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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Drittes Vierteljahr.

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Ist die jetzige preußische Regierung national?

Posen die Polen um 200000, die Deutschen dagegen nur um 5000 vermehrt.
Auch in der Provinz Westpreußen und in Oberschlesien haben die Polen be¬
bedeutend mehr zugenommen als die Deutschen. Und in Ostpreußen ver¬
breitert sich der polnische Gürtel an der Grenze immermehr landeinwärts.
Aber nicht bloß unsre Ostprovinzen sind zur Zeit der Gefahr der Slawisirung
ausgesetzt. Schon bis an die Thore von Berlin und noch weiter schäumt die
slawische Hochflut. Der zahlreiche brandenburgische Großgrundbesitz beschäftigt
ganze Scharen polnischer Arbeiter. Und wenn auf einem sozialdemokratischen
Parteitage des vorigen Jahres erklärt worden ist, die Landagitation in der
Provinz Brandenburg könne nur durch Verbreitung polnischer Flugblätter
wirksam betrieben werden, so kann man sehen, wie sehr schon dort der Slawe
den deutschen Landarbeiter verdrängt hat. Ähnlich verhält es sich mit Pommern
und Mecklenburg, den beiden Hauptsitzen des Großgrundbesitzes. Die evan¬
gelischen Kirchen auf dem Lande stehen leer, und in den katholischen Kirchen
wird schon stellenweise der Gottesdienst in polnischer Sprache abgehalten. In
Pommern hat man bei den letzten Reichstagswahlen in einem Wahlkreise einen
Polnischen Zühlkandidaten aufgestellt. Es ist auch gar nichts Seltenes, daß
man für die dortige Gegend Handlungsgehilfen sucht, die der polnischen
Sprache mächtig sind. Mit jedem Jahre rücken die polnischen Arbeiter gleich
dem Dünensande von Ost nach West weiter vor, eine Stätte des Deutschtums
uach der andern begrabend. Ganze Dörfer und Gutsgemeinden, die bisher
rein deutsch waren, sind in den letzten Jahren polnisch geworden. Wie Pilze
schießen die polnischen Zeitungen empor. Und noch nie haben die Polen so
viel Vertreter im Reichstage gehabt wie jetzt.

Mag auch das Anwachsen des Polentums einigermaßen durch den Ge¬
burtenüberschuß hervorgerufen werden, zum größten Teil beruht es doch auf
der Zulassung ausländischer Arbeiter. Da sich jede höhere Kultur in einer
größer" Zahl vernünftiger Bedürfnisse äußert und Bedürfnisse Befriedigung
erheischen, so beansprucht der deutsche Arbeiter als der Angehörige des höher
kultivirten Volks mit Recht einen höhern Lohn als der polnische Arbeiter.
Wird er von diesem darin unterboten, so muß er ihm das Feld räumen und
seine Schritte dorthin lenken, wo der Mitbewerb des Ausländers weniger
drückend ist, also nach den Städten, nach dein Westen unsers Vaterlands oder
nach Amerika. Allerdings behaupten viele, die der polnischen Einwanderung
das Wort reden -- wohl zum Teil gegen ihre Überzeugung, um ihre selbst¬
süchtige und undeutsche Gesinnung zu beschönigen --, daß die Einwanderung
nicht sowohl die Ursache als vielmehr die Folge der Abnahme der Deutschen
im Osten sei. Das ist grundfalsch. Den besten und untrüglichsten Beweis
hierfür liefern die Verhältnisse der letzten Jahre. Wegen der niedrigen Ge¬
treidepreise ist die Landwirtschaft, namentlich im Osten, in Pommern und
Mecklenburg, extensiver betrieben worden, man hat an Kapital und Arbeits-


Ist die jetzige preußische Regierung national?

Posen die Polen um 200000, die Deutschen dagegen nur um 5000 vermehrt.
Auch in der Provinz Westpreußen und in Oberschlesien haben die Polen be¬
bedeutend mehr zugenommen als die Deutschen. Und in Ostpreußen ver¬
breitert sich der polnische Gürtel an der Grenze immermehr landeinwärts.
Aber nicht bloß unsre Ostprovinzen sind zur Zeit der Gefahr der Slawisirung
ausgesetzt. Schon bis an die Thore von Berlin und noch weiter schäumt die
slawische Hochflut. Der zahlreiche brandenburgische Großgrundbesitz beschäftigt
ganze Scharen polnischer Arbeiter. Und wenn auf einem sozialdemokratischen
Parteitage des vorigen Jahres erklärt worden ist, die Landagitation in der
Provinz Brandenburg könne nur durch Verbreitung polnischer Flugblätter
wirksam betrieben werden, so kann man sehen, wie sehr schon dort der Slawe
den deutschen Landarbeiter verdrängt hat. Ähnlich verhält es sich mit Pommern
und Mecklenburg, den beiden Hauptsitzen des Großgrundbesitzes. Die evan¬
gelischen Kirchen auf dem Lande stehen leer, und in den katholischen Kirchen
wird schon stellenweise der Gottesdienst in polnischer Sprache abgehalten. In
Pommern hat man bei den letzten Reichstagswahlen in einem Wahlkreise einen
Polnischen Zühlkandidaten aufgestellt. Es ist auch gar nichts Seltenes, daß
man für die dortige Gegend Handlungsgehilfen sucht, die der polnischen
Sprache mächtig sind. Mit jedem Jahre rücken die polnischen Arbeiter gleich
dem Dünensande von Ost nach West weiter vor, eine Stätte des Deutschtums
uach der andern begrabend. Ganze Dörfer und Gutsgemeinden, die bisher
rein deutsch waren, sind in den letzten Jahren polnisch geworden. Wie Pilze
schießen die polnischen Zeitungen empor. Und noch nie haben die Polen so
viel Vertreter im Reichstage gehabt wie jetzt.

