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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Drittes Vierteljahr.

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Ist die jetzige preußische Regierung national?

flache verschwinden. Allerdings hat der Oberpräsident seine Genehmigung zu
erteilen, wenn es sich um Zulassung von Familien handelt. Auch kann er
jederzeit diese Genehmigung zurückziehen. Aber was das zu bedeuten hat,
weiß jeder, der die schwankende, nachgiebige Politik der preußischen Regierung
in der Polenfrage kennt. Hat das preußische Ministerium einmal den Grundsatz
anerkannt, daß das materielle Interesse einzelner Glieder des Volks dem idealen
Interesse des ganzen Volks, sich seinen räumlichen Bestand zu erhalten, vor¬
gehe, und daß das kleine Mittel der billigen Arbeitskräfte ein Gegengewicht
gegen die Schäden der Handelsverträge für die ländlichen Grundbesitzer sein
soll, dann müssen die Oberpräsidenten auch die Folgerungen davon ziehen und
ausländische Arbeiterfamilien dort zulassen, wo sie angeblich gebraucht werden.
Bei diesem Grundsatz giebt es auf der schiefen Ebne kein Halten mehr, und das
Ministerium wird schließlich die Einwanderung von jeder Schranke befreien.
Auch Ansichten der einzelnen Oberpräsidenten spielen dabei eine Rolle; und da
Herr von Wilamowitz-Möllendorf, der Oberpräsident von Posen, der ge-
fährdetsten deutschen Provinz, erklärt hat, er halte den Zuzug russischer Ar¬
beiter für eine unabänderliche Thatsache, so wird man sich denken können, wie
dieser Herr seine Bestimmungen treffen wird.

Aber die jetzige preußische Regierung hat nicht nur den Zuzug polnischer
Arbeiter erleichtert; sie geht noch weiter: sie will ihm sogar, wenn auch un¬
bewußt, Vorschub leisten. Sie will die industrielle Verwertung der Wasser¬
kräfte Ostpreußens fördern. Die Folge wird sein, daß durch die entstehende
Industrie der Landwirtschaft Arbeitskräfte entzogen werden und der Arbeiter¬
mangel verschärft wird. Warum wartet man bei unsern Arbeiterverhciltnisfen
nicht den natürlichen Lauf der Dinge ab, bis das platte Land einen Überschuß
von Arbeitskräften an die Industrie abgeben kann? Warum wird auch hier
wieder das materielle Interesse in den Vordergrund gestellt? Der Landwirt--
schaftsminister endlich hat erklärt, er wolle dafür sorgen, daß die vorübergehend
beschäftigten ausländischen Arbeiter von Beiträgen zur Alters- und Jnvaliditäts-
versicherung befreit würden. Also eine Prämie für die Beschäftigung derartiger
Arbeiter!

Weiter begründet die preußische Regierung ihre jetzige Anordnung damit,
daß auf die Zulassung von Arbeitern aus Rußland und Gallizien "noch nicht"
verzichtet werden könne. Bei den Worten "noch nicht" nimmt man an, daß
entweder für die Zukunft die Zulassung beschränkt worden sei, oder aber, daß
die Nachfrage nach ausländischen Arbeitern abgenommen habe. Wie wir aber ge¬
sehen haben, ist nach beiden Richtungen hin das Gegenteil der Fall. Oder glaubt
etwa die Regierung, daß die bisherigen Maßregeln, den deutschen Bauern-
und Arbeiterstand zu vermehren, jemals den Zuzug ausländischer Arbeiter
schwächen oder gar aufhalten würden? Von denen, die durch die Ansiedlungs-
kommission und durch die Generalkommissionen angesiedelt worden sind, sind drei


Ist die jetzige preußische Regierung national?

flache verschwinden. Allerdings hat der Oberpräsident seine Genehmigung zu
erteilen, wenn es sich um Zulassung von Familien handelt. Auch kann er
jederzeit diese Genehmigung zurückziehen. Aber was das zu bedeuten hat,
weiß jeder, der die schwankende, nachgiebige Politik der preußischen Regierung
in der Polenfrage kennt. Hat das preußische Ministerium einmal den Grundsatz
anerkannt, daß das materielle Interesse einzelner Glieder des Volks dem idealen
Interesse des ganzen Volks, sich seinen räumlichen Bestand zu erhalten, vor¬
gehe, und daß das kleine Mittel der billigen Arbeitskräfte ein Gegengewicht
gegen die Schäden der Handelsverträge für die ländlichen Grundbesitzer sein
soll, dann müssen die Oberpräsidenten auch die Folgerungen davon ziehen und
ausländische Arbeiterfamilien dort zulassen, wo sie angeblich gebraucht werden.
Bei diesem Grundsatz giebt es auf der schiefen Ebne kein Halten mehr, und das
Ministerium wird schließlich die Einwanderung von jeder Schranke befreien.
Auch Ansichten der einzelnen Oberpräsidenten spielen dabei eine Rolle; und da
Herr von Wilamowitz-Möllendorf, der Oberpräsident von Posen, der ge-
fährdetsten deutschen Provinz, erklärt hat, er halte den Zuzug russischer Ar¬
beiter für eine unabänderliche Thatsache, so wird man sich denken können, wie
dieser Herr seine Bestimmungen treffen wird.

Aber die jetzige preußische Regierung hat nicht nur den Zuzug polnischer
Arbeiter erleichtert; sie geht noch weiter: sie will ihm sogar, wenn auch un¬
bewußt, Vorschub leisten. Sie will die industrielle Verwertung der Wasser¬
kräfte Ostpreußens fördern. Die Folge wird sein, daß durch die entstehende
Industrie der Landwirtschaft Arbeitskräfte entzogen werden und der Arbeiter¬
mangel verschärft wird. Warum wartet man bei unsern Arbeiterverhciltnisfen
nicht den natürlichen Lauf der Dinge ab, bis das platte Land einen Überschuß
von Arbeitskräften an die Industrie abgeben kann? Warum wird auch hier
wieder das materielle Interesse in den Vordergrund gestellt? Der Landwirt--
schaftsminister endlich hat erklärt, er wolle dafür sorgen, daß die vorübergehend
beschäftigten ausländischen Arbeiter von Beiträgen zur Alters- und Jnvaliditäts-
versicherung befreit würden. Also eine Prämie für die Beschäftigung derartiger
Arbeiter!

Weiter begründet die preußische Regierung ihre jetzige Anordnung damit,
daß auf die Zulassung von Arbeitern aus Rußland und Gallizien „noch nicht"
verzichtet werden könne. Bei den Worten „noch nicht" nimmt man an, daß
entweder für die Zukunft die Zulassung beschränkt worden sei, oder aber, daß
die Nachfrage nach ausländischen Arbeitern abgenommen habe. Wie wir aber ge¬
sehen haben, ist nach beiden Richtungen hin das Gegenteil der Fall. Oder glaubt
etwa die Regierung, daß die bisherigen Maßregeln, den deutschen Bauern-
und Arbeiterstand zu vermehren, jemals den Zuzug ausländischer Arbeiter
schwächen oder gar aufhalten würden? Von denen, die durch die Ansiedlungs-
kommission und durch die Generalkommissionen angesiedelt worden sind, sind drei


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220325/405>, abgerufen am 16.06.2024.