Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Friedrich Hebbel und Veto Ludwig

Vorgänger da. Das Überwiegen der rein formalen Elemente, der dichterischen
Fertigkeit, das Hauptkennzeichen der Epigonenpoesie, fehlt bei beiden völlig,
sie wollen zwar auf den großen Stil und die allgemeine menschliche Grund¬
lage der Klassiker (und Shakespeares) nicht verzichten, aber sie graben zugleich
die Wurzeln der Charaktere und aller menschlichen Verhältnisse tiefer auf, als
es die klassische Dichtung sür nötig und möglich hielt, und so sehen wir bei
ihnen meist ein schweres Ringen mit ihren Stoffen, das sich auch der Form
aufprägt. Eine eigne Höhe der deutschen Dichtung bezeichnen sie im Vergleich
zu den Klassikern nicht, aber sie bringen Neues, sind Vorläufer, ihre Poesie
ist Progvnenpoesie im Gegensatz zu der Epigonenpoesie und muß so bezeichnet
werden selbst auf die Gefahr hin, daß die neue Höhe nicht erreicht werden
sollte. Sollte sie aber erreicht werden, so werden Hebbel und Ludwig die
Verbindung zwischen beiden Höhen herstellen.

Man hat auf Hebbel und Ludwig und noch einige andre deutsche Dichter,
wie Kleist, den von Friedrich Bischer stammenden Ausdruck "partielle Genies"
angewandt. Er ist leicht mißzuverstehen, unvollständige Genies kann es im
Grunde nicht geben, die Allseitigkeit oder doch die nötige Geschlossenheit des
Wesens ist ja eins der wesentlichen Merkmale des Genies im Gegensatz zum
Talent, das das eine hat, das andre aber nicht. Hebbel und Ludwig geniale
Naturen, ja auch geradezu Genies zu nennen, trägt man kein Bedenken, aber
man wird sie doch nie mit Shakespeare und Goethe, mit Dante und Cervantes,
ja auch nicht mit den der Wirkung nach diesen Genies verwandten nationalen
Talenten ersten Ranges, wie Molivre und Schiller, aus die gleiche Stufe
stellen. So muß man eben Genies zweiten Ranges annehmen, eine eigne
Gattung, für die man denn auch in allen Litteraturen, in allen Künsten Ver¬
treter findet; sie sind von Talenten sehr leicht zu unterscheiden, aber ihrem
tiefsten Wesen nach nicht leicht zu erkennen. Außer partiellen und wegwerfender
Halbgenies hat man sie auch wohl pathologische Genies genannt, und einen
ausgeprägten Zug des Leidens (aber nicht eigentliche Krankheit) wird man
bei ihnen wohl meistens finden, ihn auch zum Teil auf Anlage und durch
Zeitumstände und persönliche Schicksale gestörte Entwicklung zurückführen können.
Viel weiter aber kommt man dadurch nicht. Die wesentlichen Dichtergaben,
die gewaltige Anschcmungs-, die große Gestaltungskraft haben sie ohne Zweifel,
dazu auch tiefe ästhetische Erkenntnis und unbeirrbaren künstlerischen Ernst;
trotzdem erreichen sie das Höchste nicht. Manchmal ist ein Bruch zwischen
Kraft und Erkenntnis da; indem Hebbel ausführte, daß sich bei dem normalen
Dichter Kraft und Erkenntnis entsprächen, hat er vielleicht eine geheime Wunde
berührt. Von ihm stammt auch das verzweifelte Wort: "Große Talente
stammen von Gott, kleine vom Teufel," und es ist anzunehmen, daß er es
in einem Augenblick niedergeschrieben hat, wo er sich bewußt war, daß er
das Vortreffliche, das er erkannte, nicht allezeit rein zu gestalten vermochte.


