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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Drittes Vierteljahr.

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Ist die jetzige preußische Regierung national?

wußtseins und einen Rückschlag gegen das Judentum befürchteten, über die
angebliche Härte der Maßregel lärmten. Fürst Vismarck setzte die Interessen
des Ganzen, des Deutschtums, über die der Einzelnen, der Großgrundbesitzer
und der Juden, und er blieb bei seiner Anordnung zur Freude aller wahrhaft
deutschgesinnten Männer.

Als Graf Caprivi ans Ruder kam, untersagte er die Ausweisungen der
polnischen Arbeiter und ließ ihre Einwanderung unter gewissen Beschränkungen
wieder zu. Aber wenn er so auch Bresche legte in den Damm, den sein Vorgänger
zum Schutz des Deutschtums gezogen hatte, ihn ganz zu zerstören, hat auch
er nicht gewagt. Nur einzelne erwachsene Arbeiter durften im Frühjahr nach
Deutschland herein und mußten im Herbst nach Beendigung der dringenden
landwirtschaftlichen Arbeiten wieder abziehen. Ganzen Arbeiterfamilien dagegen
war es streng untersagt, die deutsche Grenze zu überschreiten, in der Erkenntnis,
daß Arbeiterfamilien sicherer und nachhaltiger den Deutschen verdrängen würden
als einzelne Arbeiter, und daß es schwieriger sein würde, ganze Familien über
die Grenze abzuschieben, als einzelne Leute. Diese Anordnung wurde zunächst
nur versuchsweise getroffen; sie sollte nur für drei Jahre gelten. Nach Ab¬
lauf dieser Zeit wollte mau Erwägungen anstellen, ob sie ohne Schaden für
das Deutschtum erneuert werden könnte. Noch vor Ablauf der drei Jahre
jedoch ging Caprivi. An seine Stelle traten Männer, auf die jeder gute
Deutsche in nationaler Beziehung, namentlich aber in der Pvlenfrage, die
größten Hoffnungen setzte. Doch es gefiel diesen Männern anders zu denken,
als man erwartet hatte. Seit Anfang dieses Jahres werden mit Ge¬
nehmigung der Oberpräsidenten der einzelnen Provinzen sowohl einzelne aus¬
ländische Arbeiter, als auch ausländische Arbeiterfamilien aus Rußland und
Galizien nach Deutschland hereingelassen, und zwar nicht nur vorübergehend,
sondern auch auf unbestimmte Zeit. Die Anordnung selbst ist nicht mehr wie
unter Caprivi für eine bestimmte Zeit, sondern für die Dauer getroffen worden.
Die Erledigung der wichtigsten Frage, die jemals an das deutsche Volk heran¬
getreten ist, ist also im wesentlichen dem Ermessen einer Anzahl von Ober¬
präsidenten überlassen worden und damit der Versumpfung anheimgefallen.

Als Grund für die Maßregel wird angegeben, daß sich aus der bisherigen
Zulassung ausländischer Arbeiter keine besondern Nachteile auf nationalem
Gebiete gezeigt hätten! Wer sich aber nur einigermaßen mit der Polenfrage
beschäftigt hat, bei dem muß diese Begründung das größte Befremden erregen
und den Gedanken aufkommen lassen, daß sich die Urheber der neuen Anordnung
entweder nicht um die Statistik gekümmert haben oder nicht wagen, vielleicht
aus gesellschaftlichen oder verwandtschaftlichen Rücksichten, das materielle
Interesse einiger Großgrundbesitzer dem idealen Interesse des deutschen Volkes
nachzusetzen.

In den letzten fünfundzwanzig Jahren haben sich allein in der Provinz


Ist die jetzige preußische Regierung national?

wußtseins und einen Rückschlag gegen das Judentum befürchteten, über die
angebliche Härte der Maßregel lärmten. Fürst Vismarck setzte die Interessen
des Ganzen, des Deutschtums, über die der Einzelnen, der Großgrundbesitzer
und der Juden, und er blieb bei seiner Anordnung zur Freude aller wahrhaft
deutschgesinnten Männer.

Als Graf Caprivi ans Ruder kam, untersagte er die Ausweisungen der
polnischen Arbeiter und ließ ihre Einwanderung unter gewissen Beschränkungen
wieder zu. Aber wenn er so auch Bresche legte in den Damm, den sein Vorgänger
zum Schutz des Deutschtums gezogen hatte, ihn ganz zu zerstören, hat auch
er nicht gewagt. Nur einzelne erwachsene Arbeiter durften im Frühjahr nach
Deutschland herein und mußten im Herbst nach Beendigung der dringenden
landwirtschaftlichen Arbeiten wieder abziehen. Ganzen Arbeiterfamilien dagegen
war es streng untersagt, die deutsche Grenze zu überschreiten, in der Erkenntnis,
daß Arbeiterfamilien sicherer und nachhaltiger den Deutschen verdrängen würden
als einzelne Arbeiter, und daß es schwieriger sein würde, ganze Familien über
die Grenze abzuschieben, als einzelne Leute. Diese Anordnung wurde zunächst
nur versuchsweise getroffen; sie sollte nur für drei Jahre gelten. Nach Ab¬
lauf dieser Zeit wollte mau Erwägungen anstellen, ob sie ohne Schaden für
das Deutschtum erneuert werden könnte. Noch vor Ablauf der drei Jahre
jedoch ging Caprivi. An seine Stelle traten Männer, auf die jeder gute
Deutsche in nationaler Beziehung, namentlich aber in der Pvlenfrage, die
größten Hoffnungen setzte. Doch es gefiel diesen Männern anders zu denken,
als man erwartet hatte. Seit Anfang dieses Jahres werden mit Ge¬
nehmigung der Oberpräsidenten der einzelnen Provinzen sowohl einzelne aus¬
ländische Arbeiter, als auch ausländische Arbeiterfamilien aus Rußland und
Galizien nach Deutschland hereingelassen, und zwar nicht nur vorübergehend,
sondern auch auf unbestimmte Zeit. Die Anordnung selbst ist nicht mehr wie
unter Caprivi für eine bestimmte Zeit, sondern für die Dauer getroffen worden.
Die Erledigung der wichtigsten Frage, die jemals an das deutsche Volk heran¬
getreten ist, ist also im wesentlichen dem Ermessen einer Anzahl von Ober¬
präsidenten überlassen worden und damit der Versumpfung anheimgefallen.

