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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Drittes Vierteljahr.

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Die kunsthistorische Gesellschaft

hoch gelegnen italienischen Bergnest, nur "venigen bekannt, bis es vielleicht
rettungslos dein Feuer oder dem Erdbeben verfällt.

Aber wir brauchen noch nicht einmal an solche wohl nie ganz besiegbare
Schwierigkeiten zu denken; es giebt noch mißlichere Übelstände, die sich einer
umfassenden Aufnahme und Verbreitung auch nur der bedeutendsten Kunstdenk¬
mäler in den Weg stellen. So stehen z. B. die Verlagsanstalten auch unter
dem Druck der öffentlichen Meinung. Was die Handbücher für bedeutend er¬
klären, das wird photographirt, mag auch nicht weit von dem gerühmten Stück
ein viel wertvolleres liegen, das nur eben die Aufmerksamkeit noch nicht auf
sich gezogen hat. Endlich begegnen wir Unterlassungssünden in der Veröffent¬
lichung von Werken ersten Ranges, die schlechthin unbegreiflich bleiben, wenn
wir nicht allerlei enge, örtlich bedingte Umstünde und Rücksichten in Betracht
ziehen. Jeder, der sich auf dem Gebiete der Kunst selbst die Pfade fucht, wird
solche Fälle zu berichten wissen. So giebt es in einem deutschen Dome Male¬
reien, deren überquellender Reichtum an Erfindung und Anmut auch deu ver¬
wöhntesten Freund der italienischen Kunst in Entzücken versetzen würde, wenn
sie ihm nur bekannt würden, und das berühmte Fresko Masaccios ist den
meisten nur in einer erbärmlichen Photographie zugänglich gewesen, bis -- doch
davon soll eben noch weiter die Rede sein.

Nun liegt es auf der Hand, daß nicht nur der Kunstgelehrte, sondern
überhaupt jeder, dem es darum zu thun ist, sich wirklich richtige Vorstellungen
von einer Kunst, einem Stil, einem Meister zu bilden, darnach trachten muß,
loszukommen von überlieferten Anschauungen, die auf einem zufällig begrenzten
Denkmälerkreis beruhen. Wir wissen ja nur zu gut, wie die schiefen, oft ganz
verkehrten Urteile, die aus einem Handbuch ins andre übergehen, oft nur darin
wurzeln, daß wichtige Glieder der Entwicklungsreihe unbekannt geblieben sind.
Man sage nicht, es sei ein ausschließlich wissenschaftliches Interesse, das da
eine Änderung verlange. Jeder, der an einem bestimmten Meister Anteil
nimmt, wird sehr bald fragen, was hat der Mann überhaupt gekonnt? Er
wird jedes Werk des Meisters kennen zu lernen begehren, jedes wird ihm
neue Freude und neuen Genuß bereiten, erst aus dem Ganzen erwächst dann
der Maßstab und das Verständnis für das Einzelne. Vor allem aber streben
wir doch nach einer richtigen Anschauung des Gesamtverlaufs: kein wichtiges
Glied soll uns da fehlen.

Also uns allen ist daran gelegen, daß die Thätigkeit der großen Verlags¬
anstalten auf dem Gebiete der Photographie mannichfach ergänzt werde. Die
Wünsche der Einzelnen, die tiefer dringen, die in entlegner Gegend oder wo es
sei, ein seltnes, durch irgend ein Mißgeschick der Gesamtheit vorenthaltnes Werk
aufspüren, müssen Berücksichtigung finden. Wollten wir da jedesmal warten,
bis uns ein opferwilliger Unternehmer zu Hilfe käme, wir müßten oft lange
und noch öfter vielleicht vergeblich warten. Aber es giebt noch einen andern


Die kunsthistorische Gesellschaft

hoch gelegnen italienischen Bergnest, nur »venigen bekannt, bis es vielleicht
rettungslos dein Feuer oder dem Erdbeben verfällt.

Aber wir brauchen noch nicht einmal an solche wohl nie ganz besiegbare
Schwierigkeiten zu denken; es giebt noch mißlichere Übelstände, die sich einer
umfassenden Aufnahme und Verbreitung auch nur der bedeutendsten Kunstdenk¬
mäler in den Weg stellen. So stehen z. B. die Verlagsanstalten auch unter
dem Druck der öffentlichen Meinung. Was die Handbücher für bedeutend er¬
klären, das wird photographirt, mag auch nicht weit von dem gerühmten Stück
ein viel wertvolleres liegen, das nur eben die Aufmerksamkeit noch nicht auf
sich gezogen hat. Endlich begegnen wir Unterlassungssünden in der Veröffent¬
lichung von Werken ersten Ranges, die schlechthin unbegreiflich bleiben, wenn
wir nicht allerlei enge, örtlich bedingte Umstünde und Rücksichten in Betracht
ziehen. Jeder, der sich auf dem Gebiete der Kunst selbst die Pfade fucht, wird
solche Fälle zu berichten wissen. So giebt es in einem deutschen Dome Male¬
reien, deren überquellender Reichtum an Erfindung und Anmut auch deu ver¬
wöhntesten Freund der italienischen Kunst in Entzücken versetzen würde, wenn
sie ihm nur bekannt würden, und das berühmte Fresko Masaccios ist den
meisten nur in einer erbärmlichen Photographie zugänglich gewesen, bis — doch
davon soll eben noch weiter die Rede sein.

