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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Drittes Vierteljahr.

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Vierteile aus dem Osten selbst. Ihre Arbeitskraft würde also auch ohne die
Kommissionen dem Osten zur Verfügung stehen. Und wenn auch jährlich
einige Hundert aus dem übrigen Deutschland im Osten angesiedelt werden,
was soll das bedeuten gegen eine jährlich nach Tausenden wachsende Ein¬
wanderung! Dem gegenüber kann auch die Thätigkeit des Vereins zur Förde¬
rung des Deutschtums nur ein Tropfen auf den heißen Stein sein. Wenn
die Negierung der ausländischen Zuwanderung durch Besiedlung den Boden
abgraben will, dann müßten ganz andre, energischere Maßregeln ergriffen werden.

Die polnische Arbeiterfrage ist geradezu eine Lebensfrage sür das Deutsch¬
tum; sie ist von so ungeheurer Wichtigkeit, daß ihre Lösung nicht den Mini¬
sterien überlassen bleiben, sondern durch Gesetz geschehen sollte. Mit den
Ministern wechseln die Ansichten. Daher wird die polnische Arbeiterfrage so
lange schwankend und mit keinem oder nur geringem Erfolge für das Deutschtum
behandelt werden, als sie zur Zuständigkeit des Ministeriums gehört. Leider
aber ist kaum zu erwarten, daß sie je durch Gesetz im deutschnationalen Sinne
erledigt werden wird. Mag auch vielleicht die Negierung dazu bereit sein,
die deutsche Volksvertretung wird es schwerlich sein. Die sozialdemokratische
Partei und die freisinnigen Parteien scheiden wegen ihres Mangels an Deutsch¬
gefühl von vornherein aus. Auch die Zentrumspartei wird nicht zu haben
sein. Bei ihr steht in erster Linie immer der Katholik, gleichviel, welchem
Volke er angehört, erst in zweiter Linie der Deutsche. Und was die konser¬
vative Partei betrifft, so würden sich ihre gebornen Vertreter, die Großgrund¬
besitzer, mindestens gleichgiltig verhalten, weil ihr materielles Interesse dem
Interesse des Deutschtums zuwiderläuft. So bleiben noch die nativnalliberale
Partei und deutsch-soziale Reformpartei übrig. Aber beide machen keine Par-
lamentsmehrhcit und werden sie auch kaum jemals machen. Wohl wird sich
die deutsch-soziale Reformpartei, die in ihrem neuen Programm zur polnischen
Einwanderungsfrage im dcutschnationalen Sinne energisch Stellung nehmen
soll, noch manchen Reichstagssitz erobern, es hat wenigstens den Anschein;
aber nie wird sie eine solche Stärke erreichen, daß sie mit der nationalliberalen
Partei, die ihren Höhepunkt überschritten hat, den Ausschlag geben könnte.

So wird in Zukunft wohl oder übel eine Lebensfrage des Deutschtums
dem Ermessen des preußischen Ministeriums überlassen bleiben. Leider ver¬
missen wir seit Fürst Bismarcks Abgang bei den preußischen Ministern, ab¬
gesehen von dem Finanzminister Miquel, wie in andern, so auch in nationalen
Dingen die gehörige Schneidigkeit. Man will es allen recht machen und ver-
dirbts mit allen. Vielleicht fügen uns die Handelsverträge einen volkswirt¬
schaftlichen Verlust zu, der dem eines Verlornen Krieges gleichkommt. Hüte
man sich, daß sie uns nicht etwa als Ursache des kleinen Mittels der billigen
Arbeitskräfte noch einen Gebietsverlust bringen, der zehnmal größer ist als
Elsaß-Lothringen. Soll Preußen rechts von der Elbe dem Deutschtum in den


Vierteile aus dem Osten selbst. Ihre Arbeitskraft würde also auch ohne die
Kommissionen dem Osten zur Verfügung stehen. Und wenn auch jährlich
einige Hundert aus dem übrigen Deutschland im Osten angesiedelt werden,
was soll das bedeuten gegen eine jährlich nach Tausenden wachsende Ein¬
wanderung! Dem gegenüber kann auch die Thätigkeit des Vereins zur Förde¬
rung des Deutschtums nur ein Tropfen auf den heißen Stein sein. Wenn
die Negierung der ausländischen Zuwanderung durch Besiedlung den Boden
abgraben will, dann müßten ganz andre, energischere Maßregeln ergriffen werden.

Die polnische Arbeiterfrage ist geradezu eine Lebensfrage sür das Deutsch¬
tum; sie ist von so ungeheurer Wichtigkeit, daß ihre Lösung nicht den Mini¬
sterien überlassen bleiben, sondern durch Gesetz geschehen sollte. Mit den
Ministern wechseln die Ansichten. Daher wird die polnische Arbeiterfrage so
lange schwankend und mit keinem oder nur geringem Erfolge für das Deutschtum
behandelt werden, als sie zur Zuständigkeit des Ministeriums gehört. Leider
aber ist kaum zu erwarten, daß sie je durch Gesetz im deutschnationalen Sinne
erledigt werden wird. Mag auch vielleicht die Negierung dazu bereit sein,
die deutsche Volksvertretung wird es schwerlich sein. Die sozialdemokratische
Partei und die freisinnigen Parteien scheiden wegen ihres Mangels an Deutsch¬
gefühl von vornherein aus. Auch die Zentrumspartei wird nicht zu haben
sein. Bei ihr steht in erster Linie immer der Katholik, gleichviel, welchem
Volke er angehört, erst in zweiter Linie der Deutsche. Und was die konser¬
vative Partei betrifft, so würden sich ihre gebornen Vertreter, die Großgrund¬
besitzer, mindestens gleichgiltig verhalten, weil ihr materielles Interesse dem
Interesse des Deutschtums zuwiderläuft. So bleiben noch die nativnalliberale
Partei und deutsch-soziale Reformpartei übrig. Aber beide machen keine Par-
lamentsmehrhcit und werden sie auch kaum jemals machen. Wohl wird sich
die deutsch-soziale Reformpartei, die in ihrem neuen Programm zur polnischen
Einwanderungsfrage im dcutschnationalen Sinne energisch Stellung nehmen
soll, noch manchen Reichstagssitz erobern, es hat wenigstens den Anschein;
aber nie wird sie eine solche Stärke erreichen, daß sie mit der nationalliberalen
Partei, die ihren Höhepunkt überschritten hat, den Ausschlag geben könnte.

