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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Drittes Vierteljahr.

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größere Greuel." Alle Widersprüche der indischen Politik Englands führen
eins dieses Laviren zwischen Ausbeutung und Hebung der Völker zurück.

In diesem Wegsuchen zwischen politischen und moralischen Extremen liegt
aber auch die Gefahr für die englische Herrschaft in Indien. Die parlamen¬
tarische Regierung jedes Mitglied des Parlaments ist zugleich Mitglied für
Indien, sagt ein geflügeltes Wort -- begünstigt das Experimentiren. Auch
ohne Urteil und Sachkenntnis gewinnen Politiker den maßgebenden Einfluß im
indischen Amt und Probiren ihre Theorien an dem großen, geduldigen Körper.
John Bright sagte vor vierzig Jahren von ihrer Stellung gegenüber ihrer ge¬
waltigen Ausgabe: "Wie wäre es, wenn ganz Europa unter einem Gouverneur
stünde, der nur die Sprache der Fidschiinsulaner kennt und von Beamten be¬
dient wird, die ebenfalls nur diese kennen, wenn sie auch etwas intelligenter
sind als die Fidschiinsulaner?" Dies hat sich wesentlich geändert. Geschichte,
Sprache und Sitten der Eingebornen müssen den Beamten bekannt sein, die
mit ihnen in Berührung kommen. Die Prüfungen der Kandidaten für indische
Ämter verlangen viel und sollen streng geführt werden. Der Bizekönig hat
in Indien eine Art von Ministerium sachkundiger Männer und der Sekretär
des indischen Amts in London einen Stab von Beamten, die in Indien ge¬
dient haben. Das Parlament läßt diese beiden Regierungsmaschinen meist
ganz ungehindert arbeiten, aber die öffentliche Meinung kontrollirt sie von
Jahr zu Jahr genauer. Oft ist in den letzten Jahren in den Parlaments¬
reden über Indien das tiefere Interesse des heutigen Englands an Indien dem
oberflächlichen des vorigen Geschlechts gegenübergestellt worden, und der Se¬
kretär des indischen Amts unter Roseberry, Fowler, hat kürzlich gesagt, daß
niemals das englische Volk als ein Ganzes so entschlossen gewesen sei, Indien
sest, aber gerecht zu regieren. "England wird Indien mit der ganzen Zähig¬
keit und dem festen Griff der Rasse festhalten." Sowohl die äußern Gefahren
als die innern Schwierigkeiten haben die Anstrengungen gesteigert, von denen
man freilich noch zweifeln muß, daß sie der Riescnaufgabe auf die Dauer ge¬
wachsen sein werden.

Wird es z. B. möglich sein, bei der Zunahme der indischen Wett-
bewerbung auf gewerblichen Gebiet den gemeinen Neid einflußreicher Gruppen,
wie der Vaumwollfabrikanten von Lancashire oder der Jutefabrikanten von
Dundee, zu hindern, die öffentliche Meinung gegen Indiens Interesse auf¬
zuregen? Der Parlamentarismus, der seit der Losreißung der dreizehn
nordamerikanischen Kolonien so manche Beweise sür die Unfähigkeit großer
Körperschaften geliefert hat, die verwickelten Probleme der Kolonialpolitik
zu lösen, hat bisher auch nicht viel Geschick in der Behandlung Indiens
gezeigt. Das Volk ist auch in seinen Vertretern weder weitsichtig noch gro߬
herzig. Der Parse Naorvij, der letzten Winter die kühne Äußerung wagte,
England möge erst den Zustand der Jndier verbessern, ehe es sich über arme-


größere Greuel." Alle Widersprüche der indischen Politik Englands führen
eins dieses Laviren zwischen Ausbeutung und Hebung der Völker zurück.

In diesem Wegsuchen zwischen politischen und moralischen Extremen liegt
aber auch die Gefahr für die englische Herrschaft in Indien. Die parlamen¬
tarische Regierung jedes Mitglied des Parlaments ist zugleich Mitglied für
Indien, sagt ein geflügeltes Wort — begünstigt das Experimentiren. Auch
ohne Urteil und Sachkenntnis gewinnen Politiker den maßgebenden Einfluß im
indischen Amt und Probiren ihre Theorien an dem großen, geduldigen Körper.
John Bright sagte vor vierzig Jahren von ihrer Stellung gegenüber ihrer ge¬
waltigen Ausgabe: „Wie wäre es, wenn ganz Europa unter einem Gouverneur
stünde, der nur die Sprache der Fidschiinsulaner kennt und von Beamten be¬
dient wird, die ebenfalls nur diese kennen, wenn sie auch etwas intelligenter
sind als die Fidschiinsulaner?" Dies hat sich wesentlich geändert. Geschichte,
Sprache und Sitten der Eingebornen müssen den Beamten bekannt sein, die
mit ihnen in Berührung kommen. Die Prüfungen der Kandidaten für indische
Ämter verlangen viel und sollen streng geführt werden. Der Bizekönig hat
in Indien eine Art von Ministerium sachkundiger Männer und der Sekretär
des indischen Amts in London einen Stab von Beamten, die in Indien ge¬
dient haben. Das Parlament läßt diese beiden Regierungsmaschinen meist
ganz ungehindert arbeiten, aber die öffentliche Meinung kontrollirt sie von
Jahr zu Jahr genauer. Oft ist in den letzten Jahren in den Parlaments¬
reden über Indien das tiefere Interesse des heutigen Englands an Indien dem
oberflächlichen des vorigen Geschlechts gegenübergestellt worden, und der Se¬
kretär des indischen Amts unter Roseberry, Fowler, hat kürzlich gesagt, daß
niemals das englische Volk als ein Ganzes so entschlossen gewesen sei, Indien
sest, aber gerecht zu regieren. „England wird Indien mit der ganzen Zähig¬
keit und dem festen Griff der Rasse festhalten." Sowohl die äußern Gefahren
als die innern Schwierigkeiten haben die Anstrengungen gesteigert, von denen
man freilich noch zweifeln muß, daß sie der Riescnaufgabe auf die Dauer ge¬
wachsen sein werden.

