Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Zweites Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
August Loute und der Positivismus

nur überhaupt hatte methodisch beobachten und untersuchen lernen. Mit diesen
Untersuchungen und mit dem Bestreben, den überkommnen Freiheitsbegriff ent¬
weder zu zerstören oder mit der Gesetzlichkeit der Natur auszusöhnen, haben
die verschiednen Gelehrten sehr verschiedne Wege eingeschlagen, und dem Be¬
gründer des Positivismus muß man zum Ruhme nachsagen, daß er auf diesem
gefährlichen Wege nie die Besonnenheit verloren hat. Er erklärt zwar die
Kenntnis der materiellen Welt für notwendig zum Verständnis des Seelen¬
lebens, aber er verkennt nicht die Unvergleichbarkeit der mechanischen und der
Bewußtseinsvorgüuge und denkt nicht daran, die einen von den andern abzu¬
leiten, sondern untersucht nur (wiederum ganz wie Herbart) den ursächlichen
Zusammenhang der Seelenvorgänge nnter einander und den Parallelismus
(hier erinnert er an Leibniz) zwischen dem Ablauf gewisser Reihen geistiger
Ereignisse mit Ereignisreihen der Körperwelt. Sein besondres Verdienst ist
es, den Begriff des Milieu -- nicht erfunden zu haben, denn schon bei Turgot
kommt er unter der Benennung Iss virLonstÄnoss vor -- aber in die Wissen¬
schaft eingeführt zu haben. Es braucht nur daran erinnert zu werden, in wie
enger Beziehung dieser Begriff mit den Gedankenkreisen Lcimcircks und Dar¬
wins steht. Und hier gereicht es nun wieder Comte zum Lobe, daß er sich
vou seiner Entdeckung nicht berauschen läßt und die Individuen, die Gattungen
nicht einfach als Erzeugnisse ihres Milieu darstellt, sondern in den verschiednen
Wesen einen Kern erkennt, der dein Milieu Widerstand leistet und in der
Wechselwirkung mit ihm die wandelbare Erscheinung erzeugt, wiederum ähn¬
lich wie Herbart, bei dem der Inhalt des Seelenlebens durch die Selbsterhal¬
tung des einfachen realen Wesens gegenüber den Einwirkungen von außen
entsteht.

Aber soweit erkannte Comte die Macht des Milieu doch an, daß er, wie
später Herbert Spencer, die hergebrachte Art von Weltgeschichte verwerfen
mußte, die eigentlich bloß eine Königs- und Feldherrengeschichte war. Schon
Turgot hatte erkannt, daß das wesentliche in der weltgeschichtlichen Bewegung,
soweit sie eine Fortbewegung, ein Fortschritt genannt werden darf, in der Ver¬
mehrung des Wisfensschatzes besteht, zu dem unzählige beitragen, und der von
jedem Geschlecht vermehrt dem nächsten überliefert wird. In diesem Punkte
tritt Comte in Gegensatz zu Carlhle, dem Heldenverehrer, mit dem er sich
sonst in das Verdienst teilt, die Ideen der englischen Gesellschaft namentlich
in sozialer Beziehung umgestaltet zu haben. Über diesen Gegenstand stellt
Waentig eigne Betrachtungen an, die Beachtung verdienen. Es sei eigentüm¬
lich, meint er, daß der Wert der Einzelpersönlichkeit gerade auf einem Gebiete
überschätzt werde, wo man es am wenigsten erwarten sollte, auf dem der
Politik, also im Bereiche des Staatslebens, dessen Wesen gerade die rücksichts¬
lose Beschränkung der individuellen Freiheit sei. "Die individuelle Bedeutung
eines Philosophen z. B., mag sich seine Lehre immerhin auf der seiner Vor-