Friedrich Hebbel und Veto Ludwig

Vorgänger da. Das Überwiegen der rein formalen Elemente, der dichterischen
Fertigkeit, das Hauptkennzeichen der Epigonenpoesie, fehlt bei beiden völlig,
sie wollen zwar auf den großen Stil und die allgemeine menschliche Grund¬
lage der Klassiker (und Shakespeares) nicht verzichten, aber sie graben zugleich
die Wurzeln der Charaktere und aller menschlichen Verhältnisse tiefer auf, als
es die klassische Dichtung sür nötig und möglich hielt, und so sehen wir bei
ihnen meist ein schweres Ringen mit ihren Stoffen, das sich auch der Form
aufprägt. Eine eigne Höhe der deutschen Dichtung bezeichnen sie im Vergleich
zu den Klassikern nicht, aber sie bringen Neues, sind Vorläufer, ihre Poesie
ist Progvnenpoesie im Gegensatz zu der Epigonenpoesie und muß so bezeichnet
werden selbst auf die Gefahr hin, daß die neue Höhe nicht erreicht werden
sollte. Sollte sie aber erreicht werden, so werden Hebbel und Ludwig die
Verbindung zwischen beiden Höhen herstellen.

Man hat auf Hebbel und Ludwig und noch einige andre deutsche Dichter,
wie Kleist, den von Friedrich Bischer stammenden Ausdruck „partielle Genies"
angewandt. Er ist leicht mißzuverstehen, unvollständige Genies kann es im
Grunde nicht geben, die Allseitigkeit oder doch die nötige Geschlossenheit des
Wesens ist ja eins der wesentlichen Merkmale des Genies im Gegensatz zum
Talent, das das eine hat, das andre aber nicht. Hebbel und Ludwig geniale
Naturen, ja auch geradezu Genies zu nennen, trägt man kein Bedenken, aber
man wird sie doch nie mit Shakespeare und Goethe, mit Dante und Cervantes,
ja auch nicht mit den der Wirkung nach diesen Genies verwandten nationalen
Talenten ersten Ranges, wie Molivre und Schiller, aus die gleiche Stufe
stellen. So muß man eben Genies zweiten Ranges annehmen, eine eigne
Gattung, für die man denn auch in allen Litteraturen, in allen Künsten Ver¬
treter findet; sie sind von Talenten sehr leicht zu unterscheiden, aber ihrem
tiefsten Wesen nach nicht leicht zu erkennen. Außer partiellen und wegwerfender
Halbgenies hat man sie auch wohl pathologische Genies genannt, und einen
ausgeprägten Zug des Leidens (aber nicht eigentliche Krankheit) wird man
bei ihnen wohl meistens finden, ihn auch zum Teil auf Anlage und durch
Zeitumstände und persönliche Schicksale gestörte Entwicklung zurückführen können.
Viel weiter aber kommt man dadurch nicht. Die wesentlichen Dichtergaben,
die gewaltige Anschcmungs-, die große Gestaltungskraft haben sie ohne Zweifel,
dazu auch tiefe ästhetische Erkenntnis und unbeirrbaren künstlerischen Ernst;
trotzdem erreichen sie das Höchste nicht. Manchmal ist ein Bruch zwischen
Kraft und Erkenntnis da; indem Hebbel ausführte, daß sich bei dem normalen
Dichter Kraft und Erkenntnis entsprächen, hat er vielleicht eine geheime Wunde
berührt. Von ihm stammt auch das verzweifelte Wort: „Große Talente
stammen von Gott, kleine vom Teufel," und es ist anzunehmen, daß er es
in einem Augenblick niedergeschrieben hat, wo er sich bewußt war, daß er
das Vortreffliche, das er erkannte, nicht allezeit rein zu gestalten vermochte.


