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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Drittes Vierteljahr.

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Friedrich Hebbel und Gelo Ludwig

Gutzkows versagen von Tag zu Tag mehr ihren Dienst, wie man denn z. B.
den "Uriel Aeosta," Gutzkvws bestes Werk, fast nur noch Gästen zu gefallen
aufführt.

Es ist ein wunderbares Gefühl, wenn man aus der klassischen Dichter¬
welt, in der mau erzogen worden ist und mit jugendlicher Begeisterung alles
Hohe und Schöne gesehen hat, zum erstenmal in die Welt Hebbels und
Ludwigs tritt. Da sind die Farben greller, die Töne schriller, es fehlt nicht
an wilden Sprüngen unheimlicher Leidenschaft, an düstrer Hoheit und Herb¬
heit, und erst nach und nach tauchen mildere Lichter, sanftere Gefühle, wärmere
und weichere Stimmungen auf, wie sie uns selbst bisweilen nach dem lärmenden
Getriebe des Tages in unsern stillsten Stunden überkommen. Aber -- und
das ist sogar trotz aller gegenteiligen Behauptungen der beiden Dichter selbst,
vor allem Ludwigs, ein für allemal festzuhalten -- die Dichtung Hebbels
und Ludwigs bedeutet keinen Bruch mit der klassischen Vergangenheit, sie ist
selbständig, aber sie steht auf demselben Boden, auf dem unsre klassische Poesie
steht. Im großen und ganzen waren sich beide Dichter dessen auch bewußt.
Hebbel wie Ludwig hat den Dramatiker Schiller angegriffen, aber sie haben
für die Persönlichkeit des Dichters jederzeit die höchste Verehrung gehabt,
Ludwig fand für Lessings "Emilia Galotti," die Hebbel einem Uhrwerk ver¬
glich, das höchste Lob, und Hebbel wieder knüpfte seine dramatische Theorie
an den "Faust" und die "Wahlverwandtschaften" Goethes an. Den klassischen
Geist, das Ideal edeln Menschentums hat keiner von beiden jemals verleugnet;
dennoch haben sie in der Gegenwart gelebt, haben erkannt, daß es nicht mög¬
lich sei, deren Gegensätze alle auszugleichen und die Poesie stets harmonisch
abzutönen; was den Klassikern im einzelnen gelungen ist, das erstrebten sie
aber wenigstens durch den Gesamteindruck ihrer Werke. Realisten sind sie
beide, beide stellen sie die Wahrheit ihrer Gebilde über alles, wie denn Ludwig
einmal die klassische Dichtung mit ihrer der Wirklichkeit abgewandten Tendenz
geradezu für das Elend Deutschlands verantwortlich macht; aber sie bekennen
sich nie zu der Ansicht, daß jeder der Wirklichkeit abgelauschte Zug nun auch
schon künstlerische Wahrheit sei, und Ludwig erfindet den Ausdruck "poetischer
Realismus," obwohl er in der getreuen Schilderung des Milieus Zola fast
nichts nachgiebt. Näher noch als unsern Klassikern stehen sie Shakespeare,
schon deshalb, weil sie beide geborne Dramatiker sind wie dieser, und für
Ludwig wird Shakespeares dramatische Kunst, von der uus doch drei Jahr¬
hunderte trennen, verhängnisvoll. Auch zu Kleist haben sie, namentlich Hebbel,
ein inniges Verhältnis, dagegen wollten sie von Grabbe beide nicht viel
wissen, wohl weil sie den ethischen Zug in seiner Poesie vermißten. Der
Begriff "Epigonenpvesie" paßt auf sie nicht; auch Ludwig ist in seinen voll¬
endeten Werken von Shakespeare doch nicht so stark beeinflußt worden, daß
seine Eigenart erdrückt worden wäre; als Erzähler steht er sogar ohne ^eden


Friedrich Hebbel und Gelo Ludwig

Gutzkows versagen von Tag zu Tag mehr ihren Dienst, wie man denn z. B.
den „Uriel Aeosta," Gutzkvws bestes Werk, fast nur noch Gästen zu gefallen
aufführt.

