein gewisses Geschick
in der Behandlung jener barbarischen Völker nicht verkennen, wobei sich eine
Verwandtschaft der Russen mit diesen asiatischen Nomadenstämmen geltend ge¬
macht haben mag. Wo die ansässige Bevölkerung den wasserarmen Boden
durch künstliche Bewässerung ergiebig gemacht hatte, soll freilich diese Kultur
seit der russischen Besetzung in Verfall geraten sein. Der Nüsse hat keinen
Sinn für die Pflege solcher mühsamen Anlagen.

Neben dem Vordringen in Zentralasien beginnt Sibirien die Thätigkeit
der russischen Regierung in hohem Grade in Anspruch zu nehmen. Die Reise
des ehemaligen Thronfolgers, des jetzigen Kaisers, dnrch Sibirien hat sein
Interesse für das in so verschiednen Richtungen nutzbare Land erregt. Ein
Zeugnis dafür ist die rasche Förderung der sibirischen Eisenbahn und die Be¬
siedlung der durch sie zugänglich gewordnen Gegenden.,

Einen noch größern Ausschwung hat diese Verwaltungsthätigkeit infolge
des ostasiatischen Kriegs genommen. Rußlands Machtstellung am Stillen
Ozean ist nach den Erfolgen Japans nicht aufrecht zu erhalten, wenn nicht
bedeutende Streitkräfte auf Land und Meer dort verwendet werden. Das
dringende Bedürfnis, durch einen eisfreien Hafen feiner Marine Bewegungs¬
freiheit zu sichern, läßt die Ansprüche auf herrschenden Einfluß in Korea und
auf Besetzung des Teils der Mandschurei, wo die sibirische Eisenbahn ihren
Ausgang zum Stillen Ozean nehmen soll, immer unverhohlener hervortreten.

Damit ist gegenüber den schon erworbnen Ansprüchen Japans ein Wider¬
streit der Interessen entstanden, der über kurz oder lang Konflikte erzeugen


Der Zug nach dem Vsten

ist, fliegt es vorbei, und die andern Völker und Reiche treten beiseite und
geben ihm Raum."

Daß unter solchen Umständen die deutsche Kolonisation in Rußland keinen
Bestand gewinnen und befruchtend wirken kann, ist ebenso selbstverständlich,
wie es unrichtig wäre, hieraus ein ungünstiges Zeichen sür eine deutsche Ko¬
lonisation in deu jetzt noch unter türkischer Botmäßigkeit stehenden Ländern
zu sehen. Daß sich so mächtige Wanderungen und Verschiebungen nicht nur
ans friedlichem Wege vollziehen, ist allerdings nicht zu bestreiten, doch dürften
sich manche Umstände gerade in unsrer Zeit als günstig erweisen.

Das durch eignes Mißgeschick Verlorne Ansehen in den Balkanstaaten hat
die russische Oricntpolitik auf Konstantinopel zwar nicht verzichten lassen, wohl
aber ist ihre Aufmerksamkeit zur Zeit auf andre Dinge abgelenkt. In den
letzten Jahrzehnten hat Rußland jenseits des Urals und des Kaspischen Meeres
seiner Botmäßigkeit riesige Lnnderstrecken unterworfen. Zu dem General¬
gouvernement Turkestan mit Taschkend wurde Ferghana und Kaschgar erworben;
Chiwa und Vochara fristen ein Scheinleben; erst ans dem Hochplateau Pamirs
findet der Vorstoß durch England ein Hemmnis. Mag der Kultureinflusz
Rußlands in jenen Gegenden, nach dein Maßstab der europäischen Kultur ge¬
messen, noch so kärglich sein, so läßt sich doch im ganzen ein gewisses Geschick
in der Behandlung jener barbarischen Völker nicht verkennen, wobei sich eine
Verwandtschaft der Russen mit diesen asiatischen Nomadenstämmen geltend ge¬
macht haben mag. Wo die ansässige Bevölkerung den wasserarmen Boden
durch künstliche Bewässerung ergiebig gemacht hatte, soll freilich diese Kultur
seit der russischen Besetzung in Verfall geraten sein. Der Nüsse hat keinen
Sinn für die Pflege solcher mühsamen Anlagen.

