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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Drittes Vierteljahr.

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Zur Kenntnis der englischen Weltpolitik

Dazu kommt der unwägbare, aber höchst fühlbare geistige und geschicht¬
liche Wert. An Indien ist England groß geworden, und die Entwicklung der
englischen Verwaltung Indiens liefert die triftigsten Beweise für die ungeheuern
Fortschritte der politischen Theorie und Praxis in England seit der ersten Er¬
werbung von Landrechten durch die Ostindische Gesellschaft im Jahre der Schlacht
bei Plassey (1757). Indien beweist, daß England im Erfolg wie im Genuß
nicht erschlafft. Aus dem rein fiskalisch verwalteten Besitz einer Kaufmanns¬
gesellschaft machte das ?srro.M"ziit Löttlsinent von 1793 einen staatlich orga-
nisirten Körper, der nach dem Ausstanze von 1858 an die Krone überging.
1893 hat man ihn den folgenschweren Schritt zu einer halbkonstitutionellen
Verfassung machen lassen. Bis dahin ist die englische Geschichte in Indien
ohne die Völker, wenn auch zum Teil sür die Völker Indiens gemacht worden.
Indien ist von einigen der größten Staatsmänner regiert worden, die England
hervorgebracht hat. An seinem Gedeihen mißt sich und wird sich jederzeit
messen die Leistungsfähigkeit des Mutterlandes, und zwar die ganze. Un¬
unterbrochen fließt ihm eine Fülle von Geist und vielseitiger Schulung zu.
Der Aufgabe, 300 Millionen Asiaten mit noch nicht 100000 europäischen
Beamten, Offizieren und Soldaten -- die europäische Armee in Indien zählt
72000 Mann, dazu kommen gegen 2000 Offiziere der Eingebornentruppeu --
zu regieren, ist nicht Kühnheit und Willenskraft allein gewachsen, es gehört
dazu unglaublich viel Wissen und Können. Man muß sich in die Völker ein¬
leben und doch über ihnen stehen. Es ist Wohl wahr, was Lord Roberts sagte,
daß es eine verhängnisvolle Täuschung sei, zu glauben, die englische Herr¬
schaft in Indien könne ohne das Vertrauen der Völker Indiens aufrecht er¬
halten werden. Aber jedenfalls dachte der Befreier von Kandahar dabei auch an
das Vertrauen dieser Völker auf die Macht ihrer Beherrscher. Von ihm
stammt ja auch der andre Satz: Die Asiaten sind auf der Seite dessen, dem
sie den Sieg zutrauen.

' '1,

Ein so gewaltiges Land sest und sein so verschiedenartiges, tiefzerklüftetes
Völkergewirr in der Hand zu halten, mit den Barbaren nicht barbarisch zu
werden und doch mit ihnen zum Verständnis zu gelangen, sie zu erziehen und sie
doch nicht zu hoch kommen zu lassen, das ist eine Verbindung der schwierigsten
Aufgaben. Bleibt doch für England Indien immer die größte und schwierigste
der "Ausbentuugskvlonien." Es muß also der Weg gefunden werden zwischen
Menschlichkeit und Ausbeutung, zwischen Hebung und Druck. Der fremde Be¬
urteiler Indiens wiederholt noch immer die vor siebzig Jahren niedergeschriebnen
Worte des feinen Schilderers Jacquemont: "Die gewaltige Ausbreitung der
englischen Macht ist ein Glück zu nennen; ohne Zweifel bringt sie viel Un¬
billiges und besonders die hassenswerteste Heuchelei mit sich, aber sie verhindert


Zur Kenntnis der englischen Weltpolitik

Dazu kommt der unwägbare, aber höchst fühlbare geistige und geschicht¬
liche Wert. An Indien ist England groß geworden, und die Entwicklung der
englischen Verwaltung Indiens liefert die triftigsten Beweise für die ungeheuern
Fortschritte der politischen Theorie und Praxis in England seit der ersten Er¬
werbung von Landrechten durch die Ostindische Gesellschaft im Jahre der Schlacht
bei Plassey (1757). Indien beweist, daß England im Erfolg wie im Genuß
nicht erschlafft. Aus dem rein fiskalisch verwalteten Besitz einer Kaufmanns¬
gesellschaft machte das ?srro.M«ziit Löttlsinent von 1793 einen staatlich orga-
nisirten Körper, der nach dem Ausstanze von 1858 an die Krone überging.
1893 hat man ihn den folgenschweren Schritt zu einer halbkonstitutionellen
Verfassung machen lassen. Bis dahin ist die englische Geschichte in Indien
ohne die Völker, wenn auch zum Teil sür die Völker Indiens gemacht worden.
Indien ist von einigen der größten Staatsmänner regiert worden, die England
hervorgebracht hat. An seinem Gedeihen mißt sich und wird sich jederzeit
messen die Leistungsfähigkeit des Mutterlandes, und zwar die ganze. Un¬
unterbrochen fließt ihm eine Fülle von Geist und vielseitiger Schulung zu.
Der Aufgabe, 300 Millionen Asiaten mit noch nicht 100000 europäischen
Beamten, Offizieren und Soldaten — die europäische Armee in Indien zählt
72000 Mann, dazu kommen gegen 2000 Offiziere der Eingebornentruppeu —
zu regieren, ist nicht Kühnheit und Willenskraft allein gewachsen, es gehört
dazu unglaublich viel Wissen und Können. Man muß sich in die Völker ein¬
leben und doch über ihnen stehen. Es ist Wohl wahr, was Lord Roberts sagte,
daß es eine verhängnisvolle Täuschung sei, zu glauben, die englische Herr¬
schaft in Indien könne ohne das Vertrauen der Völker Indiens aufrecht er¬
halten werden. Aber jedenfalls dachte der Befreier von Kandahar dabei auch an
das Vertrauen dieser Völker auf die Macht ihrer Beherrscher. Von ihm
stammt ja auch der andre Satz: Die Asiaten sind auf der Seite dessen, dem
sie den Sieg zutrauen.