August Loute und der Positivismus

nur überhaupt hatte methodisch beobachten und untersuchen lernen. Mit diesen
Untersuchungen und mit dem Bestreben, den überkommnen Freiheitsbegriff ent¬
weder zu zerstören oder mit der Gesetzlichkeit der Natur auszusöhnen, haben
die verschiednen Gelehrten sehr verschiedne Wege eingeschlagen, und dem Be¬
gründer des Positivismus muß man zum Ruhme nachsagen, daß er auf diesem
gefährlichen Wege nie die Besonnenheit verloren hat. Er erklärt zwar die
Kenntnis der materiellen Welt für notwendig zum Verständnis des Seelen¬
lebens, aber er verkennt nicht die Unvergleichbarkeit der mechanischen und der
Bewußtseinsvorgüuge und denkt nicht daran, die einen von den andern abzu¬
leiten, sondern untersucht nur (wiederum ganz wie Herbart) den ursächlichen
Zusammenhang der Seelenvorgänge nnter einander und den Parallelismus
(hier erinnert er an Leibniz) zwischen dem Ablauf gewisser Reihen geistiger
Ereignisse mit Ereignisreihen der Körperwelt. Sein besondres Verdienst ist
es, den Begriff des Milieu — nicht erfunden zu haben, denn schon bei Turgot
kommt er unter der Benennung Iss virLonstÄnoss vor — aber in die Wissen¬
schaft eingeführt zu haben. Es braucht nur daran erinnert zu werden, in wie
enger Beziehung dieser Begriff mit den Gedankenkreisen Lcimcircks und Dar¬
wins steht. Und hier gereicht es nun wieder Comte zum Lobe, daß er sich
vou seiner Entdeckung nicht berauschen läßt und die Individuen, die Gattungen
nicht einfach als Erzeugnisse ihres Milieu darstellt, sondern in den verschiednen
Wesen einen Kern erkennt, der dein Milieu Widerstand leistet und in der
Wechselwirkung mit ihm die wandelbare Erscheinung erzeugt, wiederum ähn¬
lich wie Herbart, bei dem der Inhalt des Seelenlebens durch die Selbsterhal¬
tung des einfachen realen Wesens gegenüber den Einwirkungen von außen
entsteht.

Aber soweit erkannte Comte die Macht des Milieu doch an, daß er, wie
später Herbert Spencer, die hergebrachte Art von Weltgeschichte verwerfen
mußte, die eigentlich bloß eine Königs- und Feldherrengeschichte war. Schon
Turgot hatte erkannt, daß das wesentliche in der weltgeschichtlichen Bewegung,
soweit sie eine Fortbewegung, ein Fortschritt genannt werden darf, in der Ver¬
mehrung des Wisfensschatzes besteht, zu dem unzählige beitragen, und der von
jedem Geschlecht vermehrt dem nächsten überliefert wird. In diesem Punkte
tritt Comte in Gegensatz zu Carlhle, dem Heldenverehrer, mit dem er sich
sonst in das Verdienst teilt, die Ideen der englischen Gesellschaft namentlich
in sozialer Beziehung umgestaltet zu haben. Über diesen Gegenstand stellt
Waentig eigne Betrachtungen an, die Beachtung verdienen. Es sei eigentüm¬
lich, meint er, daß der Wert der Einzelpersönlichkeit gerade auf einem Gebiete
überschätzt werde, wo man es am wenigsten erwarten sollte, auf dem der
Politik, also im Bereiche des Staatslebens, dessen Wesen gerade die rücksichts¬
lose Beschränkung der individuellen Freiheit sei. „Die individuelle Bedeutung
eines Philosophen z. B., mag sich seine Lehre immerhin auf der seiner Vor-