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0533" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/220859"/>
          <fw type="header" place="top"> Friedrich Hebbel und Veto Ludwig</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_2054" prev="#ID_2053"> Vorgänger da. Das Überwiegen der rein formalen Elemente, der dichterischen<lb/>
Fertigkeit, das Hauptkennzeichen der Epigonenpoesie, fehlt bei beiden völlig,<lb/>
sie wollen zwar auf den großen Stil und die allgemeine menschliche Grund¬<lb/>
lage der Klassiker (und Shakespeares) nicht verzichten, aber sie graben zugleich<lb/>
die Wurzeln der Charaktere und aller menschlichen Verhältnisse tiefer auf, als<lb/>
es die klassische Dichtung sür nötig und möglich hielt, und so sehen wir bei<lb/>
ihnen meist ein schweres Ringen mit ihren Stoffen, das sich auch der Form<lb/>
aufprägt. Eine eigne Höhe der deutschen Dichtung bezeichnen sie im Vergleich<lb/>
zu den Klassikern nicht, aber sie bringen Neues, sind Vorläufer, ihre Poesie<lb/>
ist Progvnenpoesie im Gegensatz zu der Epigonenpoesie und muß so bezeichnet<lb/>
werden selbst auf die Gefahr hin, daß die neue Höhe nicht erreicht werden<lb/>
sollte. Sollte sie aber erreicht werden, so werden Hebbel und Ludwig die<lb/>
Verbindung zwischen beiden Höhen herstellen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2055" next="#ID_2056"> Man hat auf Hebbel und Ludwig und noch einige andre deutsche Dichter,<lb/>
wie Kleist, den von Friedrich Bischer stammenden Ausdruck &#x201E;partielle Genies"<lb/>
angewandt. Er ist leicht mißzuverstehen, unvollständige Genies kann es im<lb/>
Grunde nicht geben, die Allseitigkeit oder doch die nötige Geschlossenheit des<lb/>
Wesens ist ja eins der wesentlichen Merkmale des Genies im Gegensatz zum<lb/>
Talent, das das eine hat, das andre aber nicht. Hebbel und Ludwig geniale<lb/>
Naturen, ja auch geradezu Genies zu nennen, trägt man kein Bedenken, aber<lb/>
man wird sie doch nie mit Shakespeare und Goethe, mit Dante und Cervantes,<lb/>
ja auch nicht mit den der Wirkung nach diesen Genies verwandten nationalen<lb/>
Talenten ersten Ranges, wie Molivre und Schiller, aus die gleiche Stufe<lb/>
stellen. So muß man eben Genies zweiten Ranges annehmen, eine eigne<lb/>
Gattung, für die man denn auch in allen Litteraturen, in allen Künsten Ver¬<lb/>
treter findet; sie sind von Talenten sehr leicht zu unterscheiden, aber ihrem<lb/>
tiefsten Wesen nach nicht leicht zu erkennen. Außer partiellen und wegwerfender<lb/>
Halbgenies hat man sie auch wohl pathologische Genies genannt, und einen<lb/>
ausgeprägten Zug des Leidens (aber nicht eigentliche Krankheit) wird man<lb/>
bei ihnen wohl meistens finden, ihn auch zum Teil auf Anlage und durch<lb/>
Zeitumstände und persönliche Schicksale gestörte Entwicklung zurückführen können.<lb/>
Viel weiter aber kommt man dadurch nicht. Die wesentlichen Dichtergaben,<lb/>
die gewaltige Anschcmungs-, die große Gestaltungskraft haben sie ohne Zweifel,<lb/>
dazu auch tiefe ästhetische Erkenntnis und unbeirrbaren künstlerischen Ernst;<lb/>
trotzdem erreichen sie das Höchste nicht. Manchmal ist ein Bruch zwischen<lb/>
Kraft und Erkenntnis da; indem Hebbel ausführte, daß sich bei dem normalen<lb/>
Dichter Kraft und Erkenntnis entsprächen, hat er vielleicht eine geheime Wunde<lb/>
berührt. Von ihm stammt auch das verzweifelte Wort: &#x201E;Große Talente<lb/>
stammen von Gott, kleine vom Teufel," und es ist anzunehmen, daß er es<lb/>
