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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Drittes Vierteljahr.

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Politische Anmerkungen zur italienischen Litteraturgeschichte

eines national-italienischen zsnrs vliaiupStrs. Der Erzieher seiner Söhne, Angelo
Poliziano, ein berühmter Humanist, ist doch anch ein viel besserer italienischer
Dichter, als man denken sollte. Seine Schilderungen haben noch Ariost und
Tasso studirt und des Nachahmers für wert gehalten. Und in diesen Kreis
sühren dann auch die Spuren derer zurück, die zuerst wieder seit Dante nach
einem großen Nationalgedicht suchten. Ich wähle den Ausdruck mit Absicht,
denn von selbst ist hier so gut wie nichts gekommen. Über hundert Jahre
lang bis auf Tassos Gedicht hat man sich angestrengt, es zu einer großen,
allgemein verständlichen Dichtung zu bringen, während alle jene mannich-
faltigen litterarischen Beschäftigungen für den kleinen Kreis der Bevorzugten
ihren Weg daneben weitergingen.

Dantes großes Gedicht ist kein Epos und kein Drama, sondern eine
Gattung für sich, ein absolutes Individuum, wie Schelling gesagt hat. Was
man nach ihm suchte und schließlich fand, nennt die Schulgelehrsamkeit ein
Kunstepos oder eine Epopöie. Es liegt darum nahe, zu fragen: warum sind
die Italiener nie zu einem Drama gekommen? Denn daß sie es nicht haben,
wissen sie selbst. Was sie dafür ausgeben, wie Maffeis Merope oder Alsieris
Tragödien oder die romantische Tragödie des Jungen Italiens, sind kühle
Kunstprodukte. Unter solchen Umständen hat es keinen Wert, den Anfängen
nachzugehen, wenn sie anch manchen für italienische Eigenart und Unart recht
belehrenden Zug enthalten. Auf die Frage, warum sie kein Drama gehabt
haben, antworten die Italiener meistens das, was für sie am unverfänglichsten
ist: sie hätten im fünfzehnten Jahrhundert zu lange Plautus und Terenz ge¬
spielt und an ihren Fürstenhöfen zu großen Wert auf kostbare Ausstattung
der Stücke gelegt, das schade aller wahren Kunst. Aber manche haben doch
auch noch richtigere Gedanken. So, wenn sie darauf hinweisen, daß im ersten
Drittel des sechzehnten Jahrunderts, also gerade als Ariost dichtete, durch die
Siege Karls V. die Fremdherrschaft entschieden war. und Italien nun in der
Politik und im Kriegsspiel Europas von vornherein nur noch als der leidende
Teil galt. Zum Drama wäre es also damals bereits zu spät gewesen!

Die Geschichte der Weltlitteratur zeigt uns bis jetzt, daß ein nationales
Drama nie ohne große geschichtliche Thaten zustande gekommen ist. Und zwar
erscheint es entweder mit der höchsten Blüte eines relativ mächtigen oder
wenigstens politisch etwas bedeutenden Staates oder unmittelbar nachher. So
ist es mit der athenischen Tragödie gewesen, so mit dem spanischen Drama, das
in der Weltgeschichte nach zweitausendjähriger Unterbrechung auf sie folgte, so
mit dem Drama des Zeitalters der Elisabeth und mit dem Theater Ludwigs XIV.
So einheitlich ist nun zwar unser deutsches Drama des achtzehnten Jahr¬
hunderts nicht. Aber ganz unberührt ist es doch von dem politischen Leben
nicht geblieben; man denke an Lessings "Minna" und an Schiller. Goethes
Dramen ans der Weimarer Zeit sind vorwiegend Lesestücke für die Gebildeten,


Politische Anmerkungen zur italienischen Litteraturgeschichte

eines national-italienischen zsnrs vliaiupStrs. Der Erzieher seiner Söhne, Angelo
Poliziano, ein berühmter Humanist, ist doch anch ein viel besserer italienischer
Dichter, als man denken sollte. Seine Schilderungen haben noch Ariost und
Tasso studirt und des Nachahmers für wert gehalten. Und in diesen Kreis
sühren dann auch die Spuren derer zurück, die zuerst wieder seit Dante nach
einem großen Nationalgedicht suchten. Ich wähle den Ausdruck mit Absicht,
denn von selbst ist hier so gut wie nichts gekommen. Über hundert Jahre
lang bis auf Tassos Gedicht hat man sich angestrengt, es zu einer großen,
allgemein verständlichen Dichtung zu bringen, während alle jene mannich-
faltigen litterarischen Beschäftigungen für den kleinen Kreis der Bevorzugten
ihren Weg daneben weitergingen.

