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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Drittes Vierteljahr.

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Die Sozialreform und die Gemeinden

Volksvertretungen sind bis jetzt die Hauptträger der Sozialreformen gewesen,
während die doch ganz besonders dazu berufnen und geeigneten Gemeinde¬
verwaltungen nur der Not gehorchend, nicht dem eignen Triebe, soziale Ver¬
besserungen ausführen und selten selbst anstreben. Die Gründe dafür liege"
nicht sehr fern. Die Gemeindeverfasfungen gewähren meist dem Spießbürger
besondre Vorrechte: das Wahlrecht, das aktive wie das passive ist, vielfach an
einen gewissen Besitz (Hausbesitz) gebunden, mindestens wird von dem wahl¬
berechtigten Bürger eine gewisse Steuerleistung gefordert, vielfach bestehen auch
noch Bürgergelder, mit denen man sich das Wahlrecht erst erkaufen muß.
Das Dreiklassenwahlsystem dürfte das ausgebreitetste sein, und so werden in
die Kollegien Männer berufen, die mit ihren Steuern keine Sozialpolitik ge¬
trieben haben wollen, die auf die niedern Klassen nicht mit Teilnahme, sondern
mit Geringschätzung herabsehen.

In den meisten Fällen sind die unterm Stände, d. h. nicht nur die, die sich
in die Brust werfen und sich Proletarier nennen, nicht nur die Arbeiter und die
kleinern Angestellten, sondern auch Leute, die man zu den Mittelständen zählt,
sehr schwach oder gar nicht auf den Rathäusern vertreten, die Starken sind
entweder unter sich oder doch in überwiegender Mehrheit, und es wird das
UoNe-LSö ovliAS vernachlässigt und keine Svzialrefvrm begünstigt oder betrieben,
die den Schwachen entlastete und dafür den Starken beschwerte, die den
Schwachen auch nur die gleichen Genüsse aus öffentlichen Mitteln böte wie
den Starken. Das einzige Institut mit kommunalen Charakter, in dem der
Arbeiter gesetzmäßig vertreten sein muß, das Gewerbegericht, hat neben seinen
Eigenschaften als rasch, billig und einfach arbeitendes Gericht gerade darin
seinen Hauptwert, daß es durch seine Besetzung mit Arbeitgebern und Arbeitern
versöhnend wirkt und seine Urteile für gerechter gehalten werden als die des
gelehrten Richters. Warum will man nicht auch das Versöhnungsmittel auf
den Rathäusern anwenden und Arbeiter oder andre Personen aus den untern
Ständen überhaupt oder in vermehrter Zahl zum Mitraten zulassen? Warum
ändert man nicht vor allem die Gemeindewahlordnungen zu Gunsten der
Wenigerbemittelten? Daß es unter diesen an Begabung, gesundem Menschen¬
verstand, Erfahrung und Eifer nicht fehlt, ist zweifellos; aber man hängt eben
an dem Satze: "Wer viel Steuer zahlt, muß viel Stimme haben," obgleich
man doch sieht, daß die ans gleichen Wahlrechten hervorgegangnen Vertretungen
vielfach sparsamer wirtschaften als die Klassenvertreter mit großem Einkommen
und also auch größern Steuerverpflichtungen. Im Reiche kommt die Steuer
ja schon deshalb nicht in Betracht, weil wir unsre Einnahmen nicht aus direkten
Steuern haben; aber es giebt doch auch Landtage, deren Mitglieder auf Grund
eines gleichen Wahlrechts gewählt sind, und sie sind recht sparsam, wenn auch
die Volksvertreter nicht selbst zu den Höchstbesteuerten gehören. Aber selbst
hinsichtlich der Leistungen zur Gemeindekasse ruhen viele Vertretungen auf


Grenzboten III 1395 69
Die Sozialreform und die Gemeinden

Volksvertretungen sind bis jetzt die Hauptträger der Sozialreformen gewesen,
während die doch ganz besonders dazu berufnen und geeigneten Gemeinde¬
verwaltungen nur der Not gehorchend, nicht dem eignen Triebe, soziale Ver¬
besserungen ausführen und selten selbst anstreben. Die Gründe dafür liege«
nicht sehr fern. Die Gemeindeverfasfungen gewähren meist dem Spießbürger
besondre Vorrechte: das Wahlrecht, das aktive wie das passive ist, vielfach an
einen gewissen Besitz (Hausbesitz) gebunden, mindestens wird von dem wahl¬
berechtigten Bürger eine gewisse Steuerleistung gefordert, vielfach bestehen auch
noch Bürgergelder, mit denen man sich das Wahlrecht erst erkaufen muß.
Das Dreiklassenwahlsystem dürfte das ausgebreitetste sein, und so werden in
die Kollegien Männer berufen, die mit ihren Steuern keine Sozialpolitik ge¬
trieben haben wollen, die auf die niedern Klassen nicht mit Teilnahme, sondern
mit Geringschätzung herabsehen.