Es ist ein wunderbares Gefühl, wenn man aus der klassischen Dichter¬
welt, in der mau erzogen worden ist und mit jugendlicher Begeisterung alles
Hohe und Schöne gesehen hat, zum erstenmal in die Welt Hebbels und
Ludwigs tritt. Da sind die Farben greller, die Töne schriller, es fehlt nicht
an wilden Sprüngen unheimlicher Leidenschaft, an düstrer Hoheit und Herb¬
heit, und erst nach und nach tauchen mildere Lichter, sanftere Gefühle, wärmere
und weichere Stimmungen auf, wie sie uns selbst bisweilen nach dem lärmenden
Getriebe des Tages in unsern stillsten Stunden überkommen. Aber — und
das ist sogar trotz aller gegenteiligen Behauptungen der beiden Dichter selbst,
vor allem Ludwigs, ein für allemal festzuhalten — die Dichtung Hebbels
und Ludwigs bedeutet keinen Bruch mit der klassischen Vergangenheit, sie ist
selbständig, aber sie steht auf demselben Boden, auf dem unsre klassische Poesie
steht. Im großen und ganzen waren sich beide Dichter dessen auch bewußt.
Hebbel wie Ludwig hat den Dramatiker Schiller angegriffen, aber sie haben
für die Persönlichkeit des Dichters jederzeit die höchste Verehrung gehabt,
Ludwig fand für Lessings „Emilia Galotti," die Hebbel einem Uhrwerk ver¬
glich, das höchste Lob, und Hebbel wieder knüpfte seine dramatische Theorie
an den „Faust" und die „Wahlverwandtschaften" Goethes an. Den klassischen
Geist, das Ideal edeln Menschentums hat keiner von beiden jemals verleugnet;
dennoch haben sie in der Gegenwart gelebt, haben erkannt, daß es nicht mög¬
lich sei, deren Gegensätze alle auszugleichen und die Poesie stets harmonisch
abzutönen; was den Klassikern im einzelnen gelungen ist, das erstrebten sie
aber wenigstens durch den Gesamteindruck ihrer Werke. Realisten sind sie
beide, beide stellen sie die Wahrheit ihrer Gebilde über alles, wie denn Ludwig
einmal die klassische Dichtung mit ihrer der Wirklichkeit abgewandten Tendenz
geradezu für das Elend Deutschlands verantwortlich macht; aber sie bekennen
sich nie zu der Ansicht, daß jeder der Wirklichkeit abgelauschte Zug nun auch
schon künstlerische Wahrheit sei, und Ludwig erfindet den Ausdruck „poetischer
Realismus," obwohl er in der getreuen Schilderung des Milieus Zola fast
nichts nachgiebt. Näher noch als unsern Klassikern stehen sie Shakespeare,
schon deshalb, weil sie beide geborne Dramatiker sind wie dieser, und für
Ludwig wird Shakespeares dramatische Kunst, von der uus doch drei Jahr¬
hunderte trennen, verhängnisvoll. Auch zu Kleist haben sie, namentlich Hebbel,
ein inniges Verhältnis, dagegen wollten sie von Grabbe beide nicht viel
wissen, wohl weil sie den ethischen Zug in seiner Poesie vermißten. Der
Begriff „Epigonenpvesie" paßt auf sie nicht; auch Ludwig ist in seinen voll¬
endeten Werken von Shakespeare doch nicht so stark beeinflußt worden, daß
seine Eigenart erdrückt worden wäre; als Erzähler steht er sogar ohne ^eden


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[0532] Friedrich Hebbel und Gelo Ludwig Gutzkows versagen von Tag zu Tag mehr ihren Dienst, wie man denn z. B. den „Uriel Aeosta," Gutzkvws bestes Werk, fast nur noch Gästen zu gefallen aufführt. Es ist ein wunderbares Gefühl, wenn man aus der klassischen Dichter¬ welt, in der mau erzogen worden ist und mit jugendlicher Begeisterung alles Hohe und Schöne gesehen hat, zum erstenmal in die Welt Hebbels und Ludwigs tritt. Da sind die Farben greller, die Töne schriller, es fehlt nicht an wilden Sprüngen unheimlicher Leidenschaft, an düstrer Hoheit und Herb¬ heit, und erst nach und nach tauchen mildere Lichter, sanftere Gefühle, wärmere und weichere Stimmungen auf, wie sie uns selbst bisweilen nach dem lärmenden Getriebe des Tages in unsern stillsten Stunden überkommen. Aber — und das ist sogar trotz aller gegenteiligen Behauptungen der beiden Dichter selbst, vor allem Ludwigs, ein für allemal festzuhalten — die Dichtung Hebbels und Ludwigs bedeutet keinen Bruch mit der klassischen Vergangenheit, sie ist selbständig, aber sie steht auf demselben Boden, auf dem unsre klassische Poesie steht. Im großen und ganzen waren sich beide Dichter dessen auch bewußt. Hebbel wie Ludwig hat den Dramatiker Schiller angegriffen, aber sie haben für die Persönlichkeit des Dichters jederzeit die höchste Verehrung gehabt, Ludwig fand für Lessings „Emilia Galotti," die Hebbel einem Uhrwerk ver¬ glich, das höchste Lob, und Hebbel wieder knüpfte seine dramatische Theorie an den „Faust" und die „Wahlverwandtschaften" Goethes an. Den klassischen Geist, das Ideal edeln Menschentums hat keiner von beiden jemals verleugnet; dennoch haben sie in der Gegenwart gelebt, haben erkannt, daß es nicht mög¬ lich sei, deren Gegensätze alle auszugleichen und die Poesie stets harmonisch abzutönen; was den Klassikern im einzelnen gelungen ist, das erstrebten sie aber wenigstens durch den Gesamteindruck ihrer Werke. Realisten sind sie beide, beide stellen sie die Wahrheit ihrer Gebilde über alles, wie denn Ludwig einmal die klassische Dichtung mit ihrer der Wirklichkeit abgewandten Tendenz geradezu für das Elend Deutschlands verantwortlich macht; aber sie bekennen sich nie zu der Ansicht, daß jeder der Wirklichkeit abgelauschte Zug nun auch schon künstlerische Wahrheit sei, und Ludwig erfindet den Ausdruck „poetischer Realismus," obwohl er in der getreuen Schilderung des Milieus Zola fast nichts nachgiebt. Näher noch als unsern Klassikern stehen sie Shakespeare, schon deshalb, weil sie beide geborne Dramatiker sind wie dieser, und für Ludwig wird Shakespeares dramatische Kunst, von der uus doch drei Jahr¬ hunderte trennen, verhängnisvoll. Auch zu Kleist haben sie, namentlich Hebbel, ein inniges Verhältnis, dagegen wollten sie von Grabbe beide nicht viel wissen, wohl weil sie den ethischen Zug in seiner Poesie vermißten. Der Begriff „Epigonenpvesie" paßt auf sie nicht; auch Ludwig ist in seinen voll¬ endeten Werken von Shakespeare doch nicht so stark beeinflußt worden, daß seine Eigenart erdrückt worden wäre; als Erzähler steht er sogar ohne ^eden

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220325/532>, abgerufen am 26.05.2024.