in einem Augenblick niedergeschrieben hat, wo er sich bewußt war, daß er<lb/>
das Vortreffliche, das er erkannte, nicht allezeit rein zu gestalten vermochte.</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0533] Friedrich Hebbel und Veto Ludwig Vorgänger da. Das Überwiegen der rein formalen Elemente, der dichterischen Fertigkeit, das Hauptkennzeichen der Epigonenpoesie, fehlt bei beiden völlig, sie wollen zwar auf den großen Stil und die allgemeine menschliche Grund¬ lage der Klassiker (und Shakespeares) nicht verzichten, aber sie graben zugleich die Wurzeln der Charaktere und aller menschlichen Verhältnisse tiefer auf, als es die klassische Dichtung sür nötig und möglich hielt, und so sehen wir bei ihnen meist ein schweres Ringen mit ihren Stoffen, das sich auch der Form aufprägt. Eine eigne Höhe der deutschen Dichtung bezeichnen sie im Vergleich zu den Klassikern nicht, aber sie bringen Neues, sind Vorläufer, ihre Poesie ist Progvnenpoesie im Gegensatz zu der Epigonenpoesie und muß so bezeichnet werden selbst auf die Gefahr hin, daß die neue Höhe nicht erreicht werden sollte. Sollte sie aber erreicht werden, so werden Hebbel und Ludwig die Verbindung zwischen beiden Höhen herstellen. Man hat auf Hebbel und Ludwig und noch einige andre deutsche Dichter, wie Kleist, den von Friedrich Bischer stammenden Ausdruck „partielle Genies" angewandt. Er ist leicht mißzuverstehen, unvollständige Genies kann es im Grunde nicht geben, die Allseitigkeit oder doch die nötige Geschlossenheit des Wesens ist ja eins der wesentlichen Merkmale des Genies im Gegensatz zum Talent, das das eine hat, das andre aber nicht. Hebbel und Ludwig geniale Naturen, ja auch geradezu Genies zu nennen, trägt man kein Bedenken, aber man wird sie doch nie mit Shakespeare und Goethe, mit Dante und Cervantes, ja auch nicht mit den der Wirkung nach diesen Genies verwandten nationalen Talenten ersten Ranges, wie Molivre und Schiller, aus die gleiche Stufe stellen. So muß man eben Genies zweiten Ranges annehmen, eine eigne Gattung, für die man denn auch in allen Litteraturen, in allen Künsten Ver¬ treter findet; sie sind von Talenten sehr leicht zu unterscheiden, aber ihrem tiefsten Wesen nach nicht leicht zu erkennen. Außer partiellen und wegwerfender Halbgenies hat man sie auch wohl pathologische Genies genannt, und einen ausgeprägten Zug des Leidens (aber nicht eigentliche Krankheit) wird man bei ihnen wohl meistens finden, ihn auch zum Teil auf Anlage und durch Zeitumstände und persönliche Schicksale gestörte Entwicklung zurückführen können. Viel weiter aber kommt man dadurch nicht. Die wesentlichen Dichtergaben, die gewaltige Anschcmungs-, die große Gestaltungskraft haben sie ohne Zweifel, dazu auch tiefe ästhetische Erkenntnis und unbeirrbaren künstlerischen Ernst; trotzdem erreichen sie das Höchste nicht. Manchmal ist ein Bruch zwischen Kraft und Erkenntnis da; indem Hebbel ausführte, daß sich bei dem normalen Dichter Kraft und Erkenntnis entsprächen, hat er vielleicht eine geheime Wunde berührt. Von ihm stammt auch das verzweifelte Wort: „Große Talente stammen von Gott, kleine vom Teufel," und es ist anzunehmen, daß er es in einem Augenblick niedergeschrieben hat, wo er sich bewußt war, daß er das Vortreffliche, das er erkannte, nicht allezeit rein zu gestalten vermochte.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220325
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220325/533
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220325/533>, abgerufen am 17.06.2024.