In den meisten Fällen sind die unterm Stände, d. h. nicht nur die, die sich
in die Brust werfen und sich Proletarier nennen, nicht nur die Arbeiter und die
kleinern Angestellten, sondern auch Leute, die man zu den Mittelständen zählt,
sehr schwach oder gar nicht auf den Rathäusern vertreten, die Starken sind
entweder unter sich oder doch in überwiegender Mehrheit, und es wird das
UoNe-LSö ovliAS vernachlässigt und keine Svzialrefvrm begünstigt oder betrieben,
die den Schwachen entlastete und dafür den Starken beschwerte, die den
Schwachen auch nur die gleichen Genüsse aus öffentlichen Mitteln böte wie
den Starken. Das einzige Institut mit kommunalen Charakter, in dem der
Arbeiter gesetzmäßig vertreten sein muß, das Gewerbegericht, hat neben seinen
Eigenschaften als rasch, billig und einfach arbeitendes Gericht gerade darin
seinen Hauptwert, daß es durch seine Besetzung mit Arbeitgebern und Arbeitern
versöhnend wirkt und seine Urteile für gerechter gehalten werden als die des
gelehrten Richters. Warum will man nicht auch das Versöhnungsmittel auf
den Rathäusern anwenden und Arbeiter oder andre Personen aus den untern
Ständen überhaupt oder in vermehrter Zahl zum Mitraten zulassen? Warum
ändert man nicht vor allem die Gemeindewahlordnungen zu Gunsten der
Wenigerbemittelten? Daß es unter diesen an Begabung, gesundem Menschen¬
verstand, Erfahrung und Eifer nicht fehlt, ist zweifellos; aber man hängt eben
an dem Satze: „Wer viel Steuer zahlt, muß viel Stimme haben," obgleich
man doch sieht, daß die ans gleichen Wahlrechten hervorgegangnen Vertretungen
vielfach sparsamer wirtschaften als die Klassenvertreter mit großem Einkommen
und also auch größern Steuerverpflichtungen. Im Reiche kommt die Steuer
ja schon deshalb nicht in Betracht, weil wir unsre Einnahmen nicht aus direkten
Steuern haben; aber es giebt doch auch Landtage, deren Mitglieder auf Grund
eines gleichen Wahlrechts gewählt sind, und sie sind recht sparsam, wenn auch
die Volksvertreter nicht selbst zu den Höchstbesteuerten gehören. Aber selbst
hinsichtlich der Leistungen zur Gemeindekasse ruhen viele Vertretungen auf


Grenzboten III 1395 69
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[0553] Die Sozialreform und die Gemeinden Volksvertretungen sind bis jetzt die Hauptträger der Sozialreformen gewesen, während die doch ganz besonders dazu berufnen und geeigneten Gemeinde¬ verwaltungen nur der Not gehorchend, nicht dem eignen Triebe, soziale Ver¬ besserungen ausführen und selten selbst anstreben. Die Gründe dafür liege« nicht sehr fern. Die Gemeindeverfasfungen gewähren meist dem Spießbürger besondre Vorrechte: das Wahlrecht, das aktive wie das passive ist, vielfach an einen gewissen Besitz (Hausbesitz) gebunden, mindestens wird von dem wahl¬ berechtigten Bürger eine gewisse Steuerleistung gefordert, vielfach bestehen auch noch Bürgergelder, mit denen man sich das Wahlrecht erst erkaufen muß. Das Dreiklassenwahlsystem dürfte das ausgebreitetste sein, und so werden in die Kollegien Männer berufen, die mit ihren Steuern keine Sozialpolitik ge¬ trieben haben wollen, die auf die niedern Klassen nicht mit Teilnahme, sondern mit Geringschätzung herabsehen. In den meisten Fällen sind die unterm Stände, d. h. nicht nur die, die sich in die Brust werfen und sich Proletarier nennen, nicht nur die Arbeiter und die kleinern Angestellten, sondern auch Leute, die man zu den Mittelständen zählt, sehr schwach oder gar nicht auf den Rathäusern vertreten, die Starken sind entweder unter sich oder doch in überwiegender Mehrheit, und es wird das UoNe-LSö ovliAS vernachlässigt und keine Svzialrefvrm begünstigt oder betrieben, die den Schwachen entlastete und dafür den Starken beschwerte, die den Schwachen auch nur die gleichen Genüsse aus öffentlichen Mitteln böte wie den Starken. Das einzige Institut mit kommunalen Charakter, in dem der Arbeiter gesetzmäßig vertreten sein muß, das Gewerbegericht, hat neben seinen Eigenschaften als rasch, billig und einfach arbeitendes Gericht gerade darin seinen Hauptwert, daß es durch seine Besetzung mit Arbeitgebern und Arbeitern versöhnend wirkt und seine Urteile für gerechter gehalten werden als die des gelehrten Richters. Warum will man nicht auch das Versöhnungsmittel auf den Rathäusern anwenden und Arbeiter oder andre Personen aus den untern Ständen überhaupt oder in vermehrter Zahl zum Mitraten zulassen? Warum ändert man nicht vor allem die Gemeindewahlordnungen zu Gunsten der Wenigerbemittelten? Daß es unter diesen an Begabung, gesundem Menschen¬ verstand, Erfahrung und Eifer nicht fehlt, ist zweifellos; aber man hängt eben an dem Satze: „Wer viel Steuer zahlt, muß viel Stimme haben," obgleich man doch sieht, daß die ans gleichen Wahlrechten hervorgegangnen Vertretungen vielfach sparsamer wirtschaften als die Klassenvertreter mit großem Einkommen und also auch größern Steuerverpflichtungen. Im Reiche kommt die Steuer ja schon deshalb nicht in Betracht, weil wir unsre Einnahmen nicht aus direkten Steuern haben; aber es giebt doch auch Landtage, deren Mitglieder auf Grund eines gleichen Wahlrechts gewählt sind, und sie sind recht sparsam, wenn auch die Volksvertreter nicht selbst zu den Höchstbesteuerten gehören. Aber selbst hinsichtlich der Leistungen zur Gemeindekasse ruhen viele Vertretungen auf Grenzboten III 1395 69

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220325/553>, abgerufen am 12.05.2024.