Nun liegt es auf der Hand, daß nicht nur der Kunstgelehrte, sondern
überhaupt jeder, dem es darum zu thun ist, sich wirklich richtige Vorstellungen
von einer Kunst, einem Stil, einem Meister zu bilden, darnach trachten muß,
loszukommen von überlieferten Anschauungen, die auf einem zufällig begrenzten
Denkmälerkreis beruhen. Wir wissen ja nur zu gut, wie die schiefen, oft ganz
verkehrten Urteile, die aus einem Handbuch ins andre übergehen, oft nur darin
wurzeln, daß wichtige Glieder der Entwicklungsreihe unbekannt geblieben sind.
Man sage nicht, es sei ein ausschließlich wissenschaftliches Interesse, das da
eine Änderung verlange. Jeder, der an einem bestimmten Meister Anteil
nimmt, wird sehr bald fragen, was hat der Mann überhaupt gekonnt? Er
wird jedes Werk des Meisters kennen zu lernen begehren, jedes wird ihm
neue Freude und neuen Genuß bereiten, erst aus dem Ganzen erwächst dann
der Maßstab und das Verständnis für das Einzelne. Vor allem aber streben
wir doch nach einer richtigen Anschauung des Gesamtverlaufs: kein wichtiges
Glied soll uns da fehlen.

Also uns allen ist daran gelegen, daß die Thätigkeit der großen Verlags¬
anstalten auf dem Gebiete der Photographie mannichfach ergänzt werde. Die
Wünsche der Einzelnen, die tiefer dringen, die in entlegner Gegend oder wo es
sei, ein seltnes, durch irgend ein Mißgeschick der Gesamtheit vorenthaltnes Werk
aufspüren, müssen Berücksichtigung finden. Wollten wir da jedesmal warten,
bis uns ein opferwilliger Unternehmer zu Hilfe käme, wir müßten oft lange
und noch öfter vielleicht vergeblich warten. Aber es giebt noch einen andern


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[0093] Die kunsthistorische Gesellschaft hoch gelegnen italienischen Bergnest, nur »venigen bekannt, bis es vielleicht rettungslos dein Feuer oder dem Erdbeben verfällt. Aber wir brauchen noch nicht einmal an solche wohl nie ganz besiegbare Schwierigkeiten zu denken; es giebt noch mißlichere Übelstände, die sich einer umfassenden Aufnahme und Verbreitung auch nur der bedeutendsten Kunstdenk¬ mäler in den Weg stellen. So stehen z. B. die Verlagsanstalten auch unter dem Druck der öffentlichen Meinung. Was die Handbücher für bedeutend er¬ klären, das wird photographirt, mag auch nicht weit von dem gerühmten Stück ein viel wertvolleres liegen, das nur eben die Aufmerksamkeit noch nicht auf sich gezogen hat. Endlich begegnen wir Unterlassungssünden in der Veröffent¬ lichung von Werken ersten Ranges, die schlechthin unbegreiflich bleiben, wenn wir nicht allerlei enge, örtlich bedingte Umstünde und Rücksichten in Betracht ziehen. Jeder, der sich auf dem Gebiete der Kunst selbst die Pfade fucht, wird solche Fälle zu berichten wissen. So giebt es in einem deutschen Dome Male¬ reien, deren überquellender Reichtum an Erfindung und Anmut auch deu ver¬ wöhntesten Freund der italienischen Kunst in Entzücken versetzen würde, wenn sie ihm nur bekannt würden, und das berühmte Fresko Masaccios ist den meisten nur in einer erbärmlichen Photographie zugänglich gewesen, bis — doch davon soll eben noch weiter die Rede sein. Nun liegt es auf der Hand, daß nicht nur der Kunstgelehrte, sondern überhaupt jeder, dem es darum zu thun ist, sich wirklich richtige Vorstellungen von einer Kunst, einem Stil, einem Meister zu bilden, darnach trachten muß, loszukommen von überlieferten Anschauungen, die auf einem zufällig begrenzten Denkmälerkreis beruhen. Wir wissen ja nur zu gut, wie die schiefen, oft ganz verkehrten Urteile, die aus einem Handbuch ins andre übergehen, oft nur darin wurzeln, daß wichtige Glieder der Entwicklungsreihe unbekannt geblieben sind. Man sage nicht, es sei ein ausschließlich wissenschaftliches Interesse, das da eine Änderung verlange. Jeder, der an einem bestimmten Meister Anteil nimmt, wird sehr bald fragen, was hat der Mann überhaupt gekonnt? Er wird jedes Werk des Meisters kennen zu lernen begehren, jedes wird ihm neue Freude und neuen Genuß bereiten, erst aus dem Ganzen erwächst dann der Maßstab und das Verständnis für das Einzelne. Vor allem aber streben wir doch nach einer richtigen Anschauung des Gesamtverlaufs: kein wichtiges Glied soll uns da fehlen. Also uns allen ist daran gelegen, daß die Thätigkeit der großen Verlags¬ anstalten auf dem Gebiete der Photographie mannichfach ergänzt werde. Die Wünsche der Einzelnen, die tiefer dringen, die in entlegner Gegend oder wo es sei, ein seltnes, durch irgend ein Mißgeschick der Gesamtheit vorenthaltnes Werk aufspüren, müssen Berücksichtigung finden. Wollten wir da jedesmal warten, bis uns ein opferwilliger Unternehmer zu Hilfe käme, wir müßten oft lange und noch öfter vielleicht vergeblich warten. Aber es giebt noch einen andern

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220325/93>, abgerufen am 12.05.2024.