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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Drittes Vierteljahr.

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Ist die jetzige preußische Regierung national?

daraus zu ziehen. Dies würde die preußische Negierung teilweise verhindern,
wenn sie zur Besiedlung als Käufer in großem Maßstabe auf dem Grund¬
stücksmarkt aufträte.

Es ist auffallend, wie wenig sich die sogenannte öffentliche Meinung, wie
sie in Zeitungen, in Versammlungen und in Eingaben zum Ausdruck kommt,
mit der polnischen Einwanderung beschäftigt hat. Wenn einem Deutschen, der
sein Vaterland vielleicht auf immer verlassen hat, im Ausland ein Unrecht
geschehen sein soll, dann geht durch ganz Deutschland ein Sturm der Ent¬
rüstung. Und doch ist in diesem Falle das deutsche Volk an sich, in seiner Ge¬
samtheit, nicht im geringsten geschädigt, während die polnische Einwanderung
sür uns eine Existenzfrage ist. Es mag ja dem Deutschen im Auslande ein
Unrecht geschehen sein; aber ein noch größeres Unrecht begehen wir selbst an
Angehörigen unsers Volkes, an unserm deutschen Arbeiter im Osten, wenn wir
zulassen, daß durch Ausländer der Tagelohn auf einen Betrag herabgedrückt
wird, bei dem der Inländer nicht bestehen kann. Ist doch in diesem Jahre,
wie die Deutsche Tageszeitung mitteilt, infolge der starken polnischen Ein¬
wanderung der Tagelohn auf neunzig Pfennige gesunken! Was würden wohl
unsre höhern Beamten, die die Geschicke des Ostens leiten, sagen, wenn man
ihnen gegenüber ein derartiges Unterbietungsverfahren einführte? Sollte man
nicht vor allem die deutschen Landarbeiter im Konkurrenzkampfe schützen, da
sie der wirtschaftlich schwächste Teil unsers Volkes sind? Kein Wunder, wenn
der gemeine Mann auf den Gedanken kommt, daß der Begriff Deutschtum für
die höhern Stände bloß soweit, als es deren Vorteil mit sich bringe, vor¬
handen sei, und sich der Sozialdemokratie in die Arme wirft. -

Daß sich die öffentliche Meinung mit der polnischen Einwanderung fast
gar uicht beschäftigt hat, beruht zum Teil darauf, daß ihren Machern das
Schicksal des gemeinen Volkes gleichgiltig ist, weil dessen Interessen nicht die¬
selben sind wie die ihrigen. Zum größten Teil kommt es aber daher, daß
die Verhältnisse unsers deutschen Landarbeiters im Osten und die Gefahren,
die dort dem Deutschtum drohen, zu wenig bekannt sind. In dieser Richtung
aufzuklären, ist der Zweck dieses Aufsatzes. Nimmt sich die öffentliche Meinung
der Angelegenheit kräftig an, dann muß die preußische Regierung ihre Ma߬
regel abändern, wenn anders sie sich nicht offen zum Internationalismus mit
seiner Folge, ven Republikanismus, bekennen will. Noch wäre es Zeit, zu
verhindern, daß ein großer Teil Deutschlands wider den Willen der Besten
seines Volkes durch die Ansichten einiger preußischen Minister, namentlich des
Herrn von Köller, dem Slawentum verfalle, just fünfundzwanzig Jahre nach¬
dem es 40000 Tote auf dem Platze hat liegen lassen, um seine Unabhängig¬
keit und seinen Besitzstand gegen einen viel weniger gefährlichen Feind zu
wahren.




Ist die jetzige preußische Regierung national?

daraus zu ziehen. Dies würde die preußische Negierung teilweise verhindern,
wenn sie zur Besiedlung als Käufer in großem Maßstabe auf dem Grund¬
stücksmarkt aufträte.

Es ist auffallend, wie wenig sich die sogenannte öffentliche Meinung, wie
sie in Zeitungen, in Versammlungen und in Eingaben zum Ausdruck kommt,
mit der polnischen Einwanderung beschäftigt hat. Wenn einem Deutschen, der
sein Vaterland vielleicht auf immer verlassen hat, im Ausland ein Unrecht
geschehen sein soll, dann geht durch ganz Deutschland ein Sturm der Ent¬
rüstung. Und doch ist in diesem Falle das deutsche Volk an sich, in seiner Ge¬
samtheit, nicht im geringsten geschädigt, während die polnische Einwanderung
sür uns eine Existenzfrage ist. Es mag ja dem Deutschen im Auslande ein
Unrecht geschehen sein; aber ein noch größeres Unrecht begehen wir selbst an
Angehörigen unsers Volkes, an unserm deutschen Arbeiter im Osten, wenn wir
zulassen, daß durch Ausländer der Tagelohn auf einen Betrag herabgedrückt
wird, bei dem der Inländer nicht bestehen kann. Ist doch in diesem Jahre,
wie die Deutsche Tageszeitung mitteilt, infolge der starken polnischen Ein¬
wanderung der Tagelohn auf neunzig Pfennige gesunken! Was würden wohl
unsre höhern Beamten, die die Geschicke des Ostens leiten, sagen, wenn man
ihnen gegenüber ein derartiges Unterbietungsverfahren einführte? Sollte man
nicht vor allem die deutschen Landarbeiter im Konkurrenzkampfe schützen, da
sie der wirtschaftlich schwächste Teil unsers Volkes sind? Kein Wunder, wenn
der gemeine Mann auf den Gedanken kommt, daß der Begriff Deutschtum für
die höhern Stände bloß soweit, als es deren Vorteil mit sich bringe, vor¬
handen sei, und sich der Sozialdemokratie in die Arme wirft. -

Daß sich die öffentliche Meinung mit der polnischen Einwanderung fast
gar uicht beschäftigt hat, beruht zum Teil darauf, daß ihren Machern das
Schicksal des gemeinen Volkes gleichgiltig ist, weil dessen Interessen nicht die¬
selben sind wie die ihrigen. Zum größten Teil kommt es aber daher, daß
die Verhältnisse unsers deutschen Landarbeiters im Osten und die Gefahren,
die dort dem Deutschtum drohen, zu wenig bekannt sind. In dieser Richtung
aufzuklären, ist der Zweck dieses Aufsatzes. Nimmt sich die öffentliche Meinung
der Angelegenheit kräftig an, dann muß die preußische Regierung ihre Ma߬
regel abändern, wenn anders sie sich nicht offen zum Internationalismus mit
seiner Folge, ven Republikanismus, bekennen will. Noch wäre es Zeit, zu
verhindern, daß ein großer Teil Deutschlands wider den Willen der Besten
seines Volkes durch die Ansichten einiger preußischen Minister, namentlich des
Herrn von Köller, dem Slawentum verfalle, just fünfundzwanzig Jahre nach¬
dem es 40000 Tote auf dem Platze hat liegen lassen, um seine Unabhängig¬
keit und seinen Besitzstand gegen einen viel weniger gefährlichen Feind zu
wahren.




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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220325/408>, abgerufen am 11.05.2024.