Dantes großes Gedicht ist kein Epos und kein Drama, sondern eine
Gattung für sich, ein absolutes Individuum, wie Schelling gesagt hat. Was
man nach ihm suchte und schließlich fand, nennt die Schulgelehrsamkeit ein
Kunstepos oder eine Epopöie. Es liegt darum nahe, zu fragen: warum sind
die Italiener nie zu einem Drama gekommen? Denn daß sie es nicht haben,
wissen sie selbst. Was sie dafür ausgeben, wie Maffeis Merope oder Alsieris
Tragödien oder die romantische Tragödie des Jungen Italiens, sind kühle
Kunstprodukte. Unter solchen Umständen hat es keinen Wert, den Anfängen
nachzugehen, wenn sie anch manchen für italienische Eigenart und Unart recht
belehrenden Zug enthalten. Auf die Frage, warum sie kein Drama gehabt
haben, antworten die Italiener meistens das, was für sie am unverfänglichsten
ist: sie hätten im fünfzehnten Jahrhundert zu lange Plautus und Terenz ge¬
spielt und an ihren Fürstenhöfen zu großen Wert auf kostbare Ausstattung
der Stücke gelegt, das schade aller wahren Kunst. Aber manche haben doch
auch noch richtigere Gedanken. So, wenn sie darauf hinweisen, daß im ersten
Drittel des sechzehnten Jahrunderts, also gerade als Ariost dichtete, durch die
Siege Karls V. die Fremdherrschaft entschieden war. und Italien nun in der
Politik und im Kriegsspiel Europas von vornherein nur noch als der leidende
Teil galt. Zum Drama wäre es also damals bereits zu spät gewesen!

Die Geschichte der Weltlitteratur zeigt uns bis jetzt, daß ein nationales
Drama nie ohne große geschichtliche Thaten zustande gekommen ist. Und zwar
erscheint es entweder mit der höchsten Blüte eines relativ mächtigen oder
wenigstens politisch etwas bedeutenden Staates oder unmittelbar nachher. So
ist es mit der athenischen Tragödie gewesen, so mit dem spanischen Drama, das
in der Weltgeschichte nach zweitausendjähriger Unterbrechung auf sie folgte, so
mit dem Drama des Zeitalters der Elisabeth und mit dem Theater Ludwigs XIV.
So einheitlich ist nun zwar unser deutsches Drama des achtzehnten Jahr¬
hunderts nicht. Aber ganz unberührt ist es doch von dem politischen Leben
nicht geblieben; man denke an Lessings „Minna" und an Schiller. Goethes
Dramen ans der Weimarer Zeit sind vorwiegend Lesestücke für die Gebildeten,


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[0615] Politische Anmerkungen zur italienischen Litteraturgeschichte eines national-italienischen zsnrs vliaiupStrs. Der Erzieher seiner Söhne, Angelo Poliziano, ein berühmter Humanist, ist doch anch ein viel besserer italienischer Dichter, als man denken sollte. Seine Schilderungen haben noch Ariost und Tasso studirt und des Nachahmers für wert gehalten. Und in diesen Kreis sühren dann auch die Spuren derer zurück, die zuerst wieder seit Dante nach einem großen Nationalgedicht suchten. Ich wähle den Ausdruck mit Absicht, denn von selbst ist hier so gut wie nichts gekommen. Über hundert Jahre lang bis auf Tassos Gedicht hat man sich angestrengt, es zu einer großen, allgemein verständlichen Dichtung zu bringen, während alle jene mannich- faltigen litterarischen Beschäftigungen für den kleinen Kreis der Bevorzugten ihren Weg daneben weitergingen. Dantes großes Gedicht ist kein Epos und kein Drama, sondern eine Gattung für sich, ein absolutes Individuum, wie Schelling gesagt hat. Was man nach ihm suchte und schließlich fand, nennt die Schulgelehrsamkeit ein Kunstepos oder eine Epopöie. Es liegt darum nahe, zu fragen: warum sind die Italiener nie zu einem Drama gekommen? Denn daß sie es nicht haben, wissen sie selbst. Was sie dafür ausgeben, wie Maffeis Merope oder Alsieris Tragödien oder die romantische Tragödie des Jungen Italiens, sind kühle Kunstprodukte. Unter solchen Umständen hat es keinen Wert, den Anfängen nachzugehen, wenn sie anch manchen für italienische Eigenart und Unart recht belehrenden Zug enthalten. Auf die Frage, warum sie kein Drama gehabt haben, antworten die Italiener meistens das, was für sie am unverfänglichsten ist: sie hätten im fünfzehnten Jahrhundert zu lange Plautus und Terenz ge¬ spielt und an ihren Fürstenhöfen zu großen Wert auf kostbare Ausstattung der Stücke gelegt, das schade aller wahren Kunst. Aber manche haben doch auch noch richtigere Gedanken. So, wenn sie darauf hinweisen, daß im ersten Drittel des sechzehnten Jahrunderts, also gerade als Ariost dichtete, durch die Siege Karls V. die Fremdherrschaft entschieden war. und Italien nun in der Politik und im Kriegsspiel Europas von vornherein nur noch als der leidende Teil galt. Zum Drama wäre es also damals bereits zu spät gewesen! Die Geschichte der Weltlitteratur zeigt uns bis jetzt, daß ein nationales Drama nie ohne große geschichtliche Thaten zustande gekommen ist. Und zwar erscheint es entweder mit der höchsten Blüte eines relativ mächtigen oder wenigstens politisch etwas bedeutenden Staates oder unmittelbar nachher. So ist es mit der athenischen Tragödie gewesen, so mit dem spanischen Drama, das in der Weltgeschichte nach zweitausendjähriger Unterbrechung auf sie folgte, so mit dem Drama des Zeitalters der Elisabeth und mit dem Theater Ludwigs XIV. So einheitlich ist nun zwar unser deutsches Drama des achtzehnten Jahr¬ hunderts nicht. Aber ganz unberührt ist es doch von dem politischen Leben nicht geblieben; man denke an Lessings „Minna" und an Schiller. Goethes Dramen ans der Weimarer Zeit sind vorwiegend Lesestücke für die Gebildeten,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220325/615>, abgerufen am 06.06.2024.