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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Drittes Vierteljahr.

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Das medizinische Studium

sie in den Grundlagen der Anatomie und der Physiologie die Reife des Stu¬
denten für das weitere Studium festgestellt werden. Soll sich nun der Student
noch ein weiteres Semester mit dem naturwissenschaftlichen Ballast herum¬
schleppen?^) Wird dieses Semester nicht, je mich der Befähigung und dem
vorhergegangnem Fleiße, ein Paul- oder -- ein Bummelsemester werden, an¬
statt, wie bisher, für die Einführung in die Pathologie verwandt zu werden?
Der wichtigere Teil des Studiums folgt doch erst aus das Physikum. Denn
mit dem fünften Semester beginnt eigentlich erst das Studium der Medizin,
d. h. die Beschäftigung mit dem kranken menschlichen Körper. Oder glaubt
man, dieses Studium könne inzwischen ruhig begonnen und dann das Phy¬
sikum mitten hineingeschoben werden? Das wäre so, als wollte man zwischen
Obersekunda und Prima eine Prüfung in der mit Untersekunda abschließenden
Botanik einschieben. Es ist schlechterdings kein Grund vorhanden, das Phy¬
sikum eil? Semester hinauszuschieben. Wenn nicht die genannten Un billigsten
einträten, so könnte man die Ablegung schon nach dem dritten Semester ge¬
statten. So aber möge man es wenigstens beim Alten lassen. Dann bleiben
zum Hauptteil des Studiums drei volle Jahre.

Daß eine schärfere Handhabung der Examina nötig ist, branche ich wohl
nicht erst lange auseinanderzusetzen. Es ist das das einzige Mittel, untüchtige
Leute zurückzudrängen. Vor alleu Dingen sollte das "Durchsitzen" völlig auf¬
hören. Eine Wiederholung uach einem vollen Semester sollte gestattet sein,
aber mehr nicht. Fällt der Prüfung das zweitemal wieder durch, dann mag
er etwas andres anfangen; für den gewählten Beruf hat er dann entweder
keine Begabung oder nicht genug Fleiß. Gerade das Physikum sollte recht
scharf genommen werden; denn es ist viel härter, wenn man den Studenten
hier durchschlüpfen läßt und dann im Staatsexamen zu Falle bringt, als
wenn er schon im Physikum füllt, wo er erst zwei Jahre verloren hat.

Auch die Verschärfung der Prüfung in Anatomie und Physiologie, sowie
beim Staatsexamen in der Pathologie ist nur zu raten. Der Arzt -- mag
er auch mehr chirurgisch beanlagt sein -- muß auf der Höhe der Bernfs-
wissenschcift stehe"; er soll Praktiker, aber er soll auch Theoretiker sein. Die
kühle Aufnahme, die die physiologischen und pathologischen Fortschritte bei so
vielen Ärzten finden, ist sehr zu bedauern.

Noch eine Prüfung bleibt zu berühren: das Doktorexamen. Der Titel
"Doktor" sollte doch eigentlich eine Zierde, ein Zeugnis für wissenschaftliche



Für (.'inen jungen Mann bildet jeder Wissensstoff, für den ihm in irgend welcher
Zeit eine Prüfung bevorsteht, einen gewissen Ballast, der freilich oft sehr wichtig und nötig
ist; da aber der junge Mann nie imstande ist, sich selbst zu prüfen, so wartet er ängstlich
auf das drohende Examen. Ist das vorüber, so ist er erleichtert, dann denkt er weit lieber
an das Gelernte, wie man ja häufig findet, daß sich Männer privatim in Fächer vertiefen,
die sie aus der Schule nicht gern betrieben.
Das medizinische Studium

sie in den Grundlagen der Anatomie und der Physiologie die Reife des Stu¬
denten für das weitere Studium festgestellt werden. Soll sich nun der Student
noch ein weiteres Semester mit dem naturwissenschaftlichen Ballast herum¬
schleppen?^) Wird dieses Semester nicht, je mich der Befähigung und dem
vorhergegangnem Fleiße, ein Paul- oder — ein Bummelsemester werden, an¬
statt, wie bisher, für die Einführung in die Pathologie verwandt zu werden?
Der wichtigere Teil des Studiums folgt doch erst aus das Physikum. Denn
mit dem fünften Semester beginnt eigentlich erst das Studium der Medizin,
d. h. die Beschäftigung mit dem kranken menschlichen Körper. Oder glaubt
man, dieses Studium könne inzwischen ruhig begonnen und dann das Phy¬
sikum mitten hineingeschoben werden? Das wäre so, als wollte man zwischen
Obersekunda und Prima eine Prüfung in der mit Untersekunda abschließenden
Botanik einschieben. Es ist schlechterdings kein Grund vorhanden, das Phy¬
sikum eil? Semester hinauszuschieben. Wenn nicht die genannten Un billigsten
einträten, so könnte man die Ablegung schon nach dem dritten Semester ge¬
statten. So aber möge man es wenigstens beim Alten lassen. Dann bleiben
zum Hauptteil des Studiums drei volle Jahre.

