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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Drittes Vierteljahr.

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Der ewige Jude und der Teufel

erwacht, sich über die Eindrücke des Fabriksaals und der Kneipe zu erheben,
wandeln abermals Satanas und Ahasver in verschiedenartigen Kostümen über
die Szene. Das "dunkle Gefühl eines ungeheuern Weltganzen," wie es Goethe
nennt, der Gestaltungsdrang, der über die Schranken der Alltäglichkeit hinaus
will, das Bedürfnis, elementare Mächte des Daseins frei von der Wucht
kleinlicher Realität zu verkörpern, die Lust, weit ausgreifende Reflexionen, die
in der einfachen Menschengestalt nicht Raum haben, doch in Gestalten zu kon-
zentriren, die geheime Sehnsucht, zum Uranfang der Dinge zurückzukehren,
daneben ein Zug der Mystik und Symbolik, der auch sein Recht haben will,
das alles und manches sonst noch wirkt zusammen und macht unsern Dichtern
Mut, fleißig den Teufel und den ewigen Juden zu beschwören. Der Teufel
mag sich so wunderlich geberden, wie er will, es kann ihm keiner beweisen,
daß er absurd und unmöglich sei, der ewige Jude aber muß in neunzehn¬
hundert Jahren rastloser Wanderung so viel erlebt haben, daß es dem nüch¬
ternsten Kritiker wohl vergehen soll, an irgend einer Situation und Erfahrung
dieses mit der christlichen Menschheit ergrauten Schusters von Jerusalem
hcrumzumükeln; es giebt nichts, was ihm nicht angesonnen und aufgeladen
werden könnte. Wenn es die Milieutheorie den Dichtern sauer macht, Menschen
darzustellen, die nicht Spezialistin eines Berufs, eines Kunstgewerbes, einer
neu aufstrebenden Wissenschaft, Genossen eines antisemitischen oder sozial-
demokratischen Klubs sind, um so willkommner müssen die dunkeln Helden sein,
aus denen man alles machen und die man alles sagen lassen darf.

Wenn wir nicht ausschließlich bei Satan und Ahasver verweilen, sondern
ein paar getreue Nachbarn mit zur Gesellschaft laden, so hat sich in letzter
Zeit eine ganz stattliche Zahl von Dichtungen gesammelt, die dem eben
charakterisirten und einem verwandten Drange entstammen. Es geht alles in
der Welt natürlich zu, und je schwärzer die Hölle der gegenwärtig bestehenden
Gesellschaft und je blauer der sozialdemokratische Zukunftshimmel gemalt
wird, um so näher liegt es, lieber gleich wieder die echte alte Hölle und
den echten alten Himmel zu suchen und zu malen. Ein wenig verändert haben
sie sich natürlich seit der Zeit, wo Klopstock und seine Getreuen in beiden so
gut Bescheid wußten. Aber ein Klopstocksches Motiv ist es doch, was uns
in der Dichtung Satans Erlösung in sechs Gesängen von Kurt von
Rohrscheidt (Leipzig, A. G. Liebeskind, 1894) begegnet. Um die Mitte des
vorigen Jahrhunderts zitterten alle fühlenden Herzen für Abbadona, den reuigen
Teufel, der gern die Herrlichkeiten des Himmels wiedergewonnen hätte, und
von dem es doch so lange unentschieden blieb, ob Vergebung und Erlösung
auch für ihn möglich sei. Als der Messiasdichter auf dem Züricher See fuhr
und reihum die Mädchen küßte, baten die Empfindsamen um Gnade für den
gefallnen Engel. In Rohrscheidts Dichtung wird Satan gleichsam wider
Willen erlöst. Er hat sich freilich nicht darnach verhalten und verhält sich


Der ewige Jude und der Teufel

erwacht, sich über die Eindrücke des Fabriksaals und der Kneipe zu erheben,
wandeln abermals Satanas und Ahasver in verschiedenartigen Kostümen über
die Szene. Das „dunkle Gefühl eines ungeheuern Weltganzen," wie es Goethe
nennt, der Gestaltungsdrang, der über die Schranken der Alltäglichkeit hinaus
will, das Bedürfnis, elementare Mächte des Daseins frei von der Wucht
kleinlicher Realität zu verkörpern, die Lust, weit ausgreifende Reflexionen, die
in der einfachen Menschengestalt nicht Raum haben, doch in Gestalten zu kon-
zentriren, die geheime Sehnsucht, zum Uranfang der Dinge zurückzukehren,
daneben ein Zug der Mystik und Symbolik, der auch sein Recht haben will,
das alles und manches sonst noch wirkt zusammen und macht unsern Dichtern
Mut, fleißig den Teufel und den ewigen Juden zu beschwören. Der Teufel
mag sich so wunderlich geberden, wie er will, es kann ihm keiner beweisen,
daß er absurd und unmöglich sei, der ewige Jude aber muß in neunzehn¬
hundert Jahren rastloser Wanderung so viel erlebt haben, daß es dem nüch¬
ternsten Kritiker wohl vergehen soll, an irgend einer Situation und Erfahrung
dieses mit der christlichen Menschheit ergrauten Schusters von Jerusalem
hcrumzumükeln; es giebt nichts, was ihm nicht angesonnen und aufgeladen
werden könnte. Wenn es die Milieutheorie den Dichtern sauer macht, Menschen
darzustellen, die nicht Spezialistin eines Berufs, eines Kunstgewerbes, einer
neu aufstrebenden Wissenschaft, Genossen eines antisemitischen oder sozial-
demokratischen Klubs sind, um so willkommner müssen die dunkeln Helden sein,
aus denen man alles machen und die man alles sagen lassen darf.