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0120" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/222424"/>
          <fw type="header" place="top"> August Loute und der Positivismus</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_360" prev="#ID_359"> nur überhaupt hatte methodisch beobachten und untersuchen lernen. Mit diesen<lb/>
Untersuchungen und mit dem Bestreben, den überkommnen Freiheitsbegriff ent¬<lb/>
weder zu zerstören oder mit der Gesetzlichkeit der Natur auszusöhnen, haben<lb/>
die verschiednen Gelehrten sehr verschiedne Wege eingeschlagen, und dem Be¬<lb/>
gründer des Positivismus muß man zum Ruhme nachsagen, daß er auf diesem<lb/>
gefährlichen Wege nie die Besonnenheit verloren hat. Er erklärt zwar die<lb/>
Kenntnis der materiellen Welt für notwendig zum Verständnis des Seelen¬<lb/>
lebens, aber er verkennt nicht die Unvergleichbarkeit der mechanischen und der<lb/>
Bewußtseinsvorgüuge und denkt nicht daran, die einen von den andern abzu¬<lb/>
leiten, sondern untersucht nur (wiederum ganz wie Herbart) den ursächlichen<lb/>
Zusammenhang der Seelenvorgänge nnter einander und den Parallelismus<lb/>
(hier erinnert er an Leibniz) zwischen dem Ablauf gewisser Reihen geistiger<lb/>
Ereignisse mit Ereignisreihen der Körperwelt. Sein besondres Verdienst ist<lb/>
es, den Begriff des Milieu &#x2014; nicht erfunden zu haben, denn schon bei Turgot<lb/>
kommt er unter der Benennung Iss virLonstÄnoss vor &#x2014; aber in die Wissen¬<lb/>
schaft eingeführt zu haben. Es braucht nur daran erinnert zu werden, in wie<lb/>
enger Beziehung dieser Begriff mit den Gedankenkreisen Lcimcircks und Dar¬<lb/>
wins steht. Und hier gereicht es nun wieder Comte zum Lobe, daß er sich<lb/>
vou seiner Entdeckung nicht berauschen läßt und die Individuen, die Gattungen<lb/>
nicht einfach als Erzeugnisse ihres Milieu darstellt, sondern in den verschiednen<lb/>
Wesen einen Kern erkennt, der dein Milieu Widerstand leistet und in der<lb/>
Wechselwirkung mit ihm die wandelbare Erscheinung erzeugt, wiederum ähn¬<lb/>
lich wie Herbart, bei dem der Inhalt des Seelenlebens durch die Selbsterhal¬<lb/>
tung des einfachen realen Wesens gegenüber den Einwirkungen von außen<lb/>
entsteht.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_361" next="#ID_362"> Aber soweit erkannte Comte die Macht des Milieu doch an, daß er, wie<lb/>
später Herbert Spencer, die hergebrachte Art von Weltgeschichte verwerfen<lb/>
mußte, die eigentlich bloß eine Königs- und Feldherrengeschichte war. Schon<lb/>
Turgot hatte erkannt, daß das wesentliche in der weltgeschichtlichen Bewegung,<lb/>
soweit sie eine Fortbewegung, ein Fortschritt genannt werden darf, in der Ver¬<lb/>
mehrung des Wisfensschatzes besteht, zu dem unzählige beitragen, und der von<lb/>
jedem Geschlecht vermehrt dem nächsten überliefert wird. In diesem Punkte<lb/>
tritt Comte in Gegensatz zu Carlhle, dem Heldenverehrer, mit dem er sich<lb/>
sonst in das Verdienst teilt, die Ideen der englischen Gesellschaft namentlich<lb/>
in sozialer Beziehung umgestaltet zu haben. Über diesen Gegenstand stellt<lb/>
Waentig eigne Betrachtungen an, die Beachtung verdienen. Es sei eigentüm¬<lb/>
lich, meint er, daß der Wert der Einzelpersönlichkeit gerade auf einem Gebiete<lb/>
überschätzt werde, wo man es am wenigsten erwarten sollte, auf dem der<lb/>
Politik, also im Bereiche des Staatslebens, dessen Wesen gerade die rücksichts¬<lb/>