Daß eine schärfere Handhabung der Examina nötig ist, branche ich wohl
nicht erst lange auseinanderzusetzen. Es ist das das einzige Mittel, untüchtige
Leute zurückzudrängen. Vor alleu Dingen sollte das „Durchsitzen" völlig auf¬
hören. Eine Wiederholung uach einem vollen Semester sollte gestattet sein,
aber mehr nicht. Fällt der Prüfung das zweitemal wieder durch, dann mag
er etwas andres anfangen; für den gewählten Beruf hat er dann entweder
keine Begabung oder nicht genug Fleiß. Gerade das Physikum sollte recht
scharf genommen werden; denn es ist viel härter, wenn man den Studenten
hier durchschlüpfen läßt und dann im Staatsexamen zu Falle bringt, als
wenn er schon im Physikum füllt, wo er erst zwei Jahre verloren hat.

Auch die Verschärfung der Prüfung in Anatomie und Physiologie, sowie
beim Staatsexamen in der Pathologie ist nur zu raten. Der Arzt — mag
er auch mehr chirurgisch beanlagt sein — muß auf der Höhe der Bernfs-
wissenschcift stehe»; er soll Praktiker, aber er soll auch Theoretiker sein. Die
kühle Aufnahme, die die physiologischen und pathologischen Fortschritte bei so
vielen Ärzten finden, ist sehr zu bedauern.

Noch eine Prüfung bleibt zu berühren: das Doktorexamen. Der Titel
„Doktor" sollte doch eigentlich eine Zierde, ein Zeugnis für wissenschaftliche



Für (.'inen jungen Mann bildet jeder Wissensstoff, für den ihm in irgend welcher
Zeit eine Prüfung bevorsteht, einen gewissen Ballast, der freilich oft sehr wichtig und nötig
ist; da aber der junge Mann nie imstande ist, sich selbst zu prüfen, so wartet er ängstlich
auf das drohende Examen. Ist das vorüber, so ist er erleichtert, dann denkt er weit lieber
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[0424] Das medizinische Studium sie in den Grundlagen der Anatomie und der Physiologie die Reife des Stu¬ denten für das weitere Studium festgestellt werden. Soll sich nun der Student noch ein weiteres Semester mit dem naturwissenschaftlichen Ballast herum¬ schleppen?^) Wird dieses Semester nicht, je mich der Befähigung und dem vorhergegangnem Fleiße, ein Paul- oder — ein Bummelsemester werden, an¬ statt, wie bisher, für die Einführung in die Pathologie verwandt zu werden? Der wichtigere Teil des Studiums folgt doch erst aus das Physikum. Denn mit dem fünften Semester beginnt eigentlich erst das Studium der Medizin, d. h. die Beschäftigung mit dem kranken menschlichen Körper. Oder glaubt man, dieses Studium könne inzwischen ruhig begonnen und dann das Phy¬ sikum mitten hineingeschoben werden? Das wäre so, als wollte man zwischen Obersekunda und Prima eine Prüfung in der mit Untersekunda abschließenden Botanik einschieben. Es ist schlechterdings kein Grund vorhanden, das Phy¬ sikum eil? Semester hinauszuschieben. Wenn nicht die genannten Un billigsten einträten, so könnte man die Ablegung schon nach dem dritten Semester ge¬ statten. So aber möge man es wenigstens beim Alten lassen. Dann bleiben zum Hauptteil des Studiums drei volle Jahre. Daß eine schärfere Handhabung der Examina nötig ist, branche ich wohl nicht erst lange auseinanderzusetzen. Es ist das das einzige Mittel, untüchtige Leute zurückzudrängen. Vor alleu Dingen sollte das „Durchsitzen" völlig auf¬ hören. Eine Wiederholung uach einem vollen Semester sollte gestattet sein, aber mehr nicht. Fällt der Prüfung das zweitemal wieder durch, dann mag er etwas andres anfangen; für den gewählten Beruf hat er dann entweder keine Begabung oder nicht genug Fleiß. Gerade das Physikum sollte recht scharf genommen werden; denn es ist viel härter, wenn man den Studenten hier durchschlüpfen läßt und dann im Staatsexamen zu Falle bringt, als wenn er schon im Physikum füllt, wo er erst zwei Jahre verloren hat. Auch die Verschärfung der Prüfung in Anatomie und Physiologie, sowie beim Staatsexamen in der Pathologie ist nur zu raten. Der Arzt — mag er auch mehr chirurgisch beanlagt sein — muß auf der Höhe der Bernfs- wissenschcift stehe»; er soll Praktiker, aber er soll auch Theoretiker sein. Die kühle Aufnahme, die die physiologischen und pathologischen Fortschritte bei so vielen Ärzten finden, ist sehr zu bedauern. Noch eine Prüfung bleibt zu berühren: das Doktorexamen. Der Titel „Doktor" sollte doch eigentlich eine Zierde, ein Zeugnis für wissenschaftliche Für (.'inen jungen Mann bildet jeder Wissensstoff, für den ihm in irgend welcher Zeit eine Prüfung bevorsteht, einen gewissen Ballast, der freilich oft sehr wichtig und nötig ist; da aber der junge Mann nie imstande ist, sich selbst zu prüfen, so wartet er ängstlich auf das drohende Examen. Ist das vorüber, so ist er erleichtert, dann denkt er weit lieber an das Gelernte, wie man ja häufig findet, daß sich Männer privatim in Fächer vertiefen, die sie aus der Schule nicht gern betrieben.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220325/424>, abgerufen am 16.06.2024.