Wenn wir nicht ausschließlich bei Satan und Ahasver verweilen, sondern
ein paar getreue Nachbarn mit zur Gesellschaft laden, so hat sich in letzter
Zeit eine ganz stattliche Zahl von Dichtungen gesammelt, die dem eben
charakterisirten und einem verwandten Drange entstammen. Es geht alles in
der Welt natürlich zu, und je schwärzer die Hölle der gegenwärtig bestehenden
Gesellschaft und je blauer der sozialdemokratische Zukunftshimmel gemalt
wird, um so näher liegt es, lieber gleich wieder die echte alte Hölle und
den echten alten Himmel zu suchen und zu malen. Ein wenig verändert haben
sie sich natürlich seit der Zeit, wo Klopstock und seine Getreuen in beiden so
gut Bescheid wußten. Aber ein Klopstocksches Motiv ist es doch, was uns
in der Dichtung Satans Erlösung in sechs Gesängen von Kurt von
Rohrscheidt (Leipzig, A. G. Liebeskind, 1894) begegnet. Um die Mitte des
vorigen Jahrhunderts zitterten alle fühlenden Herzen für Abbadona, den reuigen
Teufel, der gern die Herrlichkeiten des Himmels wiedergewonnen hätte, und
von dem es doch so lange unentschieden blieb, ob Vergebung und Erlösung
auch für ihn möglich sei. Als der Messiasdichter auf dem Züricher See fuhr
und reihum die Mädchen küßte, baten die Empfindsamen um Gnade für den
gefallnen Engel. In Rohrscheidts Dichtung wird Satan gleichsam wider
Willen erlöst. Er hat sich freilich nicht darnach verhalten und verhält sich


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[0082] Der ewige Jude und der Teufel erwacht, sich über die Eindrücke des Fabriksaals und der Kneipe zu erheben, wandeln abermals Satanas und Ahasver in verschiedenartigen Kostümen über die Szene. Das „dunkle Gefühl eines ungeheuern Weltganzen," wie es Goethe nennt, der Gestaltungsdrang, der über die Schranken der Alltäglichkeit hinaus will, das Bedürfnis, elementare Mächte des Daseins frei von der Wucht kleinlicher Realität zu verkörpern, die Lust, weit ausgreifende Reflexionen, die in der einfachen Menschengestalt nicht Raum haben, doch in Gestalten zu kon- zentriren, die geheime Sehnsucht, zum Uranfang der Dinge zurückzukehren, daneben ein Zug der Mystik und Symbolik, der auch sein Recht haben will, das alles und manches sonst noch wirkt zusammen und macht unsern Dichtern Mut, fleißig den Teufel und den ewigen Juden zu beschwören. Der Teufel mag sich so wunderlich geberden, wie er will, es kann ihm keiner beweisen, daß er absurd und unmöglich sei, der ewige Jude aber muß in neunzehn¬ hundert Jahren rastloser Wanderung so viel erlebt haben, daß es dem nüch¬ ternsten Kritiker wohl vergehen soll, an irgend einer Situation und Erfahrung dieses mit der christlichen Menschheit ergrauten Schusters von Jerusalem hcrumzumükeln; es giebt nichts, was ihm nicht angesonnen und aufgeladen werden könnte. Wenn es die Milieutheorie den Dichtern sauer macht, Menschen darzustellen, die nicht Spezialistin eines Berufs, eines Kunstgewerbes, einer neu aufstrebenden Wissenschaft, Genossen eines antisemitischen oder sozial- demokratischen Klubs sind, um so willkommner müssen die dunkeln Helden sein, aus denen man alles machen und die man alles sagen lassen darf. Wenn wir nicht ausschließlich bei Satan und Ahasver verweilen, sondern ein paar getreue Nachbarn mit zur Gesellschaft laden, so hat sich in letzter Zeit eine ganz stattliche Zahl von Dichtungen gesammelt, die dem eben charakterisirten und einem verwandten Drange entstammen. Es geht alles in der Welt natürlich zu, und je schwärzer die Hölle der gegenwärtig bestehenden Gesellschaft und je blauer der sozialdemokratische Zukunftshimmel gemalt wird, um so näher liegt es, lieber gleich wieder die echte alte Hölle und den echten alten Himmel zu suchen und zu malen. Ein wenig verändert haben sie sich natürlich seit der Zeit, wo Klopstock und seine Getreuen in beiden so gut Bescheid wußten. Aber ein Klopstocksches Motiv ist es doch, was uns in der Dichtung Satans Erlösung in sechs Gesängen von Kurt von Rohrscheidt (Leipzig, A. G. Liebeskind, 1894) begegnet. Um die Mitte des vorigen Jahrhunderts zitterten alle fühlenden Herzen für Abbadona, den reuigen Teufel, der gern die Herrlichkeiten des Himmels wiedergewonnen hätte, und von dem es doch so lange unentschieden blieb, ob Vergebung und Erlösung auch für ihn möglich sei. Als der Messiasdichter auf dem Züricher See fuhr und reihum die Mädchen küßte, baten die Empfindsamen um Gnade für den gefallnen Engel. In Rohrscheidts Dichtung wird Satan gleichsam wider Willen erlöst. Er hat sich freilich nicht darnach verhalten und verhält sich

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220325/82>, abgerufen am 13.05.2024.