Mag auch das Anwachsen des Polentums einigermaßen durch den Ge¬
burtenüberschuß hervorgerufen werden, zum größten Teil beruht es doch auf
der Zulassung ausländischer Arbeiter. Da sich jede höhere Kultur in einer
größer» Zahl vernünftiger Bedürfnisse äußert und Bedürfnisse Befriedigung
erheischen, so beansprucht der deutsche Arbeiter als der Angehörige des höher
kultivirten Volks mit Recht einen höhern Lohn als der polnische Arbeiter.
Wird er von diesem darin unterboten, so muß er ihm das Feld räumen und
seine Schritte dorthin lenken, wo der Mitbewerb des Ausländers weniger
drückend ist, also nach den Städten, nach dein Westen unsers Vaterlands oder
nach Amerika. Allerdings behaupten viele, die der polnischen Einwanderung
das Wort reden — wohl zum Teil gegen ihre Überzeugung, um ihre selbst¬
süchtige und undeutsche Gesinnung zu beschönigen —, daß die Einwanderung
nicht sowohl die Ursache als vielmehr die Folge der Abnahme der Deutschen
im Osten sei. Das ist grundfalsch. Den besten und untrüglichsten Beweis
hierfür liefern die Verhältnisse der letzten Jahre. Wegen der niedrigen Ge¬
treidepreise ist die Landwirtschaft, namentlich im Osten, in Pommern und
Mecklenburg, extensiver betrieben worden, man hat an Kapital und Arbeits-


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[0403] Ist die jetzige preußische Regierung national? Posen die Polen um 200000, die Deutschen dagegen nur um 5000 vermehrt. Auch in der Provinz Westpreußen und in Oberschlesien haben die Polen be¬ bedeutend mehr zugenommen als die Deutschen. Und in Ostpreußen ver¬ breitert sich der polnische Gürtel an der Grenze immermehr landeinwärts. Aber nicht bloß unsre Ostprovinzen sind zur Zeit der Gefahr der Slawisirung ausgesetzt. Schon bis an die Thore von Berlin und noch weiter schäumt die slawische Hochflut. Der zahlreiche brandenburgische Großgrundbesitz beschäftigt ganze Scharen polnischer Arbeiter. Und wenn auf einem sozialdemokratischen Parteitage des vorigen Jahres erklärt worden ist, die Landagitation in der Provinz Brandenburg könne nur durch Verbreitung polnischer Flugblätter wirksam betrieben werden, so kann man sehen, wie sehr schon dort der Slawe den deutschen Landarbeiter verdrängt hat. Ähnlich verhält es sich mit Pommern und Mecklenburg, den beiden Hauptsitzen des Großgrundbesitzes. Die evan¬ gelischen Kirchen auf dem Lande stehen leer, und in den katholischen Kirchen wird schon stellenweise der Gottesdienst in polnischer Sprache abgehalten. In Pommern hat man bei den letzten Reichstagswahlen in einem Wahlkreise einen Polnischen Zühlkandidaten aufgestellt. Es ist auch gar nichts Seltenes, daß man für die dortige Gegend Handlungsgehilfen sucht, die der polnischen Sprache mächtig sind. Mit jedem Jahre rücken die polnischen Arbeiter gleich dem Dünensande von Ost nach West weiter vor, eine Stätte des Deutschtums uach der andern begrabend. Ganze Dörfer und Gutsgemeinden, die bisher rein deutsch waren, sind in den letzten Jahren polnisch geworden. Wie Pilze schießen die polnischen Zeitungen empor. Und noch nie haben die Polen so viel Vertreter im Reichstage gehabt wie jetzt. Mag auch das Anwachsen des Polentums einigermaßen durch den Ge¬ burtenüberschuß hervorgerufen werden, zum größten Teil beruht es doch auf der Zulassung ausländischer Arbeiter. Da sich jede höhere Kultur in einer größer» Zahl vernünftiger Bedürfnisse äußert und Bedürfnisse Befriedigung erheischen, so beansprucht der deutsche Arbeiter als der Angehörige des höher kultivirten Volks mit Recht einen höhern Lohn als der polnische Arbeiter. Wird er von diesem darin unterboten, so muß er ihm das Feld räumen und seine Schritte dorthin lenken, wo der Mitbewerb des Ausländers weniger drückend ist, also nach den Städten, nach dein Westen unsers Vaterlands oder nach Amerika. Allerdings behaupten viele, die der polnischen Einwanderung das Wort reden — wohl zum Teil gegen ihre Überzeugung, um ihre selbst¬ süchtige und undeutsche Gesinnung zu beschönigen —, daß die Einwanderung nicht sowohl die Ursache als vielmehr die Folge der Abnahme der Deutschen im Osten sei. Das ist grundfalsch. Den besten und untrüglichsten Beweis hierfür liefern die Verhältnisse der letzten Jahre. Wegen der niedrigen Ge¬ treidepreise ist die Landwirtschaft, namentlich im Osten, in Pommern und Mecklenburg, extensiver betrieben worden, man hat an Kapital und Arbeits-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220325/403>, abgerufen am 27.05.2024.