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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Drittes Vierteljahr.

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Der Zug nach dem Gsten

wird, die auf die Orientfrage nicht ohne Einwirkung bleiben können. In wie
weit sich diese geltend macht, entzieht sich bei den gegenwärtig schwebenden
Fragen der europäischen Politik jeder nähern Beurteilung.

Napoleon I. hat einmal gesagt, in fünfzig Jahren werde Europa eine
Republik oder unter der Herrschaft der Kosaken sein. Bei Prophezeiungen
kann oft nur ein Irrtum in der Zeitangabe nachgewiesen werden, in der Sache
selbst hatten sie Recht. So könnte auch das Napoleonische Wort sich noch
erfüllen: einerseits nimmt die Demokratisirnng ungehemmt ihren Fortgang,
andrerseits erheben sich warnende Rufe und Befürchtungen, ein Einbruch der
Slawen konnte die Kultur Westeuropas vernichten.

Diesen Gefahren gegenüber ist in Deutschland trotz aller Zerfahrenheit
und allen politische" Jammers der gegenwärtigen Zustände ein mächtiger
Widerstand geboten. Wohin die sozialdemokratische Strömung führt, dessen ist
man sich nach den Ausschreitungen der Anarchisten wohl bewußt. So ver¬
worren sich auch diese sozialen Verhältnisse darstellen, so fehlt es doch nicht
an Bestrebungen, den Faden zu finden und zu ergreifen, der aus dem Labyrinth
führt. Hinsichtlich eines von Osten her drohenden Angriffs dürfte eine nähere
Kenntnis der russischen Militärmacht wohl zur Beruhigung dienen. Die
faulen Zustünde, die in dem letzten russisch-türkischen Kriege unverhüllt hervor¬
getreten sind, mögen durch die eifrige und nicht erfolglose Thätigkeit des
Kriegsministerinms in mancher Hinsicht verbessert worden sein. Nicht nur die
Armeestärke hat bedeutend zugenommen, auch die Schulung und Ausrüstung
ist besser geworden. Die nationalen Eigentümlichkeiten aber, die sich nicht
ausrotten lassen und in allen Schichten der Bevölkerung und der Gesellschaft
ihren Ausdruck finden, diese Eigentümlichkeiten, die zu der landläufigen Be¬
zeichnung des "Kolosses auf thönernen Füßen" geführt haben, sie untergraben
auch die Wirksamkeit der Militärmacht. Die Unzuverlässigkeit, die durch Selbst¬
überhebung dauernd geworden ist, wird sich in allen Richtungen geltend machen.
Die Mobilistrnng, scheinbar geordnet, wird unzureichend vor sich gehen; die
Befehlshaber sind zum großen Teil ungebildet und ohne Kriegserfahrung; die
Intendantur ist nachlässig und diebisch; der abgehärtete, tapfere gemeine Soldat
ist beschränkt und versagt unter schwacher Führung leicht den Dienst. Was
wollen da die gegen Turkmenen und Techiuzen, Usbekeu und Dungenen er¬
zielten Erfolge bedeuten, wenn eine solche Macht der deutschen Armee gegen¬
übersteht!

Auch von einem Entgegenkommen der zahlreichen slawischen Völkerstümme
Österreichs kann kaum die Rede sein. Hat Nußland nicht verstanden, die
griechisch-orthodoxen Bulgaren nach der Befreiung vom türkischen Joch in
seinem Machtbereich zu erhalten, um wie viel weniger werden sich die meist
der katholischen Konfession angehörigen slawischen Völker Österreichs, die seit
der von Taaffe eingeleiteten innern Politik ungezügelt ihre Ansprüche geltend


Der Zug nach dem Gsten

wird, die auf die Orientfrage nicht ohne Einwirkung bleiben können. In wie
weit sich diese geltend macht, entzieht sich bei den gegenwärtig schwebenden
Fragen der europäischen Politik jeder nähern Beurteilung.

Napoleon I. hat einmal gesagt, in fünfzig Jahren werde Europa eine
Republik oder unter der Herrschaft der Kosaken sein. Bei Prophezeiungen
kann oft nur ein Irrtum in der Zeitangabe nachgewiesen werden, in der Sache
selbst hatten sie Recht. So könnte auch das Napoleonische Wort sich noch
erfüllen: einerseits nimmt die Demokratisirnng ungehemmt ihren Fortgang,
andrerseits erheben sich warnende Rufe und Befürchtungen, ein Einbruch der
Slawen konnte die Kultur Westeuropas vernichten.

Diesen Gefahren gegenüber ist in Deutschland trotz aller Zerfahrenheit
und allen politische» Jammers der gegenwärtigen Zustände ein mächtiger
Widerstand geboten. Wohin die sozialdemokratische Strömung führt, dessen ist
man sich nach den Ausschreitungen der Anarchisten wohl bewußt. So ver¬
worren sich auch diese sozialen Verhältnisse darstellen, so fehlt es doch nicht
an Bestrebungen, den Faden zu finden und zu ergreifen, der aus dem Labyrinth
führt. Hinsichtlich eines von Osten her drohenden Angriffs dürfte eine nähere
Kenntnis der russischen Militärmacht wohl zur Beruhigung dienen. Die
faulen Zustünde, die in dem letzten russisch-türkischen Kriege unverhüllt hervor¬
getreten sind, mögen durch die eifrige und nicht erfolglose Thätigkeit des
Kriegsministerinms in mancher Hinsicht verbessert worden sein. Nicht nur die
Armeestärke hat bedeutend zugenommen, auch die Schulung und Ausrüstung
ist besser geworden. Die nationalen Eigentümlichkeiten aber, die sich nicht
ausrotten lassen und in allen Schichten der Bevölkerung und der Gesellschaft
ihren Ausdruck finden, diese Eigentümlichkeiten, die zu der landläufigen Be¬
zeichnung des „Kolosses auf thönernen Füßen" geführt haben, sie untergraben
auch die Wirksamkeit der Militärmacht. Die Unzuverlässigkeit, die durch Selbst¬
überhebung dauernd geworden ist, wird sich in allen Richtungen geltend machen.
Die Mobilistrnng, scheinbar geordnet, wird unzureichend vor sich gehen; die
Befehlshaber sind zum großen Teil ungebildet und ohne Kriegserfahrung; die
Intendantur ist nachlässig und diebisch; der abgehärtete, tapfere gemeine Soldat
ist beschränkt und versagt unter schwacher Führung leicht den Dienst. Was
wollen da die gegen Turkmenen und Techiuzen, Usbekeu und Dungenen er¬
zielten Erfolge bedeuten, wenn eine solche Macht der deutschen Armee gegen¬
übersteht!

Auch von einem Entgegenkommen der zahlreichen slawischen Völkerstümme
Österreichs kann kaum die Rede sein. Hat Nußland nicht verstanden, die
griechisch-orthodoxen Bulgaren nach der Befreiung vom türkischen Joch in
seinem Machtbereich zu erhalten, um wie viel weniger werden sich die meist
der katholischen Konfession angehörigen slawischen Völker Österreichs, die seit
der von Taaffe eingeleiteten innern Politik ungezügelt ihre Ansprüche geltend


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220325/311>, abgerufen am 13.05.2024.