So wird in Zukunft wohl oder übel eine Lebensfrage des Deutschtums
dem Ermessen des preußischen Ministeriums überlassen bleiben. Leider ver¬
missen wir seit Fürst Bismarcks Abgang bei den preußischen Ministern, ab¬
gesehen von dem Finanzminister Miquel, wie in andern, so auch in nationalen
Dingen die gehörige Schneidigkeit. Man will es allen recht machen und ver-
dirbts mit allen. Vielleicht fügen uns die Handelsverträge einen volkswirt¬
schaftlichen Verlust zu, der dem eines Verlornen Krieges gleichkommt. Hüte
man sich, daß sie uns nicht etwa als Ursache des kleinen Mittels der billigen
Arbeitskräfte noch einen Gebietsverlust bringen, der zehnmal größer ist als
Elsaß-Lothringen. Soll Preußen rechts von der Elbe dem Deutschtum in den


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[0406] Vierteile aus dem Osten selbst. Ihre Arbeitskraft würde also auch ohne die Kommissionen dem Osten zur Verfügung stehen. Und wenn auch jährlich einige Hundert aus dem übrigen Deutschland im Osten angesiedelt werden, was soll das bedeuten gegen eine jährlich nach Tausenden wachsende Ein¬ wanderung! Dem gegenüber kann auch die Thätigkeit des Vereins zur Förde¬ rung des Deutschtums nur ein Tropfen auf den heißen Stein sein. Wenn die Negierung der ausländischen Zuwanderung durch Besiedlung den Boden abgraben will, dann müßten ganz andre, energischere Maßregeln ergriffen werden. Die polnische Arbeiterfrage ist geradezu eine Lebensfrage sür das Deutsch¬ tum; sie ist von so ungeheurer Wichtigkeit, daß ihre Lösung nicht den Mini¬ sterien überlassen bleiben, sondern durch Gesetz geschehen sollte. Mit den Ministern wechseln die Ansichten. Daher wird die polnische Arbeiterfrage so lange schwankend und mit keinem oder nur geringem Erfolge für das Deutschtum behandelt werden, als sie zur Zuständigkeit des Ministeriums gehört. Leider aber ist kaum zu erwarten, daß sie je durch Gesetz im deutschnationalen Sinne erledigt werden wird. Mag auch vielleicht die Negierung dazu bereit sein, die deutsche Volksvertretung wird es schwerlich sein. Die sozialdemokratische Partei und die freisinnigen Parteien scheiden wegen ihres Mangels an Deutsch¬ gefühl von vornherein aus. Auch die Zentrumspartei wird nicht zu haben sein. Bei ihr steht in erster Linie immer der Katholik, gleichviel, welchem Volke er angehört, erst in zweiter Linie der Deutsche. Und was die konser¬ vative Partei betrifft, so würden sich ihre gebornen Vertreter, die Großgrund¬ besitzer, mindestens gleichgiltig verhalten, weil ihr materielles Interesse dem Interesse des Deutschtums zuwiderläuft. So bleiben noch die nativnalliberale Partei und deutsch-soziale Reformpartei übrig. Aber beide machen keine Par- lamentsmehrhcit und werden sie auch kaum jemals machen. Wohl wird sich die deutsch-soziale Reformpartei, die in ihrem neuen Programm zur polnischen Einwanderungsfrage im dcutschnationalen Sinne energisch Stellung nehmen soll, noch manchen Reichstagssitz erobern, es hat wenigstens den Anschein; aber nie wird sie eine solche Stärke erreichen, daß sie mit der nationalliberalen Partei, die ihren Höhepunkt überschritten hat, den Ausschlag geben könnte. So wird in Zukunft wohl oder übel eine Lebensfrage des Deutschtums dem Ermessen des preußischen Ministeriums überlassen bleiben. Leider ver¬ missen wir seit Fürst Bismarcks Abgang bei den preußischen Ministern, ab¬ gesehen von dem Finanzminister Miquel, wie in andern, so auch in nationalen Dingen die gehörige Schneidigkeit. Man will es allen recht machen und ver- dirbts mit allen. Vielleicht fügen uns die Handelsverträge einen volkswirt¬ schaftlichen Verlust zu, der dem eines Verlornen Krieges gleichkommt. Hüte man sich, daß sie uns nicht etwa als Ursache des kleinen Mittels der billigen Arbeitskräfte noch einen Gebietsverlust bringen, der zehnmal größer ist als Elsaß-Lothringen. Soll Preußen rechts von der Elbe dem Deutschtum in den

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220325/406>, abgerufen am 16.06.2024.