Neben dem Vordringen in Zentralasien beginnt Sibirien die Thätigkeit
der russischen Regierung in hohem Grade in Anspruch zu nehmen. Die Reise
des ehemaligen Thronfolgers, des jetzigen Kaisers, dnrch Sibirien hat sein
Interesse für das in so verschiednen Richtungen nutzbare Land erregt. Ein
Zeugnis dafür ist die rasche Förderung der sibirischen Eisenbahn und die Be¬
siedlung der durch sie zugänglich gewordnen Gegenden.,

Einen noch größern Ausschwung hat diese Verwaltungsthätigkeit infolge
des ostasiatischen Kriegs genommen. Rußlands Machtstellung am Stillen
Ozean ist nach den Erfolgen Japans nicht aufrecht zu erhalten, wenn nicht
bedeutende Streitkräfte auf Land und Meer dort verwendet werden. Das
dringende Bedürfnis, durch einen eisfreien Hafen feiner Marine Bewegungs¬
freiheit zu sichern, läßt die Ansprüche auf herrschenden Einfluß in Korea und
auf Besetzung des Teils der Mandschurei, wo die sibirische Eisenbahn ihren
Ausgang zum Stillen Ozean nehmen soll, immer unverhohlener hervortreten.

Damit ist gegenüber den schon erworbnen Ansprüchen Japans ein Wider¬
streit der Interessen entstanden, der über kurz oder lang Konflikte erzeugen


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[0310] Der Zug nach dem Vsten ist, fliegt es vorbei, und die andern Völker und Reiche treten beiseite und geben ihm Raum." Daß unter solchen Umständen die deutsche Kolonisation in Rußland keinen Bestand gewinnen und befruchtend wirken kann, ist ebenso selbstverständlich, wie es unrichtig wäre, hieraus ein ungünstiges Zeichen sür eine deutsche Ko¬ lonisation in deu jetzt noch unter türkischer Botmäßigkeit stehenden Ländern zu sehen. Daß sich so mächtige Wanderungen und Verschiebungen nicht nur ans friedlichem Wege vollziehen, ist allerdings nicht zu bestreiten, doch dürften sich manche Umstände gerade in unsrer Zeit als günstig erweisen. Das durch eignes Mißgeschick Verlorne Ansehen in den Balkanstaaten hat die russische Oricntpolitik auf Konstantinopel zwar nicht verzichten lassen, wohl aber ist ihre Aufmerksamkeit zur Zeit auf andre Dinge abgelenkt. In den letzten Jahrzehnten hat Rußland jenseits des Urals und des Kaspischen Meeres seiner Botmäßigkeit riesige Lnnderstrecken unterworfen. Zu dem General¬ gouvernement Turkestan mit Taschkend wurde Ferghana und Kaschgar erworben; Chiwa und Vochara fristen ein Scheinleben; erst ans dem Hochplateau Pamirs findet der Vorstoß durch England ein Hemmnis. Mag der Kultureinflusz Rußlands in jenen Gegenden, nach dein Maßstab der europäischen Kultur ge¬ messen, noch so kärglich sein, so läßt sich doch im ganzen ein gewisses Geschick in der Behandlung jener barbarischen Völker nicht verkennen, wobei sich eine Verwandtschaft der Russen mit diesen asiatischen Nomadenstämmen geltend ge¬ macht haben mag. Wo die ansässige Bevölkerung den wasserarmen Boden durch künstliche Bewässerung ergiebig gemacht hatte, soll freilich diese Kultur seit der russischen Besetzung in Verfall geraten sein. Der Nüsse hat keinen Sinn für die Pflege solcher mühsamen Anlagen. Neben dem Vordringen in Zentralasien beginnt Sibirien die Thätigkeit der russischen Regierung in hohem Grade in Anspruch zu nehmen. Die Reise des ehemaligen Thronfolgers, des jetzigen Kaisers, dnrch Sibirien hat sein Interesse für das in so verschiednen Richtungen nutzbare Land erregt. Ein Zeugnis dafür ist die rasche Förderung der sibirischen Eisenbahn und die Be¬ siedlung der durch sie zugänglich gewordnen Gegenden., Einen noch größern Ausschwung hat diese Verwaltungsthätigkeit infolge des ostasiatischen Kriegs genommen. Rußlands Machtstellung am Stillen Ozean ist nach den Erfolgen Japans nicht aufrecht zu erhalten, wenn nicht bedeutende Streitkräfte auf Land und Meer dort verwendet werden. Das dringende Bedürfnis, durch einen eisfreien Hafen feiner Marine Bewegungs¬ freiheit zu sichern, läßt die Ansprüche auf herrschenden Einfluß in Korea und auf Besetzung des Teils der Mandschurei, wo die sibirische Eisenbahn ihren Ausgang zum Stillen Ozean nehmen soll, immer unverhohlener hervortreten. Damit ist gegenüber den schon erworbnen Ansprüchen Japans ein Wider¬ streit der Interessen entstanden, der über kurz oder lang Konflikte erzeugen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220325/310>, abgerufen am 28.05.2024.