lose Beschränkung der individuellen Freiheit sei. &#x201E;Die individuelle Bedeutung<lb/>
eines Philosophen z. B., mag sich seine Lehre immerhin auf der seiner Vor-</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0120] August Loute und der Positivismus nur überhaupt hatte methodisch beobachten und untersuchen lernen. Mit diesen Untersuchungen und mit dem Bestreben, den überkommnen Freiheitsbegriff ent¬ weder zu zerstören oder mit der Gesetzlichkeit der Natur auszusöhnen, haben die verschiednen Gelehrten sehr verschiedne Wege eingeschlagen, und dem Be¬ gründer des Positivismus muß man zum Ruhme nachsagen, daß er auf diesem gefährlichen Wege nie die Besonnenheit verloren hat. Er erklärt zwar die Kenntnis der materiellen Welt für notwendig zum Verständnis des Seelen¬ lebens, aber er verkennt nicht die Unvergleichbarkeit der mechanischen und der Bewußtseinsvorgüuge und denkt nicht daran, die einen von den andern abzu¬ leiten, sondern untersucht nur (wiederum ganz wie Herbart) den ursächlichen Zusammenhang der Seelenvorgänge nnter einander und den Parallelismus (hier erinnert er an Leibniz) zwischen dem Ablauf gewisser Reihen geistiger Ereignisse mit Ereignisreihen der Körperwelt. Sein besondres Verdienst ist es, den Begriff des Milieu — nicht erfunden zu haben, denn schon bei Turgot kommt er unter der Benennung Iss virLonstÄnoss vor — aber in die Wissen¬ schaft eingeführt zu haben. Es braucht nur daran erinnert zu werden, in wie enger Beziehung dieser Begriff mit den Gedankenkreisen Lcimcircks und Dar¬ wins steht. Und hier gereicht es nun wieder Comte zum Lobe, daß er sich vou seiner Entdeckung nicht berauschen läßt und die Individuen, die Gattungen nicht einfach als Erzeugnisse ihres Milieu darstellt, sondern in den verschiednen Wesen einen Kern erkennt, der dein Milieu Widerstand leistet und in der Wechselwirkung mit ihm die wandelbare Erscheinung erzeugt, wiederum ähn¬ lich wie Herbart, bei dem der Inhalt des Seelenlebens durch die Selbsterhal¬ tung des einfachen realen Wesens gegenüber den Einwirkungen von außen entsteht. Aber soweit erkannte Comte die Macht des Milieu doch an, daß er, wie später Herbert Spencer, die hergebrachte Art von Weltgeschichte verwerfen mußte, die eigentlich bloß eine Königs- und Feldherrengeschichte war. Schon Turgot hatte erkannt, daß das wesentliche in der weltgeschichtlichen Bewegung, soweit sie eine Fortbewegung, ein Fortschritt genannt werden darf, in der Ver¬ mehrung des Wisfensschatzes besteht, zu dem unzählige beitragen, und der von jedem Geschlecht vermehrt dem nächsten überliefert wird. In diesem Punkte tritt Comte in Gegensatz zu Carlhle, dem Heldenverehrer, mit dem er sich sonst in das Verdienst teilt, die Ideen der englischen Gesellschaft namentlich in sozialer Beziehung umgestaltet zu haben. Über diesen Gegenstand stellt Waentig eigne Betrachtungen an, die Beachtung verdienen. Es sei eigentüm¬ lich, meint er, daß der Wert der Einzelpersönlichkeit gerade auf einem Gebiete überschätzt werde, wo man es am wenigsten erwarten sollte, auf dem der Politik, also im Bereiche des Staatslebens, dessen Wesen gerade die rücksichts¬ lose Beschränkung der individuellen Freiheit sei. „Die individuelle Bedeutung eines Philosophen z. B., mag sich seine Lehre immerhin auf der seiner Vor-

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222303
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222303/120
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222303/120>, abgerufen am 06.06.2024.