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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Zweites Vierteljahr.

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August Loute und der Positivismus

nur eine Anzahl von einzelnen Menschen wirklich vorhanden sei. Denn denken
wir uns alle Menschen vernichtet bis auf einen, so würde dieser eine zwar
wahrscheinlich keine Lust haben, weiter zu leben, und solange er noch lebte,
ein sehr elendes Leben führen, aber wirklich vorhanden wäre er doch, dagegen
ist die Menschheit nicht denkbar ohne die einzelnen Menschen, aus denen sie
besteht, nur in den Einzelnen ist sie wirklich. Da Comte auf das Ganze so
viel Gewicht legte, ist es erklärlich, daß er in der Gesellschaftswissenschaft die
Universalwissenschaft sah, besonders da er der Wissenschaft keinen unbedingten
Wert an sich zuerkannte, sondern sie nur als Mittel zur Verwirklichung des
Daseinszwecks schätzte, der doch nirgend anderswo, als in der menschlichen
Gesellschaft liegen kann, nach seinem Wahlspruch: Lsivoir xonr xrvvoir g.lin as
xonrvoir. Ob nun eine solche Universalwissenschaft möglich sei, ob diese
Universalwisfenschaft lieber Soziologie als Philosophie genannt werden soll,
und ob neben der alle Fachwissenschaften umfassenden Gesellschaftswissenschaft
noch eine Fachwissenschaft Soziologie bestehen könne, das sind Fragen, deren
Beantwortung wir der Zukunft überlassen müssen; die Gelehrten arbeiten sehr
eifrig daran.

Die zweite Grundidee Comtes ist die einer Entwicklung der Gesellschaft,
in der sich drei Stufen unterscheiden ließen: die theologisch-militärische, die
metaphysische und die positiv-industrielle. Folgerichtiger als Comte hat
Se. Simon, dem sie Comte entnommen zu haben scheint, die Dreistufenlehre
durchgeführt, indem er als Eigentümlichkeit der zweiten neben die Metaphysik
den Legismus stellt, sodaß den drei Stufen der intellektuellen Entwicklung drei
Stufen der bürgerlichen genau entsprechen,*) Wir haben allen dergleichen Ent¬
wicklungstheorien schon öfter die Erfahrungsthatsache entgegengestellt, daß die
Erzeugnisse früherer Entwicklungsstufen von denen der spätern nicht völlig
verdrängt werden, sondern neben ihnen bestehen bleiben, und daß eben in der
Bereicherung der Welt mit immer neuen Daseinsformen der Fortschritt besteht,
während die Welt arm bleiben würde, wenn jedesmal zugleich mit dem Werden
einer neuen Form eine alte abstürbe. Jedermann weiß ja, daß die Religion
nicht gestorben ist, als die Metaphysik aufkam, und heute, wo Millionen so¬
wohl mit der Religion als auch mit der metaphysischen Philosophie gebrochen
haben, finden sich daneben noch weit mehr Millionen, die Religion haben, und
auch einige tausend, die Metaphysik treiben. Nicht anders steht es um die
politische Entwicklung; die Soldaten haben nicht abgedankt, als die Juristen
aufkamen -- diese meint Se. Simon mit dem Worte Legisten --, und die
Juristen sind in der Periode des Jndustrialismus, der ihnen sehr viel Arbeit
verschafft, mächtiger als je. Mag immerhin gar mancher mit Se. Simon



Siehe: Die Sozialwissenschaftlichen Ideen Saint-Simons. Ein Beitrag zur
Geschichte des Sozinlismus von Dr. Paul Weisengrün. Basel, Dr. H. Müller, >8"S.
August Loute und der Positivismus

nur eine Anzahl von einzelnen Menschen wirklich vorhanden sei. Denn denken
wir uns alle Menschen vernichtet bis auf einen, so würde dieser eine zwar
wahrscheinlich keine Lust haben, weiter zu leben, und solange er noch lebte,
ein sehr elendes Leben führen, aber wirklich vorhanden wäre er doch, dagegen
ist die Menschheit nicht denkbar ohne die einzelnen Menschen, aus denen sie
besteht, nur in den Einzelnen ist sie wirklich. Da Comte auf das Ganze so
viel Gewicht legte, ist es erklärlich, daß er in der Gesellschaftswissenschaft die
Universalwissenschaft sah, besonders da er der Wissenschaft keinen unbedingten
Wert an sich zuerkannte, sondern sie nur als Mittel zur Verwirklichung des
Daseinszwecks schätzte, der doch nirgend anderswo, als in der menschlichen
Gesellschaft liegen kann, nach seinem Wahlspruch: Lsivoir xonr xrvvoir g.lin as
xonrvoir. Ob nun eine solche Universalwissenschaft möglich sei, ob diese
Universalwisfenschaft lieber Soziologie als Philosophie genannt werden soll,
und ob neben der alle Fachwissenschaften umfassenden Gesellschaftswissenschaft
noch eine Fachwissenschaft Soziologie bestehen könne, das sind Fragen, deren
Beantwortung wir der Zukunft überlassen müssen; die Gelehrten arbeiten sehr
eifrig daran.

Die zweite Grundidee Comtes ist die einer Entwicklung der Gesellschaft,
in der sich drei Stufen unterscheiden ließen: die theologisch-militärische, die
metaphysische und die positiv-industrielle. Folgerichtiger als Comte hat
Se. Simon, dem sie Comte entnommen zu haben scheint, die Dreistufenlehre
durchgeführt, indem er als Eigentümlichkeit der zweiten neben die Metaphysik
den Legismus stellt, sodaß den drei Stufen der intellektuellen Entwicklung drei
Stufen der bürgerlichen genau entsprechen,*) Wir haben allen dergleichen Ent¬
wicklungstheorien schon öfter die Erfahrungsthatsache entgegengestellt, daß die
Erzeugnisse früherer Entwicklungsstufen von denen der spätern nicht völlig
verdrängt werden, sondern neben ihnen bestehen bleiben, und daß eben in der
Bereicherung der Welt mit immer neuen Daseinsformen der Fortschritt besteht,
während die Welt arm bleiben würde, wenn jedesmal zugleich mit dem Werden
einer neuen Form eine alte abstürbe. Jedermann weiß ja, daß die Religion
nicht gestorben ist, als die Metaphysik aufkam, und heute, wo Millionen so¬
wohl mit der Religion als auch mit der metaphysischen Philosophie gebrochen
haben, finden sich daneben noch weit mehr Millionen, die Religion haben, und
auch einige tausend, die Metaphysik treiben. Nicht anders steht es um die
politische Entwicklung; die Soldaten haben nicht abgedankt, als die Juristen
aufkamen — diese meint Se. Simon mit dem Worte Legisten —, und die
Juristen sind in der Periode des Jndustrialismus, der ihnen sehr viel Arbeit
verschafft, mächtiger als je. Mag immerhin gar mancher mit Se. Simon



Siehe: Die Sozialwissenschaftlichen Ideen Saint-Simons. Ein Beitrag zur
Geschichte des Sozinlismus von Dr. Paul Weisengrün. Basel, Dr. H. Müller, >8»S.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222303/122>, abgerufen am 23.05.2024.