Wird es z. B. möglich sein, bei der Zunahme der indischen Wett-
bewerbung auf gewerblichen Gebiet den gemeinen Neid einflußreicher Gruppen,
wie der Vaumwollfabrikanten von Lancashire oder der Jutefabrikanten von
Dundee, zu hindern, die öffentliche Meinung gegen Indiens Interesse auf¬
zuregen? Der Parlamentarismus, der seit der Losreißung der dreizehn
nordamerikanischen Kolonien so manche Beweise sür die Unfähigkeit großer
Körperschaften geliefert hat, die verwickelten Probleme der Kolonialpolitik
zu lösen, hat bisher auch nicht viel Geschick in der Behandlung Indiens
gezeigt. Das Volk ist auch in seinen Vertretern weder weitsichtig noch gro߬
herzig. Der Parse Naorvij, der letzten Winter die kühne Äußerung wagte,
England möge erst den Zustand der Jndier verbessern, ehe es sich über arme-


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[0499] größere Greuel." Alle Widersprüche der indischen Politik Englands führen eins dieses Laviren zwischen Ausbeutung und Hebung der Völker zurück. In diesem Wegsuchen zwischen politischen und moralischen Extremen liegt aber auch die Gefahr für die englische Herrschaft in Indien. Die parlamen¬ tarische Regierung jedes Mitglied des Parlaments ist zugleich Mitglied für Indien, sagt ein geflügeltes Wort — begünstigt das Experimentiren. Auch ohne Urteil und Sachkenntnis gewinnen Politiker den maßgebenden Einfluß im indischen Amt und Probiren ihre Theorien an dem großen, geduldigen Körper. John Bright sagte vor vierzig Jahren von ihrer Stellung gegenüber ihrer ge¬ waltigen Ausgabe: „Wie wäre es, wenn ganz Europa unter einem Gouverneur stünde, der nur die Sprache der Fidschiinsulaner kennt und von Beamten be¬ dient wird, die ebenfalls nur diese kennen, wenn sie auch etwas intelligenter sind als die Fidschiinsulaner?" Dies hat sich wesentlich geändert. Geschichte, Sprache und Sitten der Eingebornen müssen den Beamten bekannt sein, die mit ihnen in Berührung kommen. Die Prüfungen der Kandidaten für indische Ämter verlangen viel und sollen streng geführt werden. Der Bizekönig hat in Indien eine Art von Ministerium sachkundiger Männer und der Sekretär des indischen Amts in London einen Stab von Beamten, die in Indien ge¬ dient haben. Das Parlament läßt diese beiden Regierungsmaschinen meist ganz ungehindert arbeiten, aber die öffentliche Meinung kontrollirt sie von Jahr zu Jahr genauer. Oft ist in den letzten Jahren in den Parlaments¬ reden über Indien das tiefere Interesse des heutigen Englands an Indien dem oberflächlichen des vorigen Geschlechts gegenübergestellt worden, und der Se¬ kretär des indischen Amts unter Roseberry, Fowler, hat kürzlich gesagt, daß niemals das englische Volk als ein Ganzes so entschlossen gewesen sei, Indien sest, aber gerecht zu regieren. „England wird Indien mit der ganzen Zähig¬ keit und dem festen Griff der Rasse festhalten." Sowohl die äußern Gefahren als die innern Schwierigkeiten haben die Anstrengungen gesteigert, von denen man freilich noch zweifeln muß, daß sie der Riescnaufgabe auf die Dauer ge¬ wachsen sein werden. Wird es z. B. möglich sein, bei der Zunahme der indischen Wett- bewerbung auf gewerblichen Gebiet den gemeinen Neid einflußreicher Gruppen, wie der Vaumwollfabrikanten von Lancashire oder der Jutefabrikanten von Dundee, zu hindern, die öffentliche Meinung gegen Indiens Interesse auf¬ zuregen? Der Parlamentarismus, der seit der Losreißung der dreizehn nordamerikanischen Kolonien so manche Beweise sür die Unfähigkeit großer Körperschaften geliefert hat, die verwickelten Probleme der Kolonialpolitik zu lösen, hat bisher auch nicht viel Geschick in der Behandlung Indiens gezeigt. Das Volk ist auch in seinen Vertretern weder weitsichtig noch gro߬ herzig. Der Parse Naorvij, der letzten Winter die kühne Äußerung wagte, England möge erst den Zustand der Jndier verbessern, ehe es sich über arme-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220325/499>, abgerufen am 06.06.2024.