' '1,

Ein so gewaltiges Land sest und sein so verschiedenartiges, tiefzerklüftetes
Völkergewirr in der Hand zu halten, mit den Barbaren nicht barbarisch zu
werden und doch mit ihnen zum Verständnis zu gelangen, sie zu erziehen und sie
doch nicht zu hoch kommen zu lassen, das ist eine Verbindung der schwierigsten
Aufgaben. Bleibt doch für England Indien immer die größte und schwierigste
der „Ausbentuugskvlonien." Es muß also der Weg gefunden werden zwischen
Menschlichkeit und Ausbeutung, zwischen Hebung und Druck. Der fremde Be¬
urteiler Indiens wiederholt noch immer die vor siebzig Jahren niedergeschriebnen
Worte des feinen Schilderers Jacquemont: „Die gewaltige Ausbreitung der
englischen Macht ist ein Glück zu nennen; ohne Zweifel bringt sie viel Un¬
billiges und besonders die hassenswerteste Heuchelei mit sich, aber sie verhindert


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[0498] Zur Kenntnis der englischen Weltpolitik Dazu kommt der unwägbare, aber höchst fühlbare geistige und geschicht¬ liche Wert. An Indien ist England groß geworden, und die Entwicklung der englischen Verwaltung Indiens liefert die triftigsten Beweise für die ungeheuern Fortschritte der politischen Theorie und Praxis in England seit der ersten Er¬ werbung von Landrechten durch die Ostindische Gesellschaft im Jahre der Schlacht bei Plassey (1757). Indien beweist, daß England im Erfolg wie im Genuß nicht erschlafft. Aus dem rein fiskalisch verwalteten Besitz einer Kaufmanns¬ gesellschaft machte das ?srro.M«ziit Löttlsinent von 1793 einen staatlich orga- nisirten Körper, der nach dem Ausstanze von 1858 an die Krone überging. 1893 hat man ihn den folgenschweren Schritt zu einer halbkonstitutionellen Verfassung machen lassen. Bis dahin ist die englische Geschichte in Indien ohne die Völker, wenn auch zum Teil sür die Völker Indiens gemacht worden. Indien ist von einigen der größten Staatsmänner regiert worden, die England hervorgebracht hat. An seinem Gedeihen mißt sich und wird sich jederzeit messen die Leistungsfähigkeit des Mutterlandes, und zwar die ganze. Un¬ unterbrochen fließt ihm eine Fülle von Geist und vielseitiger Schulung zu. Der Aufgabe, 300 Millionen Asiaten mit noch nicht 100000 europäischen Beamten, Offizieren und Soldaten — die europäische Armee in Indien zählt 72000 Mann, dazu kommen gegen 2000 Offiziere der Eingebornentruppeu — zu regieren, ist nicht Kühnheit und Willenskraft allein gewachsen, es gehört dazu unglaublich viel Wissen und Können. Man muß sich in die Völker ein¬ leben und doch über ihnen stehen. Es ist Wohl wahr, was Lord Roberts sagte, daß es eine verhängnisvolle Täuschung sei, zu glauben, die englische Herr¬ schaft in Indien könne ohne das Vertrauen der Völker Indiens aufrecht er¬ halten werden. Aber jedenfalls dachte der Befreier von Kandahar dabei auch an das Vertrauen dieser Völker auf die Macht ihrer Beherrscher. Von ihm stammt ja auch der andre Satz: Die Asiaten sind auf der Seite dessen, dem sie den Sieg zutrauen. ' '1, Ein so gewaltiges Land sest und sein so verschiedenartiges, tiefzerklüftetes Völkergewirr in der Hand zu halten, mit den Barbaren nicht barbarisch zu werden und doch mit ihnen zum Verständnis zu gelangen, sie zu erziehen und sie doch nicht zu hoch kommen zu lassen, das ist eine Verbindung der schwierigsten Aufgaben. Bleibt doch für England Indien immer die größte und schwierigste der „Ausbentuugskvlonien." Es muß also der Weg gefunden werden zwischen Menschlichkeit und Ausbeutung, zwischen Hebung und Druck. Der fremde Be¬ urteiler Indiens wiederholt noch immer die vor siebzig Jahren niedergeschriebnen Worte des feinen Schilderers Jacquemont: „Die gewaltige Ausbreitung der englischen Macht ist ein Glück zu nennen; ohne Zweifel bringt sie viel Un¬ billiges und besonders die hassenswerteste Heuchelei mit sich, aber sie verhindert

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220325/498>, abgerufen am 12.05.2024.