Als Grund für die Maßregel wird angegeben, daß sich aus der bisherigen
Zulassung ausländischer Arbeiter keine besondern Nachteile auf nationalem
Gebiete gezeigt hätten! Wer sich aber nur einigermaßen mit der Polenfrage
beschäftigt hat, bei dem muß diese Begründung das größte Befremden erregen
und den Gedanken aufkommen lassen, daß sich die Urheber der neuen Anordnung
entweder nicht um die Statistik gekümmert haben oder nicht wagen, vielleicht
aus gesellschaftlichen oder verwandtschaftlichen Rücksichten, das materielle
Interesse einiger Großgrundbesitzer dem idealen Interesse des deutschen Volkes
nachzusetzen.

In den letzten fünfundzwanzig Jahren haben sich allein in der Provinz


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[0402] Ist die jetzige preußische Regierung national? wußtseins und einen Rückschlag gegen das Judentum befürchteten, über die angebliche Härte der Maßregel lärmten. Fürst Vismarck setzte die Interessen des Ganzen, des Deutschtums, über die der Einzelnen, der Großgrundbesitzer und der Juden, und er blieb bei seiner Anordnung zur Freude aller wahrhaft deutschgesinnten Männer. Als Graf Caprivi ans Ruder kam, untersagte er die Ausweisungen der polnischen Arbeiter und ließ ihre Einwanderung unter gewissen Beschränkungen wieder zu. Aber wenn er so auch Bresche legte in den Damm, den sein Vorgänger zum Schutz des Deutschtums gezogen hatte, ihn ganz zu zerstören, hat auch er nicht gewagt. Nur einzelne erwachsene Arbeiter durften im Frühjahr nach Deutschland herein und mußten im Herbst nach Beendigung der dringenden landwirtschaftlichen Arbeiten wieder abziehen. Ganzen Arbeiterfamilien dagegen war es streng untersagt, die deutsche Grenze zu überschreiten, in der Erkenntnis, daß Arbeiterfamilien sicherer und nachhaltiger den Deutschen verdrängen würden als einzelne Arbeiter, und daß es schwieriger sein würde, ganze Familien über die Grenze abzuschieben, als einzelne Leute. Diese Anordnung wurde zunächst nur versuchsweise getroffen; sie sollte nur für drei Jahre gelten. Nach Ab¬ lauf dieser Zeit wollte mau Erwägungen anstellen, ob sie ohne Schaden für das Deutschtum erneuert werden könnte. Noch vor Ablauf der drei Jahre jedoch ging Caprivi. An seine Stelle traten Männer, auf die jeder gute Deutsche in nationaler Beziehung, namentlich aber in der Pvlenfrage, die größten Hoffnungen setzte. Doch es gefiel diesen Männern anders zu denken, als man erwartet hatte. Seit Anfang dieses Jahres werden mit Ge¬ nehmigung der Oberpräsidenten der einzelnen Provinzen sowohl einzelne aus¬ ländische Arbeiter, als auch ausländische Arbeiterfamilien aus Rußland und Galizien nach Deutschland hereingelassen, und zwar nicht nur vorübergehend, sondern auch auf unbestimmte Zeit. Die Anordnung selbst ist nicht mehr wie unter Caprivi für eine bestimmte Zeit, sondern für die Dauer getroffen worden. Die Erledigung der wichtigsten Frage, die jemals an das deutsche Volk heran¬ getreten ist, ist also im wesentlichen dem Ermessen einer Anzahl von Ober¬ präsidenten überlassen worden und damit der Versumpfung anheimgefallen. Als Grund für die Maßregel wird angegeben, daß sich aus der bisherigen Zulassung ausländischer Arbeiter keine besondern Nachteile auf nationalem Gebiete gezeigt hätten! Wer sich aber nur einigermaßen mit der Polenfrage beschäftigt hat, bei dem muß diese Begründung das größte Befremden erregen und den Gedanken aufkommen lassen, daß sich die Urheber der neuen Anordnung entweder nicht um die Statistik gekümmert haben oder nicht wagen, vielleicht aus gesellschaftlichen oder verwandtschaftlichen Rücksichten, das materielle Interesse einiger Großgrundbesitzer dem idealen Interesse des deutschen Volkes nachzusetzen. In den letzten fünfundzwanzig Jahren haben sich allein in der Provinz

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220325/402>, abgerufen am 13.05.2024.